Das Präludium gibt den Ton vor

Lichterketten vertreiben die Finsternis nicht

Predigttext: Jesaja 35,3-10
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 10.12.2006
Kirchenjahr: 2. Sonntag im Advent
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Jesaja 35, 3-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

3 Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4 Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.« 5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. 8 Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. 9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. 10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

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Liebe Gemeinde,

Geschichten aus dem Leben

Heute feiern wir den 2. Advent. Wir haben die Fenster geschmückt. Viele Lichter öffnen die Fassaden und brechen die Dunkelheit auf. Auf den Straßen aber eilen Menschen, die Geschäfte sind voll, die Betriebsamkeit lähmt. Bald ist Weihnachten. Es soll ein schönes Fest werden. Wenn nur nicht die Müdigkeit wäre!

Ein zweites Beispiel: Eine Frau kommt aus dem Krankenhaus. Sie hat – nach einem langen Weg voller Schmerzen – ein künstliches Knie bekommen. Jetzt wird sie in der Rehaklinik lernen, wieder zu gehen, das Bein zu belasten und sicher aufzutreten. Noch ist es beschwerlich, mit Krücken zu gehen. Aber mit der Beweglichkeit wächst auch der Lebensmut. Und Weihnachten wird sie zu Hause sein – das hoftt sie sehr. Nur am Abend erinnert die Müdigkeit daran, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Darf ich auch noch ein drittes Beispiel erzählen? Am 31.12.2006 wird das Unternehmen geschlossen. Lange gekämpft, lange gehofft – und dann das endgültige Aus. Eine neue Stelle hat der junge Mann noch nicht gefunden. Zu Hause wartet eine kleine Familie auf ihn. Das Haus ist noch lange nicht abgezahlt. Es sieht nicht gut aus. 100 Bewerbungen geschrieben, Absagen nach gut Glück, ansonsten Schweigen. Nicht einmal eine Spur. Dass auch Seelen müde werden, hätte er sich nicht träumen lassen. So kurz vor Weihnachten.

Wenn die Seele müde ist

Ich habe, ziemlich willkürlich, drei Beispiele erzählt. Sie ließen sich vermehren und variieren. Jeder/jede von uns könnte eigene Geschichten hinzutun. Ihr Thema: müde sein. Am Abend, wenn die Arbeit getan ist, ist Müdigkeit ein schönes Gefühl. Es erlaubt, sich fallen zu lassen. Und dabei doch zufrieden zu sein. Aber es gibt eine Müdigkeit, die schon am Morgen nicht verschwinden will und auch den Abend nicht achtet. Es ist eine Form von Traurigkeit, von Resignation, von Enttäuschung. Wenn die Seele müde wird, lachen die Augen nicht mehr und verstummt der Mund. Die Hände werden kraftlos, die Schritte langsam, das Herz einsam. Ein Thema von Advent? Ich weiß von vielen Menschen, dass sie in diesen Tagen bekümmert sind. Lichterketten vertreiben diese Finsternis nicht. Darum also, ein Thema von Advent. Aber hören Sie selbst.

(Lesung des Predigttextes)

Bilder der Hoffnung

Bitte, fragen Sie mich nicht, wann der Prophet dieses großartige und weitreichende Panorama in Worte gefasst hat. Es wird eine bedrückende Zeit gewesen sein – das scheint sicher. Wir könnten die Gegenprobe ja machen: Die Menschen, die Jesaja wahrnimmt, sehen keinen Weg. Sie sind wie gelähmt. Sie haben sich eingeigelt. Sie reden immer dasselbe. Und sind doch stumm. Weil sie keine Worte haben, die ihre Leere aufbrechen könnte. Sie sind gefangen genommen. Das geht auch ohne Gefängnis und ohne Stacheldraht. Jesaja sieht die Menschen geradezu in einer Wüste. Nichts, was sie erfrischen, erfreuen oder aufrichten könnte. Öde, so weit das Auge reicht. Keine Perspektive. Mit viel Glück: hier und da eine Fata Morgana. Und dann die Ernüchterung. Jesaja liest die Enttäuschung geradezu auf, die auf den Wegen liegt.

Jesaja. Ob er wirklich so hieß? Nicht einmal das kann ich Ihnen bestätigen. Aber er begleitet das Volk Israel in einer sehr bedrückenden Situation. Sollen wir es Übergangszeit nennen? Ich weiß nicht. Ich versuche nur, mir dieses Volk vorzustellen: Babylonisches Exil. Zerstörter Tempel. Zerstörte Hoffnungen. Zerstörte Biographien. Und dann die Jahre! Sie fließen nur so dahin. Aber weit und breit kein Schimmer am Horizont. Dann kommt ein Aufbruch! Endlich die ersehnte Heimkehr. Ein neuer Abschnitt. Aber was soll ich Ihnen sagen? Dass Menschen wieder klein und von vorne anfangen müssen, überrascht uns nicht, aber was ist, wenn der Erfolg ausbleibt? Das Volk Israel fühlt sich aufgerieben, sieht sich zerstreut. Es ist zu Hause noch nicht angekommen. Hat es überhaupt ein Zuhause?

