Eine kleine Weile ist das Zeitfenster offen
Der Rest bleibt Geheimnis
Predigttext: Johannes 12,32-36 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
32 Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. 33 Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. 34 Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn? 35 Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. 36 Glaubt an das Licht, solange ihr's habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.Exegetische Bemerkungen zum Predigttext
Da ich mich auf Grund des komplizierten Gedankengangs innerhalb der Zitatenkombination Jh 12,38-40 und auf Grund der in v37 angesprochenen, aber in Jh 12,34-36 nicht erwähnten „Zeichen“ dafür entscheide, nur über Jh 12, 34-36 zu predigen, werde ich die vv 37ff keiner spezifischen Exegese unterziehen. Die vv 34-36 erhalten ihren Sinn im Zusammenhang der in den Jh 12,20-33 entwickelten Erhöhungs- und Verherrlichungsvorstellung (vgl. dazu den Exkurs 13: „Erhöhung und Verherrlichung Jesu“ in R. Schnackenburg, Das Johannes-evangelium II, Freiburg (4) 1985, S. 498ff.). Zielpunkt des vorlaufenden Kontextes ist die Verheißung Jesu v 32: „ Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“. Dem Ziel, der Erhöhung Jesu mit ihrer Heilsbedeutung für „alle“, ist die Verherrlichung hier zugeordnet. Im Duktus des Kontextes hat die Verherrlichung nur eine Heilsbedeutung für Jesus selbst, die Erhöhung allerdings darüber hinaus eben für alle – im Predigttext freilich näher bestimmt als die, die „an das Licht glauben“ (v36). Die Verherrlichung geschieht im Sterben des Menschensohns, damit aus dem Sterben viel Frucht erwachse (Die eher sekundär wirkenden Nachfolgesprüche vv25 u. 26 versuchen einen soteriologischen Bezug herzustellen). Auch in den vv27-28 geschieht Verherrlichung primär um Jesu willen (eine erhellende Gegenüberstellung von alter Getsemane-Tradition und johanneischer Bearbeitung bei J. Becker, Das Evangelium nach Johannes II (ÖTK4/2),Gütersloh (3) 1991, S. 453), allerdings ist die soteriologische Bearbeitung dieses Motivs in vv29-31 überdeutlich, so dass die Verheißung v32 am Ende alles überstrahlt und die vv34-36 bestimmt. Die Verheißung von v32 wird von Jesus selbst bestätigt und verstärkt durch einen erneuten kerygmatischen Höhepunkt, durch den Skopus von vv34-36: „Glaubt an das Licht, solange ihr´s habt, damit ihr Kinder des Lichtes werdet.“ V32 und v36 sind inhaltlich aufeinander bezogen, und zwar in zweifacher Weise: Erstens wird das „Alle“ zugespitzt auf die Glaubenden, und zweitens ist die Wirksamkeit des Werkes Jesu an den Glauben gebunden. Der Abschnitt gliedert sich in drei Teile: v34: die Menschensohnfrage, v35: Aufforderung, im Licht zu wandeln, als Antwort, v36: Aufforderung, an das Licht zu glauben, zur Aneignung des Lichts. Gesprächspartner Jesu ist das Volk, also eine neutrale Größe, die weder von vorn herein positiv oder negativ besetzt ist. Hier sind noch Ressourcen der Lichtwerdung vorhanden, wenn auch im Folgenden zunächst vom Unglauben des Volkes die Rede ist, anders aber v42f. Auf der Ebene des Geschehens wirft v 34 Fragen auf: 1. In welchem Buch des „Gesetzes“ steht, „dass der Christus in Ewigkeit bleibt“? Schnackenburg verweist auf Ps. 89,36-38. Hier ist von der ewigen Herrschaft Davids die Rede. Auf der Ebene des Geschehens denkt das Volk bei „Christus“ an den neuen Gesalbten, den neuen David, als einen nationalen Messias. Sein „Bleiben“ wird als fortdauernde irdische Herrschaft von Gerechtigkeit und Frieden verstanden. Weil Christus vom Volk nicht im rechten (johanneischen) Licht gesehen wird, ergibt sich für das Volk auch der unverständliche Gegensatz von „Bleiben“ und „Erhöht werden“. 