„Kann eine Braut fliegen?“

Erzählpredigt zu Markus 2,18-20

Predigttext: Markus 2,18-20
Kirche / Ort: Heidelberg-Kirchheim
Datum: 14.01.2007
Kirchenjahr: 2. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca

Predigttext: Markus 2,18-20 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten viel; und es kamen einige, die sprachen zu Jesus: Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, und deine Jünger fasten nicht? Und Jesus sprach zu ihnen: Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten. Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage.

Exegese

Die Geschichte schließt unmittelbar an die vorausgehende Szene an: Während Jesus und seine Jünger sich beim Gastmahl des Zöllners Levi mit „Zöllnern und Sündern“ (Mk 2,15f.) irdischen Freuden hingeben, fasten zur gleichen Zeit die Täuferjünger und die Pharisäer (die Wendung „Jünger der Pharisäer“, V 18b, ist ungenau, da die Pharisäer selbst fasten, V 18a, sie ist wohl nur in Analogie zu den „Jüngern des Johannes“,V 18b, gebildet worden). Dieses Fasten gibt den Anstoß zur Fastenfrage, die Jesus von ungenannten Zeitgenossen gestellt wird, während er vermutlich noch bei Levi zu Tisch liegt. Im Judentum gab es damals öffentliche Fastentage. Man fastete bei Landesnot, Heuschreckenplagen oder am Versöhnungstag. Zur Erinnerung von nationalen Katastrophen hielt man Gedenktage ab und fastete dabei. Privates Fasten galt als Mittel, um seinen Gebeten Nachdruck zu verleihen: Man fastete, um Gottes Schutz für eine Reisekarawane herbeizurufen (Esra 8,21). König David fastete für die Genesung seines Sohnes (2 Sam 12,16). Fasten war auch Zeichen der Buße oder der Trauer. Das öffentliche Fasten war verpflichtend, das private war freiwillig. Die Pharisäer fasteten freiwillig gleich zweimal die Woche, montags und donnerstags. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang aßen und tranken sie nichts. Sie fasteten aufgrund ihrer Frömmigkeit stellvertretend, um das Land zu schützen und das Wohl des Volkes zu mehren. Den Hintergrund bildet die jüdische Anschauung, das Fasten habe Sühnekraft (PsSal 3,8). Das Fasten der Täuferjünger hing mit der apokalyptischen Bußbewegung zusammen, die von Johannes ausging. Johannes war ein Asket, der sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährte (Mk 1,6), vermutlich hat er seine Jünger das Fasten gelehrt. Matthäus interpretiert das Fasten der Täuferjünger wohl treffend als Trauerfasten (Mt 9,15) im Blick auf den sündigen Zustand des alten Äons, dessen Ende das bevorstehende Gottesgericht bringen werde. Der Predigttext verweist darauf, dass Christinnen und Christen nicht fasten müssen, weil sie ihre Zeit als Heils- und Freudenzeit verstehen. Mit dem Kommen Jesu, des Bräutigams, hat Gott gehandelt, daher ist nicht mehr Fasten- oder Trauerzeit, sondern Freudenzeit. Die asketischen Bestrebungen des Täufers werden genauso abgelehnt wie die hohen Frömmigkeitsstandards der Pharisäer. Jesus bringt radikal Neues, dies ist mit den alten Fastenbräuchen der Pharisäer und Täuferjünger nicht in Einklang zu bringen (Mk 2,21f.). Als einziger christlicher Fastentag nennt der Predigttext den Tag, an dem der Bräutigam entrissen wird (V 20): Der Karfreitag als Todestag Jesu wird als urchristlicher Fastentag legitimiert. Die frühchristliche Geschichte sah indes differenzierter aus: Um 100 n. Chr ist ein wöchentliches Fasten der Christen mittwochs und freitags belegt (Did 8,1), war aber umstritten (vgl. Barn 3). Ein allgemeines Fastengebot ist erst seit dem 3. Jahrhundert bekannt. Zur Methodik der Predigt: In seiner Anthropologie charakterisiert Karl Barth den Menschen durch die vier Adjektive „sozial“, „sündig“, „sterblich“ und „sinnlich“ (KD III,2). Die Sinnlichkeit des Menschen verlangt freilich nach einer ganzheitlichen Verkündigungsform. Dies versucht die Predigt umzusetzen. Methodisch knüpft sie an die narrative Theologie an, als deren Ahnvater ebenfalls Karl Barth gelten kann: „Die Versöhnung ist Geschichte... Wer von ihr reden will, muß sie als Geschichte erzählen“ (KD IV,1, S. 171). Die Predigt ist eine Erzählpredigt. Eine Erzählung wirkt stark emotional. Sie bleibt den HörerInnen gut in Erinnerung (emotionales Gedächtnis), und sie verknüpfen diese in einem freien Identifikationsprozeß mit ihrem eigenen Leben.

