„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
Gott kann unverständlich und rätselhaft für uns werden, aber Gott gibt uns nicht auf
Predigttext: Jesaja 40,1-8 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. 2 Redet mit Jerusalem freundlich und prediget ihr, daß ihre Knechtschaft ein Ende hat, daß ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. 3 Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! 4 Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; 5 denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet. 6 Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. 7 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! 8 Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.Zu Kontext, literarische Einheitlichkeit und Inhalt(e) der Perikope
Die exegetisch sinnvoll abgegrenzte Perikope Jes 40,1-8 mit den drei Abschnitt V.1-2. 3-5. 6-8 eröffnet programmatisch den zweiten Teil des Jesajabuches (Jes 40-55) und mündet in das gewichtige, einem Schlussakkord gleichende: „aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich“/ „verbum Dei manet in aeternum“. Die oft hinzugenommenen Verse 9-13 greifen zwar die Thematik vom Kommen Gottes auf (V.10), jedoch markiert in V.9 der Wechsel der Anrede (Zion/Jerusalem) deutlich einen Neueinsatz. Umstritten ist, ob die drei Abschnitte in V.1-8 eine ursprüngliche „Erlebniseinheit“ (K. Elliger) oder „ein erst kompositorisch zusammengefaßtes Gebilde“ (R. Albertz) sind, ob in ihnen ein prophetisches „Berufungserlebnis“ (Elliger) anklingt oder wir es mit einer von Jes 6 herkommenden „heilsprophetische(n) Fort- schreibung“ (Albertz) zu tun haben. Den drei Abschnitten entsprechen die Aufrufe zu trösten (V.1-2), in der Wüste Gott den Weg zu bereiten (V.3-5) und zum Vertrauen auf das Wort unseres Gottes, das gegen alle Mächte Durchsetzungskraft hat und von beständiger Dauer ist (V.6-8). Der Inhalt der Trostbotschaft wird in V.2 und V.3-5 entfaltet: Die Knechtschaft im babylonischen Exil geht zu Ende; Gott hat seinem Volk die Schuld vergeben und veranlasst die Vorbereitungen für die Heimkehr. Die Vv. 6-8 bekräftigen (wie schon die autorisierenden Hinweise in V.1 „spricht euer Gott“ und V.5 „denn des HERRN Mund hat’s geredet“) die Botschaft. Elliger will „das Wort unseres Gottes“ (V.8) auf die in V.1-5 entfaltete Trostbotschaft beziehen und übersetzt darum „Verkünde es!“ Die Eingrenzung erscheint mir nicht berechtigt zu sein. Ist nicht auch und gerade die seither ergangene prophetische Botschaft, voran Jesajas (Jes 1-39*), gemeint? Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, wer den Aufruf Gottes zu trösten und an wen weitergibt, und wer die „Stimme“ in V.3 und V.6 ist. In der Septuaginta sind die Angesprochenen von V.1f. „Priester“ (vgl. B. Duhm: „...jeder, der trösten kann...in erster Linie der Prophet selber“; Elliger: „Ein Himmlischer redet zu Himmlischen“), und der Sprecher in V.3 ein „Rufer in der Wüste“ (so von Mt 3,5; Joh 1,23 aufgenommen). Nicht festgelegt ist auch, wer in V.6 angeredet und zum „Predigen“ aufgefordert wird. Die in der atl. Exegese verbreitete Identifikation mit einem zur Zeit des babylonischen Exils auftretenden (unbekannten) Propheten („Deuterojesaja“) ist hypothetisch. Der hebr. Text erlaubt keine einhellige Entscheidung darüber, ob in V.6b-8 eine einheitliche, den Auftrag begleitende