Goldmünzen im Neuen Jahr prägen
Wer für alles eine Weisheit parat hat, ist noch kein weiser Mensch
Predigttext: Sprüche 16,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Der Mensch setzt sich's wohl vor im Herzen; aber vom HERRN kommt, was die Zunge reden wird. 2 Einen jeglichen dünken seine Wege rein; aber der HERR prüft die Geister. 3 Befiehl dem HERRN deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. 4 Der HERR macht alles zu seinem Zweck, auch den Gottlosen für den bösen Tag. 5 Ein stolzes Herz ist dem HERRN ein Gräuel und wird gewiss nicht ungestraft bleiben. 6 Durch Güte und Treue wird Missetat gesühnt, und durch die Furcht des HERRN meidet man das Böse. 7 Wenn eines Menschen Wege dem HERRN wohlgefallen, so lässt er auch seine Feinde mit ihm Frieden machen. 8 Besser wenig mit Gerechtigkeit als viel Einkommen mit Unrecht. 9 Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Nach G.v.Rad meint „weise“ „das Erfahrensein, das Sachkundigsein etwa eines Schiffers, eines Erzarbeiters, eines politischen Beraters“ – und im Blick auf Spr. 1,5 stellt sich die „Steuermannskunst“ ein, die hilft, sich durch die Wirrnis des Lebens durchzulotsen. Sprachlich haftet den Weisheitssprüchen, die aneinander gereiht werden können, ohne dass – dem Außenstehenden - immer ein roter Faden erkennbar wird, ein behauptendes Moment an: Weisheitssprüche sehen sich als allgemeingültig an und abstrahieren sogar von der Situation, in der sie einmal gefunden und formuliert wurden. Das provoziert allerdings auch Widerspruch. Nehmen wir als Beispiel Spr. 16,7. Propheten haben etwas anderes erfahren, letztlich auch Jesus. Ist der Weisheitsspruch damit aber widerlegt? Was widerlegt wird, ist, dass Weisheits-sprüche sich lehrmäßig vermarkten lassen. Nach G.v.Rad müssen aus der rohen Erfahrungsmasse Goldmünzen geprägt werden – schon am ersten Tag des Jahres eine Herausforderung. Unsere Perikope ist eine Sammlung lose aneinander gereihter Sprüche. Ein innerer Zusammenhang ist nicht feststellbar. Jedoch fallen formale Unterschiede auf. Bis auf V. 8 enthalten alle Verse eine Aussage über Gott. Die VV 1.2.9 heben sich dadurch ab, dass sie antithetisch formuliert sind und eine Spannung zwischen menschlichem Verhalten und Gottes Handeln aussagen. Der unbekannte Verfasser oder Redaktor hat allerdings gelernt, diese Spannung zu bejahen und dann auch positiv zu deuten: Befiehl Gott deine Werke, so werden deine Pläne sich verwirklichen. Die Reihenfolge wird umgestellt. In V. 3 laufen die Weisheitssprüche zusammen. Die dunklen Seiten des Lebens werden nicht ausgeblendet, die eigenen Wünsche auch nicht unterdrückt. Vielmehr gründet diese Zuversicht in einer Haltung, die die zunächst berechtigen Pläne, Vorstellungen und Erwartungen einer kritischen Prüfung im Angesicht Gottes unterzieht. In dieser Prüfung kristallisiert sich heraus, wes Geistes Kind sie sind (V. 2). Nähe zu sich selbst und zugleich kritische Distanz, die durch die Beziehung zu Gott ermöglicht wird, lösen einen Prozeß der Klärung aus, in dem Verwandlung der eigenen Pläne, Vorstellungen und Erwartungen geschieht. Auf diesem Weg, auf dem der Mensch selbst in Bewegung gerät, gewinnt er eine neue Beziehung zu sich selbst, weil er sein Leben in einem neuen Licht sieht und in einem neuen Horizont entdeckt. Aus roher Erfahrungsmasse werden Goldmünzen geprägt – mit je eigenem Bild. Die Predigt am Neujahrstag hilft, sich „weise“ auf ein neues Jahr einzustellen und dabei nicht weniger zu wollen, als Goldmünzen zu prägen.Literatur:
Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments I, 1958; Heinrich Stühmeyer, Sprüche 16,1-9, in: Evangelische Predigtmeditationen I (1988/89), hrsg. von H. Blauert, K. H. Bernhardt und J. Hempel, Berlin 1988, S. 50-53.Unbeschriebenes Blatt
Mit neun weisen Sprüchen, mit denen Menschen schon ihre Erfahrungen gemacht haben, werden wir in das neue Jahr geschickt. Ob sie überhaupt zusammengehören? Jeder Satz liest sich auch einzeln gut. Und könnte einen Neujahrswunsch abgeben. Hören wir aus der Sammlung der Sprüche unseren Predigttext. (Lesung des Predigttextes)
Vielseitig – und vielversprechend wird unser menschliches Tun abgewogen und mit den Augen Gottes, sozusagen von außen, wahrgenommen. Das ist zunächst sehr ungewohnt. Denn mit unseren Planungen, Absichten und Erwartungen sind wir längst in das neue Jahr gestartet. Für Blicke von außen haben wir wenig Sinn. Zeit schon gar nicht.