2. Jesus hat in v32 weder vom Menschensohn gesprochen, noch davon, dass dieser erhöht werden muss. Wer der Menschensohn ist, müsste dem Volk eigentlich aus der eigenen Fragelogik klar sein. Trotzdem fragt es. – Die Auflösung dieser Unstimmigkeiten liegt auf der literarischen Ebene: Die Frage: „Wer ist dieser Menschensohn?“ ist die dahinter stehende theologische Frage. Johannes beantwortet sie mit der Gleichsetzung von „Menschensohn“ und „Christus“: Der Menschensohn ist der, der am Kreuz erhöht wird und dadurch als Christus in Ewigkeit „bleibt“, und zwar im präsentisch-eschatologischen Sinn, wie vom „Bleiben bei euch/ in euch“ auch bei der Verheißung des Geistes Jh 14,15-21 und beim Gleichnis vom Weinstock Jh 15,1-8 die Rede ist. Jesus beantwortet die Frage nach dem Menschsohn in v35 mit dem Hinweis auf das Licht, das „noch eine kleine Zeit“ in der Welt ist. Damit vollzieht Johannes eine weitere Gleichsetzung: Christus=Menschensohn=Licht (der Welt). Die Welt ist in dualistischer Denkweise die Finsternis, aus der nur Christus befreien kann. Der Mensch ist stets von der Macht der Finsternis, der gottfeindlichen Welt, von Sünde und Vernichtung bedroht (vgl. die Metapher „überfalle“). Aber er kann sich entscheiden, und zwar hier und jetzt, solange es noch Zeit ist, solange das Licht noch da ist, - für das Licht. Zu dieser Entscheidung fordert Jesus auf, und sie ist möglich, eben weil das Licht noch da ist und weil das Licht auch der ist, der alle zu sich ziehen will. V36 vollzieht indirekt noch eine weitere Identifikation. Mit der typisch johanneischen Formulierung „glaubt an...“ wird das Licht mit Gott gleichgesetzt. Zum Beweis genügen nur wenige Kernsätze: Jh 14,1: „Glaubt an Gott und glaubt an mich.“; Jh 14,9: „Wer mich sieht, der sieht den Vater.“ (vgl. Jh 12,45); Jh 10,30: „Ich und der Vater sind eins“. So zieht sich ein roter Faden der Identifikation durch Jh 12,34-36: Christus=Menschensohn=Licht (der Welt)=Gott. Gott als Menschensohn zieht, als Christus bleibt er (in uns) in Ewigkeit, als Licht ruft er in die Entscheidung. Der Glaube ergreift das Licht und wird von ihm ergriffen, so dass sich das Licht überträgt auf uns und wir so zu „Kindern des Lichts“ werden. Dass dies nicht gnostisch misszuverstehen ist, dafür sorgt die Konkretion des Licht-Seins in der tätigen Liebe (13,15.34f; 15,9-14).Homiletische Bemerkungen zum Predigttext
Als Predigttext ist Jh 12,34-36 (37-41) vorgeschlagen. Dass ich die vv37-41 unberücksichtigt lasse, habe ich bei den exegetischen Bemerkungen schon begründet. Andererseits nehme ich die vv32f hinzu. Denn einen Sinnzusammenhang mit einer Antwort beginnen zu lassen, erscheint unvollständig; hier muss allein schon formal der Anlass zur Antwort erwähnt werden. Dass die vv32-36 inhaltlich zusammen gehören, wurde ebenfalls bereits exegetisch nachgewiesen. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass der Predigttext ziemlich in der Mitte des Johannesevangeliums steht und von daher Bezüge nach allen Seiten enthält: „Bleiben“ weist auf Kap. 15, das „Licht“ durchzieht das Evangelium von Anfang bis dahin (Kap. 1; 8; 12); es wird erfahrbar in der Liebe (Kap. 13). Jede dieser drei Richtungen kann die Predigt bestimmen; ich wähle die Gestaltwerdung des Lichtes in der Liebe. Dabei folgt die Gliederung der Predigt auch dem Aufbau von Jh 12,32-36. Im Zentrum steht die Frage: „Wer ist Christus?“ mit der Antwort: „Lebe ihn“. Zugleich hilft zur Beantwortung der Frage ein Vor-Bild. Darum wäre es schön, das Vor-Bild vom segnenden/schwebenden Christus zu Beginn einzuführen. An diesem Sonntag wird im Gottesdienst Josephine getauft. Das Ziel, Kind des Lichts zu werden, ist eine schöne Vorstellung gerade auch für die Taufe. Der Bezug zur Taufe ist aber nicht zwingend. Er kann in meinem Predigtvorschlag mühelos weggelassen werden. Das Lied: „Kind, du bist uns anvertraut“ ist freilich ein typisches Tauflied; allerdings scheint mir das Segenslied in jedem Fall passend.Liebe Gemeinde!