und begründende Rede (eines himmlischen Sprechers, vgl. Elliger) oder ein Dialog (Westermann u.a.) mit Einwand des Angesprochenen (V.6b-7) und Antwort (V.8) vorliegt. V.1 hebr. nchm pi. („trösten“), dem im NT parakaléo entspricht, bedeutet: Bekümmerte, Trauernde, zu neuem Leben ermutigen; in unserem Text ist es das verzagte Volk in babylonischer Gefangenschaft, zu dessen Trost Gott alles aufbietet (vgl. Jes 49,13; 52,9; 66,13). ? V.2a „Jerusalem“ ist hier Inbegriff für das durch Babylon geschlagene und deportierte Volk. V.2b „doppelte Strafe“, nicht in (auf)rechnendem Sinn, sondern den Aufruf zu trösten begründend: das Volk hat schwer gelitten für seine Sünden und bedarf jetzt eines starken Trostes. V.5 hebr. kabod bezeichnet hier Gott in seinem „imponierenden“ Handeln.- „alles Fleisch miteinander“ = alle Menschen, alle Völker, auch und gerade die Babylonier. V.6b chasdo kann hier wie 2Chron 32,32; 35,26 (vgl. 2Kön 20,20; 23,28; Ps 59,17f.) „seine (üppig entfaltete) Kraft“ bedeuten und im Zusammenhang mit dem Bild von Gras und Blume auf die plötzlich vergehende Macht Babylons weisen (Elliger, S. 24f.), vgl. die Nachinterpretation in Jes 51,12, „Anspielung auf die Nichtigkeit der prahlenden politischen Mächte“ (Albertz, S.247, Anm.25). V.7 hebr. ruach, „(Gottes) Hauch, Wind“, Anklang an die „schirokkoartigen Winde, die die Hitze der Wüste ins Kulturland tragen und mit einem Schlage die ganze vitale Frühlingspracht versengen“, zugleich Hinweis auf Gottes Macht (Elliger, S.25): so vergeht alle Menschenmacht und Menschenpracht, hier: der jetzt noch mächtigen und furchterregenden Babylonier. Die (beabsichtigte?) Offenheit des Textes ist eine homiletische Chance!Lieder:
„O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7, Eingangslied) „Tochter Zion, freue dich“ (EG 13,1, Loblied, vierstimmig!) „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11,1-3, Predigtlied) „Gott sei Dank“ (EG 12, Schlusslied)Literaturhinweise:
B. Duhm, Das Buch Jesaja, 5.Aufl., Göttingen 1968, S.286-292; C. Westermann, Das Buch Jesaja, Kap. 40-66, ATD 19, 2.Aufl., Göttingen 1970, S.29-38; K. Elliger, Jesaja II (40,1-45,7), BK XI, 2.Aufl., Neukirchen-Vluyn 1989, S.1-30; R. Albertz, Das Deuterojesaja-Buch als Fortschreibung der Jesaja-Prophetie, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte, FS R. Rendtorff, hg. v. E. Blum, Chr. Macholz, E. W. Stegemann, Neukirchen-Vluyn 1990, S.241-256; R. G. Kratz, Der Anfang des Zweiten Jesaja in Jes 40,1f. und das Jeremiabuch, in: ZAW 106 (1994), S.243-261; R. Gradwohl, Bibelauslegung aus jüdischen Quellen, Bd.3: Die alttestamentlichen Predigttexte des 5.Jg., Stuttgart 1988, S.193-207.Liebe Gemeinde!
„Bereitet dem HERRN den Weg…“ Diese Worte aus unserem heutigen Predigttext sind uns bestimmt vertrauter als der Zusammenhang, in dem sie stehen. Wir kennen sie in Verbindung mit der Adventszeit und Johannes dem Täufer, dem Wegbereiter Jesu. Auch der Wochenspruch für die dritte Adventswoche beginnt mit dem Aufruf: Bereitet dem HERRN den Weg…“ Seine Fortsetzung kündigt den Advent Gottes an: „denn siehe, der HERR kommt gewaltig“. Die Ankündigung von Gottes unaufhaltsamen Kommen klingt auch als tragender Ton durch den Chor der Stimmen der prophetischen Worte aus der Hebräischen Bibel: „Die Herrlichkeit Gottes soll offenbart werden“ – sichtbar für alle.
