„Es ist ein Ros entsprungen“
Das Weihnachtslied EG 30 und die messianische Weissagung Jesaja 11,1-2(9)
Predigttext: Jesaja 11,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, 4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. 6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. 7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. 8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. 9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ (EG 30)
1. Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart, / wie uns die Alten sungen, / von Jesse kam die Art / und hat ein Blümlein bracht / mitten im kalten Winter / wohl zu der halben Nacht. 2. Das Blümlein, das ich meine, / davon Jesaja sagt, / hat uns gebracht alleine / Marie, die reine Magd; / aus Gottes ewgem Rat / hat sie ein Kind geboren, / welches uns selig macht. 3. Das Blümelein so kleine, / das duftet uns so süß; / mit seinem hellen Scheine / vertreibt's die Finsternis. / Wahr' Mensch und wahrer Gott, / hilft uns aus allem Leide, / rettet von Sünd und Tod. 4. O Jesu, bis zum Scheiden / aus diesem Jammertal / laß dein Hilf uns geleiten / hin in den Freudensaal, / in deines Vaters Reich, / da wir dich ewig loben; / o Gott, uns das verleih!Vorbemerkung
Bei der Vorbereitung einer Predigt zu Jesaja 11,1-9 liegt es nahe, das wunderbare und so volkstümliche Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ einzubeziehen, das auf diese sog. „messianische Weissagung“, die prophetische Verheißung eines Friedenskönigs, zurückgeht und sie sub specie Christi rezipiert und interpretiert. Ich habe mich für eine Liedpredigt entschieden, die ich hier ungeplant weitergebe, nachdem ein eingeplanter Autor kurzfristig absagen musste, was ich in unserer vielseitig (heraus)geforderten pastoralen Situation nur allzu gut verstehen kann. Vielleicht gibt diese Liedpredigt trotz verspäteten Erscheinens dem/der einen oder anderen Kollegen/in, der/die unter zeitlichem Druck steht, doch noch einen kleinen Impuls für das eigene Predigtvorhaben und kann so ein wenig zur „consolatio fratrum et sororum“ beitragen. Über eine Rückmeldung würde ich mich freuen.Liebe Gemeinde!
Die Melodie
„Es ist ein Ros entsprungen“ – dieses Lied gehört zu den schönsten Weihnachtlsliedern. An keinem Weihnachtsfest darf es fehlen. Wir wissen nicht, wer die Melodie komponiert hat; bekannt ist uns nur der Enstehungsort und das Kompositionsjahr. Sie entstand in Köln im Jahre 1599. Populär und weltberühmt wurde bald der vierstimmige Chorsatz, den der am Wolfenbütteler Hof als Organist und Kapellmeister tätige Michael Praetorius zehn Jahre später, im Jahre 1609, schrieb. Michael Praetorius galt als der bedeutendste Komponist seiner Zeit.
Der Liedtext
Ebensowenig wie den Komponisten der Melodie kennen wir den Verfasser des Liedtextes, zumindest was die ersten beiden Strophen anlangt. Diese datieren in die Jahre 1587/88 und sind in Trier enstanden; die Strophen 3 und 4 fanden sich im Jahre 1844 bei dem Pfarrer Fridrich Layritz, wobei es sich wahrscheinlich nicht um einen eigenen Text, sondern um die Bearbeitung einer älteren Vorlage handelt.