Welch ein Versprechen
Ist es nicht ein wunderschönes Versprechen dessen, der dies sagt: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“? Niemand geht verloren im schwarzen Loch des Todes, es gibt eine Zukunft für jeden von uns in diesem Leben und über dieses Leben hinaus. Aber was mach ich so viele Worte! Schauen Sie sich diesen Christus an.
( Christusbild auf dem Altar in der Nicolai-Kirche Elstorf)
Der Christus, den wir vor uns sehen, spricht für sich. Er hängt nicht, er schwebt. Schauen Sie ihn weiter an. Er spricht zu Ihnen, zu uns. Er spricht für mich: „ Wenn ich erhöht werde von dieser Erde, so will ich alle zu mir ziehen“.
Wer ist dieser Mensch
Was für eine Gestalt, was für ein Mensch! Ein Mensch, über den so viel wie über keinen anderen in der Welt geschrieben wurde und dessen Person doch bis heute Geheimnis geblieben ist. Albert Schweitzer hat im 19. Jh. Das Leben Jesu erforscht, der jüdische Theologe Shalom ben Chorin entdeckt den Juden Jesus als Bruder, und Papst Benedikt XVI. hat jüngst auch ein Jesus-Buch herausgebracht. Hinter allem steht die Frage: Wer war Jesus wirklich? Oder wie Johannes die Leute fragen lässt: „Wer ist dieser Menschensohn?“ In der Tat: Es ist ja nicht nur eine Frage der Wissenschaftler, sondern auch der Leute: der Filmemacher, der Herausgeber von Zeitschriften, der Musical-Schreiber. Es wäre ja nicht so interessant, immer wieder über Jesus zu schreiben, wenn es nicht auch unsere Frage wäre: Wer ist dieser? Schauen wir ihn doch an, diesen Christus am Kreuz und doch schon dem Kreuz enthoben. Fragen wir ihn: Wer bist du?
Komm, sieh und wandle im Licht
Er hat nie eine konkrete Antwort darauf gegeben. Leute, die ihn gefragt haben, ob er der Messias sei, hat er wieder weggeschickt mit dem Hinweis: Geht hin und seht doch selbst, was passiert: Blinde sehen, Lahme gehen… Und als er vom Hohenpriester gefragt wird, ob er der Sohn Gottes, des Messias, der Menschensohn sei, antwortet er doppelbödig: „Du sagst es“ oder: „Du sagst es“.
Uns gibt er auch keine Antwort, wie wir sie erwarten würden. Sondern er sagt uns heute: „Wandelt im Licht, solange ihr es habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle.“ Mit anderen Worten: Wer ich bin, das kannst du nicht theoretisch beantworten oder aus gebührender Distanz und weltanschaulicher Neutralität heraus beantworten; sondern wer ich bin, das kannst du nur in der Lebensgemeinschaft mit mir erfahren. Stell dich zu mir, stell dich unter das Kreuz. Du wirst deinen Weg finden, du wirst den Weg der Liebe gehen. Niemand zwingt dich. Du musst dich entscheiden. Eine kleine Weile ist das Zeitfenster offen. Zum Beispiel jetzt. Entscheide dich, wo du stehen möchtest: Im Licht oder in der Finsternis; im wahren Leben, das Ewigkeitswert hat, oder im Treiben der Welt, das dich ins schwarze Loch zieht; möchtest du unter dem Kreuz stehen oder lieber bei den Symbolen der Ehre (vgl. v43), der Macht und des Geldes? Du musst dich entscheiden, am besten jetzt, hier, solange das Licht noch bei dir ist. Nur in der Lebensgemeinschaft mit mir wirst du erfahren, wer ich bin.