Das Jahr sei noch wie ein ungeschriebenes Blatt Papier, hörte ich. Ja, dachte ich, musste dann aber schnell einlenken. Mein Terminkalender ist schon so voll, dass von einem unbeschriebenen Blatt Papier nicht die Rede sein kann – nicht einmal in übertragenem Sinn. Schließlich ist ein Kalender, ein Terminkalender sowieso, ein beschriebenes Blatt. Und jeder weiß, lächelnd oder auch stirnrunzelnd, seinen Kalender zu zücken: muss mal sehen, klappt nicht, alles schon voll, tut mir leid. Wer die Probe aufs Exempel machen will, plane eine Feier in seinem Lieblingslokal – oder buche schon rasch die Ferienwohnung, die doch so schön war. Am 1. Januar ist vieles schon zu spät. Von wegen: unbeschriebenes Blatt.
In den Betrieben sind schon längst die Budgets für 2007 in Zahlen gegossen, EDV-technisch eingestellt und als Vorgaben allen Beteiligten bekannt gemacht. Zielvorgaben, nennt man das. Schließlich soll jeder wissen, was auf ihn zukommt und was von ihm erwartet wird. Unklarheiten sind nicht vorgesehen, allenfalls Begründungen und Nachweise – wenn Ziele und Vereinbarungen nicht erreicht werden.
Wir hören: Der Mensch setzt sich’s wohl vor im Herzen; aber vom HERRN kommt, was die Zunge reden wird. So der erste Spruch, der uns heute die Spur ins neue Jahr weist. Wie fremdartig, vielleicht sogar unheimlich, ist, was uns da zugemutet wird. Denn alles, was wir uns vorgenommen haben, wird unter einen Vorbehalt gestellt: Wir können nicht einmal darüber reden, wenn Gott uns nicht die Worte gibt. Diese Einschränkung passt nicht zu dem Traum, um Worte niemals verlegen zu sein.
Gegen-Sätze
Ungeachtet der technischen Möglichkeiten, die wir heute haben, führt uns der erste Spruch unsere menschliche Realität ungeschminkt, aber auch hoffnungsvoll vor Augen. Wir sehen unser Herz: wir haben uns viel vorgenommen, wir bewahren Pläne und Absichten in uns auf, aber wir können längst nicht über alles reden. Vieles bleibt uns auch verborgen. Für vieles fehlt uns der Mut. Für vieles auch die Worte. Und dann achten wir auf unsere Zunge: Sie, die unsere Worte formt, sagt nicht alles. Vieles deckt sie zu. Vieles versteckt sie. Mit vielen Worten. Zwischen den Zeilen. Und wenn es hart auf hart kommt, verletzt sie. Die Zunge kann falsch sein. Eine Schlange im Mund.
Herz und Zunge. Beide gehören eigentlich untrennbar zusammen. Ohne Zunge ist das Herz ein Loch, ohne Herz aber verliert die Zunge jeden Laut. Im ersten Spruch aber werden Herz und Zunge getrennt. Das Herz wird den Menschen zugeschlagen, die Zunge aber Gott. Ob sich so trennen lässt, was zusammengehört? Für den Weisen jedoch, der uns diesen Spruch hinterlässt, werden Herz und Zunge zu Gegensätzen, weil menschliche Absichten nicht automatisch, von sich aus, das Licht der Welt erblicken: Dem Menschen gehören die Überlegungen des Herzens, aber vom Herrn kommt die Antwort der Zunge.
Was des Menschen ist
Die Weisheitsliteratur, die wir im Alten Testament, aber ähnlich auch im alten Orient, finden, hat eine hohe Meinung von dem, was Menschen machen. Es lässt sich auch kein schlechtes Wort ausmachen, das über Pläne, Träume, Hoffnungen gelegt würde. Als Menschen haben wir viele Möglichkeiten. Wir sagen heute: die Welt steht uns offen.