Literatur:

Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus (Teil 1), ÖTK 2/1, 2.Aufl., Gütersloh 1986, S. 174-182.

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Kann eine Braut fliegen, fragte ich mich verdutzt. Es war der erste Freitag im Neuen Jahr. Nachdem ich die frisch renovierte Heiliggeistkirche besichtigt hatte, wollte ich noch einen Blick auf die Heidelberger Altstadt werfen. Ich bestieg den Turm. Der vollbärtige Mann am Kartenverkauf behauptete, es seien 199 Stufen bis zur 1. Plattform. Zunächst ging es bequem über eine breite Treppe auf die Empore, die den Blick auf die frühgotische Kirche freigab. Der Chorraum war mit Blumen und Schleifen für eine Hochzeit geschmückt, die Tannenbaumbeleuchtung tauchte den Hallenchor in ein Lichtermeer. Der Aufstieg wurde mühsamer. Nach einer alten Tür folgten enge, steinerne Wendeltreppen. Ein dickes Seil war der einzige Halt. Einmal kam mir von oben ein Touristenpaar mit Fotoapparat entgegen, so dass ich zurück musste, bis ich eine Nische zum Ausweichen fand. Im oberen Turmteil war die Beleuchtung ausgefallen. Es war so finster, dass man nicht sah, wohin man trat. Die letzten Stufen konnte man nur gebückt hochgehen. Oben lockte das helle Tageslicht. Durch eine schmale Gittertür trat ich aus dem Turm auf einen sonnenhellen Balkon. Irritiert nahmen meine Augen etwas Leuchtendes wahr, weiß wie Schnee. Eine Riesenwolke aus meterweise Tüll. Es war ein Brautkleid. Ich musterte eine hübsche, blonde Braut, deren Reifrock mit zwei oder drei Reifen in üppiger Weite bis zum Boden fiel. Sie wandte sich zum Bräutigam, und ein Fotograph machte Hochzeitsbilder mit dem romantischen Schloß als Hintergrund. Der Brautschleier flatterte im Wind wie eine weiße Fahne im mattblauen Himmel. Wie ist die nur hier raufgekommen, runzelte ich die Stirn. Kann eine Braut fliegen?

Nachdem ich das Panorama genossen hatte, vor allem die Alte Brücke über den nebligen Neckar, das sandsteinfarbene Schloß und das verwinkelte Wirrwarr der rotbraunen Altstadtdächer, setzte ich mich in ein Café am Marktplatz. Der Grund des Stadtspazierganges war die Predigtvorbereitung. Die ermattenden Weihnachtsgottesdienste machten eine örtliche Abwechslung nötig, um neue Ideen zu sammeln. Ich suchte mir einen Fensterplatz, so dass ich das Treiben auf dem Marktplatz beobachten konnte. Spuren von Nebel lagen in der Luft, denn das Sonnenlicht drang nicht bis in die Ecken des Platzes. Ich las den Predigttext und ahnte, dass er bereits während der Turmbesteigung mein unsichtbarer Begleiter gewesen war. Es war eine Stelle aus dem 2. Kapitel des Markusevangeliums.

(Lesung des Predigttextes)

Ich legte die Lutherbibel zur Seite. „Kann ein Brautpaar fasten?“, schoß es mir durch den Kopf. Die Gedanken wanderten zurück zur Braut auf dem Turm. Vielleicht ist es mit einer Hochzeit wie mit der Turmbesteigung? Zwei lernen sich kennen und lieben. Zusammen nehmen sie mit Schwung die ersten bequemen Stufen. Aber mit der Zeit wird der Aufstieg beschwerlicher. Manchmal kommen Zweifel, ob der Aufstieg sich lohnt. Irgendwann sind die zwei schließlich doch oben angelangt. Ohne genau zu wissen, wie sie es geschafft haben. Der Wind tanzt durch das perlenbestickte Brautkleid. Verzaubert blicken sie sich in die Augen, um dann gemeinsam auf das bunte Dächerlabyrinth herabzuschauen. Sie erleben eine Hoch-Zeit des Lebens. Welches Brautpaar fastet an diesem Tag?