Eigentlich ist das klar, dass wir nur in der Lebensgemeinschaft mit einem Menschen erfahren, wer er ist. Der Freund, die Freundin, fragt: „Wer bist du eigentlich?“ So fragt die eine den anderen, wenn sie ihn wirklich liebt; so fragt der eine die andere, wenn er auftaucht aus der Welt der Gefühle und ihm die Liebe durch den Kopf geht. „Wer ist dieser? Wer ist diese? Wer bist du eigentlich? Mitnichten allerdings eine Frage aus der Distanz, sondern eine Frage, die den anderen ganz verstehen, ganz in sich aufnehmen will. Darum gibt es auch keine Antwort vom Kopf her, sondern die Antwort vollzieht sich ein Leben lang immer mehr; die Antwort ist nur zu erleben in Gemeinschaft mit dem anderen; der Rest bleibt Geheimnis.
So ist das auch mit dem Menschensohn. Wer er ist, erfahren wir nur in der Gemeinschaft mit ihm; erfahren wir nur, wenn wir uns zu ihm, in sein Licht, unter sein Kreuz stellen. Selbstverständlich bleibt auch bei ihm ein Rest an Geheimnis.
Werde ein Kind des Lichts – ein Leben lang
Liebe Gemeinde! Wir sind ja heute Zeuge einer Entscheidung geworden. Denn soeben ist die kleine Josephine getauft worden. Damit haben Sie, liebe Eltern, Josephine ins Licht gestellt. Josephine kann sich noch nicht entscheiden. Aber Sie haben für sie entschieden, wie Sie auch sonst noch manche wichtige Entscheidung für sie treffen werden. Josephine steht im Licht, und Sie, die Paten, begleiten sie auf den ersten und auf den weiteren Schritten im Licht, so dass sie immer mehr ein Kind des Lichtes wird.
Lebensgemeinschaft mit Christus, sie beginnt in der Taufe, und sie vollzieht sich ein Leben lang. „Taufen dich in Jesu Namen. Er ist unsere Hoffnung. Amen.“ So heißt es in einem Tauflied. Er ist unsere Hoffnung, dass du deine Wege gehst mit ihm, dass du das Lied der Freude singst, dass du Worte des Lebens auf deinen Lippen trägst, dass du Brücken des Friedens baust, dass du der Macht der Liebe traust.
Du erfährst Christus in der Lebensgemeinschaft mit ihm. In dieser Lebensgemeinschaft wird er dich immer mehr zu sich heran ziehen. In seinem Licht wirst du ein Kind des Lichtes werden. Licht leuchtet. Das Licht erkennt man schon von weitem. Zumal wenn es ringsum dunkel ist. Zumal in der Nacht der Welt. So wird man auch dich erkennen, die du ein Kind des Lichts bist. So wird man auch dich erkennen, der du als Sohn des Lichts deine Wege gehst. An der Liebe wird man dich erkennen. In deiner Liebe wird man das Licht schauen.
An der Liebe wird man dich erkennen
Ich glaube, so hat Christus das auch gemeint, wenn er uns zu Kindern des Lichts machen will. Denn er hat ein Beispiel der Liebe gegeben. Nach eines langen Weges Last hat er dem Petrus die Füße gewaschen. Damit hat er ein Zeichen gesetzt, ein unübersehbares Zeichen der Liebe.
Wieso? Weil er, der Herr, es tat an seinem Diener. Der Diener wollte es nicht zulassen, er wollte seinem Herrn die Füße waschen, wie es sich gehört. Aber Jesus, der Herr, richtet sich nicht nach dem, was sich gehört, sondern nach dem Ruf der Liebe. Er, der Herr, wird zum Diener an Petrus, aus Liebe, und wäscht ihm die heißen und staubigen Füße. Am Ende sagt er: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Und: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ – Kinder des Lichts sind Kinder der Liebe, und die sind wir, wenn wir in seinem Lichte stehen. Denn von seinem Licht und von seiner Liebe geht eine ganze Kultur der Liebe aus. Und diese Kultur der Liebe erblüht dort, wo Chef und Mitarbeiter, wo Vorgesetzter und Untergebener sich gleichermaßen in den Lichtkegel Christi stellen. Da wird der Mensch als Mensch geachtet und nicht als ausbeutbare Ressource oder unnützer Kostenfaktor. – Die Kultur der Liebe erblüht dort, wo in Krankenhäusern der Patient nicht als zeitraubender Pflegefall angesehen wird, sondern wo er Zuwendung erfährt. Ich könnte die Reihe fortsetzen und noch viele Beispiele geben. Jesus hat ein Beispiel gegeben. Das reicht. Wir haben verstanden. Wir schauen auf sein Kreuz und sagen: „Herr wir bitten, komm und segne uns“.
Amen.