Aber die Selbstsicherheit und Perfektion, mit der Menschen ihre „Dinge“ durchziehen, werden in den Sprüchen abgewogen – und zu leicht befunden. Ein Blick auf die Sprüche, die uns heute mitgegeben werden: Menschen geben sich mit ihren Wegen zufrieden – stolz sind sie mit sich im Reinen. Aber sie sehen nicht, von welchem Geist sie getrieben werden – sie geben vor, das Böse zu meiden, verlieren aber Güte und Treue. Hohes Einkommen steht höher im Kurs als Gerechtigkeit. Sehr nüchtern wird das menschliche Leben beschrieben. Spruch für Spruch. Aber schon der erste Spruch ist ein Schlüssel: Der Mensch setzt sich’s wohl vor im Herzen; aber …
Aber vom Herrn kommt, was die Zunge reden wird. Ein sehr eindrückliches Bild. Denn wenn meine Worte das Maß sind, mein Tun und Lassen zu messen – dann gibt es nichts mehr zu sagen. Ich wasche meine Hände in Unschuld, meine Zunge trieft vor Gefälligkeit und Selbstgerechtigkeit. Widerlich. So widerlich wie viele Statements, die klug in Worte gesetzt, mit glattrasierten Gesichtern versehen, Realitäten schönen und Wahrheiten in Lügen verkehren. Nein, der zweite Halbsatz muss sein – um der Menschen willen: Vom Herrn kommt, was die Zunge reden wird.
Abgewälzte Taten und feste Schritte
Kluge Sprüche sind noch keine weisen. Und wer für alles eine Weisheit parat hat, ist noch kein weiser Mensch. Das wissen auch die Sprüche. Wer sie einmal formuliert hat? Ich weiß es nicht. Aber für ihn oder sie war es wichtig, das menschliche Leben mit den Augen Gottes in Augenschein zu nehmen. Humorvoll, liebevoll, verliebt sogar ins Detail.
In zwei Sprüchen, mittendrin und am Ende der Reihe, runden sie die Weisheit ab, die ihnen geschenkt war – so haben sie es gesehen:
(V. 3) Wälze auf Gott deine Taten, und deine Gedanken werden fest stehen. Luther übersetzte: Befiehl dem Herrn deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. Die sprachliche Vielfalt, die sich aus Übersetzungen ergibt, hilft auch, besser zu verstehen, worauf es ankommt. Der Spruch lässt sich auch so in unsere Worte kleiden: Zeige Gott deine Taten, und deine Gedanken werden fest stehen. Unsere Pläne und Vorhaben geben wir Gott ab – und er gibt sie uns zurück. Sie werden verlässlich sein und bestehen bleiben, wenn wir sie in Empfang nehmen. Eine Perspektive, die nicht auf Anhieb einleuchtet oder gar weitergegeben werden kann – aber eine Perspektive, die Zukunft verspricht, nicht Luftschlösser.
Und der letzte Spruch vollendet diese Weisheit.
(V. 9) Das Herz des Menschen bedenkt sich seinen Weg, aber der Herr lenkt seinen Schritt. Die hebräische Sprache ist aber viel offener und sensibler, als diese Worte verraten: Das Herz des Menschen bedenkt seinen Weg, aber der Herr macht seinen Schritt fest. Das ist nicht nur eine Nuance – das ist ein einzigartiger Blick: Gott schränkt meinen Weg nicht ein, droht auch nicht, sich in den Weg zu stellen – er macht meinen Schritt fest. Das ist, was weise macht: den eigenen Weg bedenken – und einen festen Schritt zu bekommen.
In diesen beiden Sprüchen geht es um Festigkeit: einmal werden die Gedanken fest stehen, dann aber auch der Schritt fest gemacht. Unschwer wahrzunehmen: Das ist der Blick Gottes auf uns Menschen.
Goldmünzen
Ein kluger Ausleger, der sich sein Leben lang mit der Weisheit beschäftigt hat, hat den schönen Satz geprägt, dass wir aus rohen und unbearbeiteten Erfahrungen Goldmünzen prägen dürfen. Roh und unbearbeitet sind viele Erfahrungen. Erfahrungen, die wir in das neue Jahr mitnehmen, Erfahrungen, die uns nicht los lassen, Erfahrungen, mit denen wir nicht im Reinen sind.
Dass aus unseren Erfahrungen, widersprüchlich wie sie sind, Goldmünzen geprägt werden können, die dann auch unser Konterfei, unser Gesicht tragen, mutet uns wie ein Geschenk aus einer anderen Welt an.
Die Sprüche haben es in sich:
Der Mensch setzt sich’s wohl vor im Herzen;
aber vom Herrn kommt, was die Zunge reden wird.
Zeige Gott deine Taten, und deine Gedanken werden fest stehen.
Das Herz des Menschen bedenkt seinen Weg, aber der Herr macht seinen Schritt fest.
Ein unbeschriebenes Blatt ist das neue Jahr nicht.
Gott hat seine Spuren schon hinterlassen.
Ein gesegnetes Neues Jahr!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.