Die Turmuhr von Heiliggeist schlug ein Uhr. Vier helle Doppelschläge und ein dunkler Einzelschlag. Es war anscheinend ein beliebter Trautag. Vor dem Rathaus stand eine wartende Hochzeitsgesellschaft. Reiskörner wurden unter den Kindern verteilt. Welch eine Vergeudung von Nahrungsmitteln! Nein, an einem solchen Tag fasten weder das Brautpaar noch die Gäste.

Die Kerze auf dem Tisch war ausgegangen, ich zündete sie wieder an. Als ich mich in den Predigttext vertiefte, stolperte ich über die Ausgangsfrage: Warum fasten die Jünger der Pharisäer und des Täufers? Jesus überging diese Frage. Aber die Frage war gut, warum fasteten sie überhaupt? Zur Klärung holte ich meinen biblischen Kommentar aus der schwarzen Tasche. Fasten. Im Judentum gab es öffentliche Fastentage bei nationalen Katastrophen, Heuschreckenplagen oder am Versöhnungstag. Privates Fasten galt als Mittel, um seinen Gebeten Nachdruck zu verleihen. Zudem fastete man, um Verfehlungen zu sühnen, oder aus Trauer. Das öffentliche Fasten war verpflichtend, das private war freiwillig. Die Pharisäer fasteten aus freien Stücken gleich zweimal die Woche. Montags und donnerstags. Vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne aßen und tranken sie nichts. Warum sie das taten? Sie fasteten stellvertretend, um das Land zu schützen und das Wohl des Volkes zu mehren.

„Fromm, fromm“, hob ich bedächtig den Kopf. Das Brautpaar kam aus dem Standesamt und wurde von der klatschenden Menschentraube mit Reiskörnern begrüßt. Sie mußten ein großes Herz in ein weißes Tuch schneiden. Der Bräutigam trug die lachende Braut auf Armen durch das ausgeschnittene Herz.

Ich senkte den Blick wieder. Das Kerzenlicht flackerte lebhaft. Der zweite Teil der Frage war noch unbeantwortet: Warum fasteten denn die Jünger des Johannes, auch aus Frömmigkeit? Neugierig nahm ich den Kommentar wieder in die Hand. Johannes der Täufer war eine prophetische Gestalt mit einem Gewand aus Kamelhaaren und einem ledernen Gürtel um die Hüften. Er verkündete das bevorstehende Weltgericht. Die böse Welt gehe zugrunde, und Gott bringe eine neue Welt. Zum Zeichen der Umkehr taufte er. Die Täuferjünger fasteten aus Trauer über die Bosheit der Welt. Sie fasteten gleichsam von der alten Welt in Erwartung der neuen. Das waren Radikale. Kompromißlose Männer. Asketen.

Ich fixierte eine weiße Taube vor dem Fenster, die ein großes Brotstück aufpickte. Unversehens ließ sie das Brotstück fallen und flog aufgeschreckt in die Lüfte. Zwei Jogger hatten sich ihr genähert. „Weshalb fastet man heutzutage“, fragte ich mich, ohne den Blick von den flinken Läufern zu lassen. Weil man fromm ist? Die meisten fasten eher wegen der Gesundheit. Waschbrettbauch. Entschlackungskur. Sie setzen sich selbst auf Diät. Das Schönheitsideal der Fitnessstudios und Laufstege ist angesagt.