Die einzelnen Liedstrophen, Strophe 1 „Es ist ein Ros entsprungen“
„Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart, / wie uns die Alten sungen, / von Jesse kam die Art / und hat ein Blümlein bracht / mitten im kalten Winter / wohl zu der halben Nacht.“
Die erste Strophe bezieht sich auf eine prophetische Verheißung aus dem Jesajabuch, Kapitel 11, die Verse 1-2:
1Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
Der pophetische Text, dem das Weihnachtslied nachgedichtet ist, gehört zu den sogenannten „messianischen Weissagungen“; dabei geht es um die prophetische Ankündigung eines von Gott eingesetzten Königs. Weil die Einsetzung des Königs durch das Ritual der Salbung vollzogen wurde, nannte man ihn „Gesalbter“, hebräisch „Meschiach“, lateinisch „Christus“. Zu den bezeichnendsten Eigenarten dieses Königs gehörte es, dass er sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzt, dass ihn das Elend der Armen berührt, deren Recht mit Füßen getreten wird. Von ihm heißt es bei Jesaja weiter: „Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören…“ (Jesaja 11,3). Nicht Augenschein und Vordergründigkeit, nicht Hörensagen und Gerüchte werden seine Rechtsprechung bestimmen, sondern diesem König geht es zutiefst darum, den Menschen gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass ein Mensch dem anderen Menschen gerecht werde.
Die Ankündigung eines solchen Heil und Hilfe bringenden Königs nimmt die Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden wahr. Wieviel Hoffnung hatte das biblische Israel auf ihre Könige gesetzt, angefangen mit Saul, David und Salomo. Nach den enttäuschenden Erfahrungen mit ihren Königen wuchs verständlicherweise das Verlangen, die Sehnsucht nach einem neuen Davididen aus dem gleichen Stamm Isais, aus dem einst der große David geboren wurde. „Weisheit und Verstand“, „Rat und Stärke“, „Erkenntnis und Gottesfurcht“ sollten die Kennzeichen des angekündigten Königs sein; sie kommen aus der Kraft des Geistes Gottes, der auf ihm „ruhen“, ihn erfüllen wird und aus der heraus er handeln wird.
Aus dem „Reis“, dem aus dem Wurzelstamm Isais aufbrechenden „Zweig“ wird in der Lieddichtung eine „Rose“, ein „Blümlein“ aus zarter Wurzel, das „mitten im kalten Winter“ aufblüht. Davids Herkunft von seinem Stammvater Isai bzw. „Jesse“ wird mit einem blühenden Garten verglichen, den eine wunderschöne Blume schmückt.
Der „kalte Winter“ steht symbolisch für die Kälte, die sich Menschen gegenseitig bereiten, indem sie nur sich selbst, das eigene Recht und nicht auch den anderen Menschen und dessen Recht sehen; sie steht für Lieblosigkeit, Hass und Feindschaft.
Aber Gottes Handeln für den Menschen lässt sich durch diese Herzenskälte nicht aufhalten. Gott bringt Farbe, Licht und Wärme in die Eiszeit, in der Menschen einander erfrieren lassen können. „Und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht“. Die Mitte der Nacht ist nicht länger ein Zeitpunkt für Resignation, sondern sie wird zum Anfang eines neuen Tages. Das Morgenlicht bricht an. Die verschlossene Blüte öffnet sich. Es wird schön.
Die prophetische Ankündigung hatte Wärme in die Kälte gebracht, Licht ins Dunkel, Farbe in das Grau des Alltags. Die Menschen, die diese wunderbare Botschaft mit großem Staunen vor über zweieinhalbtausend Jahren zum ersten Mal hörten, mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie mit der alltäglichen Wirklichkeit noch lange nicht übereinstimmt, vielmehr in größter Spannung zu ihr steht. Aber die Spannung, die sie empfanden, veränderte ihre Sicht und Lebenseinstellung. Ihr Leben wurde richtig spannend, und sie gaben sich nicht mehr zufrieden mit dem, was sie vorfanden. Die Botschaft von dem kommenden Messias und seinem Friedensreich wurde für sie zu einer Vision der Hoffnung; diese lehrte sie, auf die kleinen Zeichen im Alltag zu achten, und sie ermutigte sie, auch selbst kleine Zeichen zu setzen (Beispiele…), damit „zu der halben Nacht“, mitten in der Nacht, die ganze Aufmerksamkeit schon auf den Morgen gelenkt werde – „Morgenglanz der Ewigkeit“ (EG 450,1)
Alle, die an dem Auseinanderklaffen zwischen „Verheißung“ und „Erfüllung“ leiden, seien an die Worte Dietrich Bonhoeffers erinnert: „Es gibt ein erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche“.