Jene aus dem Gottesvolk Israel, die diese Botschaft einmal aufrichten sollte, lebten schon seit Jahren fern von ihrer Heimat in babylonischer Gefangenschaft. Es war die Zeit um die Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Jerusalem, bisher Inbegriff der Hoffnung, und der Tempel, Ort der Nähe Gottes, waren zerstört. Viele hatten die Hoffnung aufgegeben, dass sich alles noch zum Guten wendet und sie wieder ihr vertrautes Land sehen werden. Auch der Zweifel an Gott wuchs, ob Gott sie denn vergessen habe und Gott überhaupt weiß, was mit seinem Volk geschehen ist.
„Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk!“
Diese Worte vom verdorrenden Gras und der verwelkenden Blume waren dem Volk Israels damals wahrscheinlich näher als die Botschaft, dass die Herrlichkeit Gottes offenbart werden soll. Sie entsprachen ihren Empfindungen. Sind uns solche Empfindungen fremd? Da ist auf einmal alles ganz trostlos. Wieviele Menschen wird dieses Gefühl heute und in diesen vorweihnachtlichen Tagen ganz persönlich umtreiben? Da wird jemand plötzlich und überfallartig mit einer wenig erfreulichen Nachricht konfrontiert. Hier ist eine Freundschaft auseinandergegangen, Liebende sind sich fremd geworden. Dort ist ein Mensch einsam, ein anderer trauert. Viele leben heute noch in Gefangenschaft und Verfolgung. Feindschaft und Kriege zwischen Völkern – Gott sei’s geklagt – hören auch in diesem Jahr nicht auf. Menschen sind auf der Flucht, irren umher und sehnen sich nach Schutz.
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt…?“ (Mit dieser Frage aus EG 7,4, die ein Orgelchoral aufnehmen kann, möchte ich den Hörenden und mir Gelegenheit geben, über persönlich Bedrängendes nachzudenken.)
„Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.“
Der doppelte Aufruf weist darauf hin, wie dringlich die Wende ist. Die Zeit drängt, das am Boden zerstörte Volk aufzurichten und ihm anzukündigen: Deine Gefangenschaft geht zu Ende, und deine Schuld ist vergeben. Es hat dafür schwer, „doppelt“, gelitten. Gott ruft zu einem Trösten auf, das nicht vertröstet oder die Not verharmlost. Tröstende wenden sich den Verzweifelten zu, stimmen sie auf eine Veränderung und Wende ihrer trostlosen Situation ein, ermutigen zu Leben und Zukunft. Trösten ist eine mütterliche Geste: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, heißt es von Gott an einer anderen Stelle im Jesajabuch (66,13). Gott bleibt bei seinem Volk, auch auf den schweren Wegen. Jetzt ist alles aufgeboten, das bedrängte Volk zu trösten.
„Redet freundlich mit Jerusalem…“
Ob es so einfach ist, Trost anzunehmen? – In einem jüdischen Midrasch wird erzählt, wie die Propheten sich zu Gott begaben und ihm berichteten, Jerusalem habe sich nicht trösten lassen, und Gott daraufhin antwortete: „Wir wollen zusammen hingehen und es trösten!“
„Tröstet, tröstet mein Volk!“ Wie lieb ist Gott sein Volk. Himmel und Erde setzt Gott für sein Volk in Bewegung. Vorbereitungen gilt es zu treffen: den Mutlosen zu Herzen reden, einen Weg schaffen. Es ist offen, wer den Aufruf Gottes zu trösten und an wen weitergeben soll, wer die zweimal erwähnte „Stimme“ ist und wer angeredet wird und „predigen“ soll. Wer soll trösten? Der Aufruf beschränkt sich nicht auf damalige Propheten oder Priester. Alle sind aufgerufen, alle, denen Not zu Herzen geht! Gott sucht auch noch heute Menschen, die mit ihm zusammen trösten. Sein Aufruf zu trösten will Hörende finden, die sich davon berühren, nachdenklich stimmen und dorthin in Bewegung bringen lassen, wo „Verzweiflung und Kummer wohnt“ und Menschen auf Befreiung warten.
„Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!“
Ein Weg durch die Wüste – ein faszinierendes Bild! Da wird es in leblosem, ausgebranntem Gebiet plötzlich lebendig. Unwegsames Gelände voller Hindernisse wird begehbar. Unmögliches wird möglich. Die Wüste blüht auf, ein Bild der Hoffnung. Gott selbst will sein Volk durch die Wüste führen wie damals nach der Befreiung aus Ägypten, ein neuer Exodus. Eine Prachtstraße soll dafür ausgebaut werden, nicht wie üblich für den weltlichen Machthaber, den babylonischen König, sondern für Gott. Wie in einem Triumphzug will Gott sein Volk in die ersehnte Heimat führen. Alles muss sich verändern, um sich ganz auf dieses eine befreiende Geschehen, einzustellen. Es gibt keine wirklichen Hindernisse mehr. Die Täler werden erhöht, Berge und Hügel erniedrigt, was uneben ist, gerade, und was hügelig ist, wird eben – ein Bild für Gottes Hilfe, für „die Herrlichkeit Gottes“.
„Es spricht eine Stimme: Predige!“
Ein dritter Aufruf. Gott redet nicht unmittelbar. Wieder ist es eine Stimme. Sie fordert jetzt einen Einzelnen zum Predigen/Verkündigen auf.
„Was soll ich predigen?“
Hinaus in die Welt rufen, weitersagen, was gut und wert ist, dass es gehört wird!
„Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie die Blume auf dem Felde.“
Dieses Bild vom verdorrenden Gras und von der verwelkenden Blume wollte das schwer geschüttelte Gottesvolk nicht einer Vergänglichkeitsklage überlassen. Die Furcht vor dem mächtigen Babylon sollte ihm genommen werden: Seht, die Babylonier gleichen einem bunten, üppig sich entfaltenden Wiesenteppich, aber wie dessen Pracht bald vergeht, so werden auch sie mit all ihrer Menschenmacht vergehen und nicht ewig bleiben.
„Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“
Das Gottesvolk hat das Ende seiner Gefangenschaft erlebt. Es durfte heimkehren. Neue Wege haben sich ihm geöffnet. „Gott hat sein Volk getröstet.“(Jes 49,13)
Zeit und Schicksale haben seither gewechselt. Unser Trost- und Hilfebedürfnis ist geblieben. Aber Gott wendet sich auch heute noch zu. In jedem Gottesdienst wird uns der Trost aus Gottes Wort, der Trost des Evangeliums, zugesprochen. „Hört den Trost aus Gottes Wort/ den Trost des Evangeliums.“ Da will in uns Menschen etwas zum Schwingen und Klingen kommen: Gott und sein Wort sind beständig, treu und voller Hoffnung. Jesus selbst hat sich in diese Trostbewegung hineingestellt, als er in der Synagoge zu Nazareth ganz im Anklang an unseren Predigttext sagte, wozu er sich von Gott gerufen wusste: „den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, zu trösten alle Trauernden“ (Jes 61,1-2). Gott kann unverständlich und rätselhaft für uns werden, aber er gibt uns nicht auf.
Unser Predigttext nimmt uns hinein in ein wirklich adventliches Geschehen. Seine Botschaft macht uns Mut, angesichts unserer vielfältigen, oft bedrängenden Lebenssituationen auf Gottes Wort erwartungsvoll zu hören und seiner Wahrheit auch für unser Leben zu vertrauen.
Amen.