Ein hageres Mädchen mit traurigen Augen setzte sich an den Nebentisch. Sie nahm sich eine Modezeitschrift und bestellte ein Glas Wasser. Die Rastalocken fielen ihr übers Gesicht. Sie war in elegantem Rot gekleidet, aber absonderlich anzusehen. Der überschlanke Körper war bis ins Bizarre verzerrt. Die Proportionen stimmten nicht, sie war erschreckend mager. Meine Stirn runzelte sich. Es gab radikale Frauen, die nur noch Verzicht propagierten und keinen Genuß mehr. So etwas wie moderne Täuferjüngerinnen um der Schlankheit willen. Aber die am Nachbartisch schien einen gefährlichen Schritt weiter gegangen zu sein. War sie ein Opfer des Schlankheitswahns in der Modebranche? Wollte sie so aussehen wie der Klassenstar und hatte daher begonnen abzunehmen? Die ersten Pfunde purzelten rasch, und sie war ziemlich euphorisch. Unvermittelt ging es nur noch im Schneckentempo. Mit 40 Kilo fand sie sich schließlich in Ordnung, hatte jedoch panische Angst wieder zuzunehmen. Eine trübe Erinnerung stieg in mir auf. Da war doch dieses Armani-Model, das sich vergangenen Monat zu Tode gehungert hatte. Jahrelang hatte sie sich nur von Äpfeln und Tomaten ernährt. Sollten zu dünne Models nicht von den Laufstegen verbannt werden? Führte die Verheißung der Idealmaße nicht in die Irre? Das Mädchen hob ihre traurigen, matten Augen und legte die Zeitschrift beiseite. Was ist das Geheimnis dieser magersüchtigen Traurigkeit? Ist es die Seele, die nach Nahrung verlangt? Stumme Schreie. Verborgenes Leiden. Ihre Sehnsucht unfaßbar. Ihr Hunger nach bedingungsloser Liebe ungestillt? Sie erhob sich umständlich und ging Richtung Toilette. Ich vertiefte mich wieder in den Markuskommentar. Wie stand Jesus zum Fasten? Pikant, als er nach dem Fasten gefragt wurde, lag er zu Tisch beim Zöllner Levi. Er war als Ehrengast zum Festmahl eingeladen. Der Täufer hätte gewiß abgelehnt. Er aß nur Heuschrecken und wilden Honig. Die Pharisäer wiederum aßen nicht mit den Zöllnern. Auch nicht dienstags, mittwochs und freitags. Das waren Diebe und Betrüger. In deren Haus setzten sie nicht einmal einen Fuß. Rabbi Jesus war doch eigentlich einer von ihnen, und nun das! Während sie zum Wohl der Allgemeinheit fasteten, aß er mit diesen Sündern. So etwas Lasterhaftes! Die Superfrommen murrten und schwärzten Jesus beim Volk als Fresser und Säufer an. Sie verstanden nicht, dass er sich für die Ausgegrenzten einsetzte, bis zur Ungehörigkeit.

Was sich vor dem Rathaus abspielte, erregte meine Aufmerksamkeit. Eine winzige Hochzeitsgesellschaft trat heraus. Draußen wartete niemand auf sie. Die Brautleute waren beide mit Anzug und Krawatte bekleidet. Der mit dem karierten Anzug trug den gelben Hochzeitsstrauß, der andere eine gelbe Rose im Jackett. Das schwule Paar hatte im historischen Trauzimmer eine Lebenspartnerschaft begründet. In kirchlichen Kreisen indes waren sie Ausgegrenzte. Eine öffentliche Trauung in der Heiliggeistkirche war nicht erlaubt. Der Grundsatz war: Wer keine Kinder bekommen kann, wird nicht kirchlich getraut. Eigenartiger Grundsatz, kratzte ich mich am Ohr und blickte auf die Uhr. Um Drei hatte ich eine Trauung im Altersheim. Diese ist erlaubt, obwohl das Paar keine Kinder mehr bekommen kann. Wer kann das entwirren?

Nachdem ich noch ein Glas Latte Machiatto bestellt hatte, widmete ich mich von neuem dem Kommentar. Jesus kritisierte die Fastenpraxis. Mit dem Kommen des Bräutigams war Hoch- statt Fastenzeit. Wie ist das zu verstehen? Mit dem Bräutigam meinte Jesus sich selbst. Mit seinem Kommen begann Gottes neue Welt. Die Christen brauchten nicht zu fasten, eine Ausnahme bildete der Karfreitag. Ansonsten durften sie sich freuen wie bei einer Hochzeitsfeier, denn Jesus brachte die Liebe Gottes bis zu den Rändern. Er war ein Freund der Ausgegrenzten, ein Anwalt aller, die zu Sündenböcken gestempelt wurden, ein Beistand jener, die sich im Labyrinth verirrt hatten. Er hatte eine absolute Ehrfurcht vor der menschlichen Person, eine Liebe, die bis zur Hingabe des eigenen Lebens ging. Ein Satz im Kommentar war fettgedruckt: Für Christen ist nicht Trauerzeit, sondern Freudenzeit! Ein Epiphaniaslied kam mir in den Sinn. Ich summte leise die Melodie.

Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude.
A und O, Anfang und Ende stehen da.
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;
Schöpfer, wie kommst du den Menschen so nah.

Das Lied hallte in mir nach, gleich einem fernen Echo. Gottheit und Menschheit vereinen sich. Über das Menschliche gibt es einen Weg zur Gottheit. Die Christen müssen daher weder superfromm noch weltabgewandt sein.