Strophe 2 „Das Blümlein, das ich meine“
Für die ersten christlichen Gemeinden wurde die prophetische Ankündigung eines Messias so etwas wie eine Sprachhilfe, um auszusagen, was sie durch die Verkündigung Jesu, seine Art zu Leben, sein Leiden, sein Kreuz und Tod bis hin zur Auferstehung in das österliche Leben erfahren haben:
„Das Blümlein, das ich meine, / davon Jesaja sagt, / hat uns gebracht alleine / Marie, die reine Magd; / aus Gottes ewgem Rat / hat sie ein Kind geboren, / welches uns selig macht“.
Jesus wird mit dem „Blümlein“ in Verbindung gebracht, das der Prophet Jesaja ankündigte, geboren von Maria, aus Gottes ewigem Ratschluss, das uns „selig“, glücklich macht, mit wahrem Leben erfüllt. Gottes ewiger Rat – heißt das nicht Gottes ewige Zuwendung zu uns Menschen, die zu der Erkenntnis gekommen ist, dass wir dieses Kind brauchen. Es ist wie eine Blume, schön, zart, aber nicht von Dauer, Geschenk für bestimmte Zeit, jedoch selig machend über diese Zeit hinaus.
Strophe 3 „Das Blümelein so kleine“
„Das Blümelein so kleine, / das duftet uns so süß; / mit seinem hellen Scheine / vertreibt’s die Finsternis. / Wahr’ Mensch und wahrer Gott, / hilft uns aus allem Leide, / rettet von Sünd und Tod.“
Dieses Blümlein verbreitet, wie es die dritte Strophe umschreibt, einen süßen Duft, der uns gut tut; er ist nicht greifbar, jedoch einhüllend und alles durchdringend. Die Farbenpracht und das Licht sind Ausdruck der Freude, sie vertreibt die Finsternis menschlichen Elends, „hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod“.
Heinrich Held (1658) sagt es in seinem Adventslied (12,2) so: „Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war, und was sie geprophezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit“.
Strophe 4 „O Jesu, bis zum Scheiden“
„O Jesu, bis zum Scheiden / aus diesem Jammertal / laß dein Hilf uns geleiten / hin in den Freudensaal, / in deines Vaters Reich, / da wir dich ewig loben; / o Gott, uns das verleih!“
In der vierten Strophe des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen“ wendet sich der Dichter mit einer Bitte an Jesus. Die Beschreibung des wunderbaren Geschehens wandelt sich zum Gebet. Jesus wird direkt angesprochen. Jesus ist bei Gott und wirkt von dort in unser Leben. Die letzte Strophe wird damit auch zum Glaubensbekenntnis, dass Jesus in der Einheit mit Gott und dem Heiligen Geist seine Hilfe uns leitet auf dem Weg in das himmlische Reich, „da wir dich ewig loben“.
„Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen…“ Diese prophetische „messianische“ Verheißung glauben wir als Kirche und Gemeinde Jesu in Ihm, „dem wahren Menschen und wahren Gott” (Strophe 3) erfüllt. Die Rede vom Messias, dem Christus Gottes, dem von Gott eingesetzten König, sollte uns Christen mit den Juden, auch hier in Heidelberg, viel stärker verbinden, sie ist das gemeinsame Band.
Das „Blümlein von Jesse Art“ hat Gott nicht aufblühen lassen, dass sich nur ein paar wenige daran freuen, sondern dass es uns allen, allen Völkern dieser Erde, „süß duftet“ und sogar, wie es im weiteren Zusammenhang bei Jesaja heißt, die Tiere miteinbezieht. Welch ein alles umfassender himmlischer Friede! Davon haben die Engel an Weihnachten über Bethlehem zu Gottes Lob gesungen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden.“
Amen.