Im Lernprozess Jesu

Was sagen unsere kirchlichen Angebote über unsere Einstellung zu den Menschen aus, die den Veranstaltungen fern bleiben?

Predigttext: Matthäus 9,9-13
Kirche / Ort: Bestenheid, Grünenwört/Mondfeld (97877 Wertheim)
Datum: 4.02.2007
Kirchenjahr: Septuagesimae (70 Tage vor Ostern)
Autor/in: Pfarrer Jürgen Steinbach

Predigttext: Matthäus 9,9-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen , der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich aber, als er zu Tisch saß im Haus, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6, 6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Der Text und meine Fragen

1. Jesus ist auf dem Rückweg von einer Heilung nach Hause unterwegs. Zufällig (?) kommt er an einer Zollstation vorbei und trifft dort auf den Zöllner Matthäus. Ausdrücklich wird gesagt: Dort sah er einen Menschen sitzen. Wird damit betont, dass auch dieser Zöllner ein Mensch ist? Und wer sollte das in Abrede stellen? Jesus fordert ihn auf, ihm zu folgen. Matthäus tut es. 2. Jesus ist wieder zu Hause angekommen. Es hat sich offensichtlich herumgesprochen, was am Zoll passiert ist. Ob alle PredigthörerInnen wissen, was ein Zöllner damals war? Es kommen andere Zöllner. Und zwar ungeladen. Sie setzen sich an den Tisch und essen mit. Was mit einem Menschen beginnt, setzt rasch viele andere in Bewegung. Sie wollen auch da hin, wo ihr Kollege sich offensichtlich befindet. 3. Dieses Setting provoziert bei Mitgliedern der pharisäischen Bewegung die Frage: „Warum isst euer Lehrer mit Leuten, die betrügen und Unrecht tun?“ Eine berechtigte Frage, gestellt nicht an Jesus selbst, sondern an seine Jünger. Jesus, der das hört, antwortet mit einer Alltagsweisheit: Nicht die Gesunden brauchen ärztliche Hilfe, sondern die Kranken! Dieser Satz ist offenkundig wahr. Aber er beantwortet die Frage nicht. Das irritiert und fordert die Hörer heraus, die Verbindung zwischen Frage und Antwort zu suchen. 4. Jesus setzt mit seiner Antwort erklärtermaßen einen Lernprozess in Gang, den er mit einem Bibelzitat vorantreibt: „Geht nun weiter und lernt, was das heißt: ‚Erbarmen möchte ich, kein Opfer’“. (Hosea 6, 6) Die Bemühungen dieser Schriftauslegung werden nicht überliefert. Jesus hat jedenfalls seine Antwort gefunden: „Denn ich kam nicht, um die zu berufen, die gerecht handeln, sondern die, die Unrecht tun“. Wenn er einen Zöllner beruft und mit Zöllnern und Sündern zu Tisch sitzt, dann verhält er sich der Hl. Schrift gemäß. (Zitate aus: Bibel in gerechter Sprache) Im Text stecken mehrere Provokationen: - Jesu Interpretation weicht von der pharisäischen Mehrheitsmeinung ab. Er nimmt das Recht auf eine eigene Meinung in Anspruch. - Die „Zielgruppe“ Jesu sind nicht die Anhänger der pharisäischen Bewegung, die gerecht leben, sondern die von ihnen Abgelehnten: Menschen, die Unrecht tun. - Weil beide, Jesus und die Fragenden, ihre jeweilige Zielgruppenarbeit theologisch fundiert haben, kommen sie nicht auf einen Nenner. Für beide ist klar, wer Recht hat. Ein Kompromiss ist nicht möglich. Wie kann man da zusammen leben? - Was Jesus tut, steht seit der unmittelbar vorausgehenden Heilung eines gelähmten Menschen und dem Akt der Sündenvergebung (9, 3) unter dem Vorwurf der Gotteslästerung. Wie ist da noch eine offene Diskussion um Inhalte zu führen? Für die Predigt scheint mir wichtig zu sein: Um die Menschen und ihr Auftreten in diesem Text zu verstehen, müssen ihre Hintergründe zur Sprache kommen. Auch will ich der Aufforderung Jesu nachkommen, zu „gehen“ und zu „lernen“, was das Zitat aus Hos 6, 6 bedeutet. Dazu will ich mir das Buch des Propheten Hosea genauer anschauen.

Literatur:

Bibel in gerechter Sprache. - Göttinger Predigtmeditationen, 4. Vierteljahresheft 2006, 61. Jahrgang, Heft 1, S. 96-102. - Pastoralblätter, Februar 2007, S. 98-103. - Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe V, S. 98-102 EKK 1 / 2, S. 40-45.