Das Mädchen mit den traurigen Augen setzte sich wieder und bestellte noch ein Wasser. Schöpfer, wie kommst du den Menschen so nah. Labyrinthisch ist der Weg von der Trauer zur Heiterkeit der Seele.

Meine Augen blieben an einem großen Wandbild hängen. Ein grüner Dämon mit langen Beinen und dreizackigem Schwanz entkorkte eine rote Flasche. Ein merkwürdiges Bild. Ist Alkohol dämonisch? Ist Genuss Sünde? Mein Blick erforschte das Bild eingehender. Der Dämon hatte einen Hängebauch und rotfunkelnde Schalksaugen. Ein Bild nach dem Geschmack der Täuferjünger. Sicherlich, Sucht ist dämonisch. Aber Genuss auch? Die Bedienung brachte am Nebentisch eine kleine, grüne Flasche Wasser. Der Neujahrsempfang nach dem Gottesdienst kam mir in den Sinn. Darf es da Sekt geben? Oder nur Orangensaft? Oder gar Wasser für alle? Wasser, meinen die Täuferjünger. Und Jesus? Was meint Jesus? Gedankenverloren blätterte ich im biblischen Kommentar. Auf der Hochzeit zu Kana soll er sogar Wasser in Wein verwandelt haben. Dem Täufer hätte das ganz und gar mißfallen. Jesus, der Grund ewiger Freude. Während die Täuferjünger über die Bosheit der Welt trauern, verachtet er die Freuden des Lebens nicht. Er feiert gern. Genussvoll. In Gesellschaft. Voll Lebenslust. Nun, folglich gibt es Sekt beim Neujahrsempfang!

Mein Blick fiel auf die Uhr, und ich beschloss übereilt, an der Theke zu zahlen. Kopfschüttelnd warf ich einen letzten Blick auf das Wandbild und trat auf den belebten Marktplatz. Die Luft war für einen Januartag ungewöhnlich mild. Der Marktbrunnen war noch mit einem riesigen Adventskranz geschmückt. Undeutlich machte ich die weiße Taube auf dem Kranz aus. Die vier Lichter brannten nicht. Das Fest des Kommens Jesu hatte man bereits gefeiert. Überraschend trat die blonde Braut vom Heiliggeist-Turm hinzu, am Arm ihres Bräutigams. Die Hochzeitsgesellschaft folgte ihnen, auch eine Pfarrerin war darunter. Anscheinend hatten das Paar erst Hochzeitsbilder über den Dächern Heidelbergs gemacht und anschließend kirchlich geheiratet. Der Tüllreifrock wirkte auf der Weite des Platzes noch gewaltiger als auf dem engen Balkon. Wie ist die Braut nur den finsteren Abstieg wieder hinunter gekommen? Kann sie fliegen? Ich musterte die Pfarrerin. Sie war kaum älter als die Braut und trug eine weiße Stola auf dem schwarzen Talar. Bei der Trauung hatte sie die menschliche an die göttliche Liebe zurückgebunden. Ich kannte gleichwohl Christen, die meinten, menschliche und göttliche Liebe seien Gegensätze. So wie schwarz und weiß, wie Himmel und Erde. Manche hatten gar ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Frau umarmten, weil sie glaubten, sie müßten Gott mehr lieben als diese. Aber, ist der Himmel nicht auch auf der Erde verborgen? Wie schreibt doch gleich Dietrich Bonhoeffer an seine Braut? Ich fürchte, dass die Christen, die nur mit einem Bein auf der Erde zu stehen wagen, auch nur mit einem Bein im Himmel stehen.

Als ich am Brunnen vorbeiging, fragte ich mich, was der Predigttext wohl zur blonden Braut sagen würde? Vielleicht so: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude. So freue dich und koste lustvoll den Augenblick! Stehe mit beiden Beinen auf der Erde, und lass dies der Weg sein, um dich zum Himmel aufzuschwingen!

Der Brautvater entkorkte eine rote Flasche Sekt. Die Pfarrerin nahm ein Sektglas und ging auf die Braut zu. Vermutlich sprach sie ihr Segenswünsche zu, als sie mit ihr anstieß. Urplötzlich erhob sich die schneeweiße Taube vom Adventskranz, flog durch die Luft, zwei-, dreimal über die beiden Frauen mit den prostenden Sektgläsern hinweg. Keck ließ sich die Schneeweiße auf der Schulter der Pfarrerin nieder, genau auf der Stola, als ob auch die Taube mit der Braut anstoßen wollte.

Kann eine Braut fliegen? Eine Taube des Himmels kann es und landet doch zielsicher auf der Erde…

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