In einer großen Vision sollen die Menschen wieder Land sehen. So Jesaja. Als Prophet. Er hat etwas gesehen. Mehr: Ihm ist etwas gezeigt worden. Von Gott, der seinem Volk Treue geschworen hat und zu seinem Wort steht.

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.
Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Es sind Bilder der Hoffnung. Menschen sehen einen Weg, Menschen werden offen, Menschen finden Worte. Und die Wüste? Wo war sie noch? Sie ist nicht mehr da. Zu sehen sind: Teiche und Brunnen, Gras und Rohr – alles lebt. Grünt. Blüht. Den Schakalen gefällt es nicht mehr. Aber den Menschen. Sie leben auf. Und Jesaja lässt seine Vision in der Verheißung ausklingen:

Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Nichts für Träumer

Was Israel Hoffnung gab –wieder nach Jerusalem zu kommen und das Land der Väter zu besiedeln – hat vielen Menschen Worte verliehen, es mit den – auch widrigen Realitäten im Leben – aufzunehmen. Selbst das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, zehrt von dieser Verheißung: dass Schmerz und Seufzen entfliehen.

Also was für Träumer? Eine kleine Adventsstimmung? Schon Jesaja hat um die Gefahr gewusst, dass seine Vision klein geredet, kritisch beäugt und klug zerrissen wird. Darum hat er ein Präludium an den Anfang gesetzt. Und wenn wir im Bild der Musik bleiben: Sein Präludium gibt den Ton vor – und das Thema:

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott!
Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.

Wir hören die große Zuversicht: Seht – da ist euer Gott. Und wir hören einen Auftrag, der aus dieser Zuversicht erwächst: müde Hände zu stärken, wankende Kniee fest zu machen und verzagte Herzen zu trösten. Müde Hände, wankende Knie und verzagte Herzen: sie stehen für Resignation, Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit. Israels Erfahrung, von vielen Menschen gesammelt, nimmt unsere auf – und unsere Erfahrung mit Müdigkeit knüpft da an, wo Menschen sie in Israel überwinden konnten. Mit einer Vision, die aus der Welt Gottes kommt. Oder: das Paradies neu schenkt. Denn das Panorama, das Jesaja vor unseren Augen entstehen lässt, führt uns an den Anfang zurück. Als Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf.

Die wohl wichtigste und schönste Folgerung: wenn wir Menschen stärken, fest machen und trösten, sind wir im „Bild“. Und es gibt Hände, die zupacken, Knie, die Lasten tragen und Herzen, die offen sind. Eine Vision? Was Jesaja gezeigt wurde, kommt mir unter die Augen. Für Träumer ist das nichts.

Was noch nicht fertig ist …

Übrigens: im Matthäusevangelium wird die Geschichte erzählt, dass Johannes der Täufer, in einem Gefängnis eingesperrt und mundtot gemacht, Jesus fragen lässt, ob er denn der verheißene Messias sei – und im Nebensatz: oder ob man auf einen anderen warten müsse. Und Jesus lässt dem Täufer ausrichten:

Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. (Mt. 11, 4-6)

Bischof Huber hat in einer Predigt gesagt: „Jesus knüpft an die Verheißung aus dem Jesajabuch an. In dem, was Gott mit ihm vorhat, bricht die Heilszeit sich Bahn. Wer hofft, hofft nicht ins Leere. Wer wartet, tut es nicht umsonst.“

Nein, noch ist nicht alles erfüllt, nicht alles fertig, nicht alles abgeschlossen, was Jesaja gesehen hat, zu sehen bekommen hat. Aber gerade im Advent warten wir, auch sehnsüchtig, darauf, dass Gott zu uns kommt. Und schon heute müden Händen Kraft gibt, wankenden Knien festen Boden und verzagten Herzen Mut. Unbeteiligte Zuschauer sind wir nicht. Wir können fremde Hände in unsere legen, anderen helfen, aufrecht zu gehen und alles, was ein Herz gefangen nimmt, in Liebe überwinden.

Heute feiern wir den 2. Advent. Sie erinnern sich an die kleinen Geschichten am Anfang? Geschichten, die von Müdigkeit erzählen? Wir können ja viele Geschichten dazu tun – und in ihnen Menschen eine Stimme geben. Das ist sehr wichtig. Jesaja macht uns Mut, Hände, Knie und Herzen wahrzunehmen, nein, sie zu stärken. Wir sehen dann auch von uns weg. Wir sehen dann mehr als die eigenen müden Hände, wankenden Knie und verzagten Herzen. Soviel Weite darf am 2. Advent sein! Denn der letzte Satz ist der Anfang:

Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.

Amen.

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