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Die Frage

Haben Sie eigentlich verstanden, worum hier gestritten wird? Es sind zwei Positionen, die sich unversöhnlich gegenüber stehen. Auf der einen Seite steht Jesus, auf der anderen Seite Menschen, die der pharisäischen Bewegung angehören. Dazwischen befinden sich die Zöllner. Wie kann man denen als glaubender Mensch angemessen begegnen? Das ist die Frage, die im Raum steht.

Die Zöllner

Was heutzutage ein Zöllner tut, das wissen die meisten. Er kontrolliert, welche Waren in ein Land ein- und ausgeführt werden. Zöllner sind bei ihrem jeweiligen Staat angestellt. Zur Zeit Jesu war das ähnlich. Ein Zöllner kontrollierte, welche Waren in eine Stadt ein- und ausgeführt wurden. Und er verlangte dafür Zoll. Auch er war beim römischen Staat angestellt und diesem verantwortlich. Das Problem war, dass der römische Staat eine Besatzungsmacht war, der mit seiner Armee das Land und seine Bewohner beherrschte. Die vielen Soldaten kosteten viel Geld und das versuchte man mit allen Mitteln aus dem besetzten Land herauszuholen. Unter anderem mit Zöllen auf alles, was gehandelt wurde. Die Römer taten das nicht selbst, sondern verkauften die Rechte an den Zollstationen an Einheimische. Diese Subunternehmer mussten nun die Pacht erwirtschaften und, da sie auch von etwas leben mussten, schlugen auf den abzuliefernden Sockelbetrag das, was sie als Profit in die eigene Tasche stecken wollten. Nach oben waren die Grenzen offen. Das machte die Zöllner auch so verhasst, denn sie wollten nicht nur irgendwie über die Runden kommen, sondern sie wollten gut leben. Sie betrachteten ihren Aufschlag auch als eine Art Entschädigung dafür, dass die meisten Menschen sie hassten. In den Augen ihrer Landsleute waren sie so ziemlich die Letzten, mit denen man sich abgab. Und wer es vermeiden konnte, der kam mit ihnen nicht in Berührung: Keine Einladungen, keine Freundlichkeiten. Man ließ sie spüren, wofür man sie hielt: Verräter am eigenen Land.

Die pharisäische Bewegung

D i e religiöse Laienbewegung innerhalb des Judentums war damals die pharisäische Bewegung. Ihre Anhänger waren meist Handwerker oder Bauern. Was sie auszeichnete war, dass sie die Bibel studierten. Sie versuchten Gottes Willen darin zu erkennen und ihr Leben danach auszurichten. Dazu gehörte, dass sie sich von all dem fern hielten, was sie für unrein hielten. Unrein, das waren auch die Zöllner. Weil sie mit den Römern zusammen arbeiteten und weil sie sich auf Kosten ihrer Landsleute bereicherten durch unverschämt hohe Zölle. Keiner von ihnen wäre auch nur auf die Idee gekommen, sich mit einem Zöllner sehen zu lassen, geschweige denn mit ihm an einem Tisch zu sitzen, gemeinsam zu essen und zu trinken.

Jesus

Für Jesus war die Ernsthaftigkeit dieser Glaubensbewegung eine große Herausforderung. Wie sie versuchte er alles, was er tat, aus der Hl. Schrift zu begründen. Und er kam dabei oft zu ganz anderen Schlussfolgerungen wie sie. Dabei beriefen sich beide auf Gottes Wort. Beide waren überzeugt: Wir haben Recht.

Zwischen den Zeilen gelesen

In der Streitfrage „Wie kann man Zöllnern als glaubender Mensch angemessen begegnen?“ setzt Jesus zunächst auf den gesunden Menschenverstand. Er zitiert eine Alltagsweisheit. Sie heißt: Nicht die Gesunden brauchen ärztliche Hilfe, sondern die Kranken! Das ist so offenkundig wahr, dass dagegen schwer etwas zu sagen ist. Vor allem, wenn man hört, was in diesem Satz mitschwingt: Ihr aus der pharisäischen Bewegung, ihr seid doch mit den Gesunden zu vergleichen. Die Kranken, das sind die andern. Seid doch froh, dass ihr nicht krank seid, wie jene. Oder: Seid froh, dass ihr keinen Arzt braucht. Jesus wendet hier einen rhetorischen Kniff an: Er versucht die Fragenden auf seine Seite zu ziehen, indem er ihnen ihre eigene Lage als erstrebenswert darstellt. Ihr seid gesund, jene krank. Da liegt es doch auf der Hand, dass ich mich um die anderen kümmere. Wenn ich das tue, dann ist das keine Entscheidung gegen euch. Aber ihr braucht mich einfach nicht.

Die Zöllner – kranke Leute

Eigentlich bleibt den Pharisäern nichts anderes übrig, als auf seine Argumentation einzugehen. Und wenn sie sich gefragt haben: „Woran kranken denn die Zöllner“, dann mussten sie nur ihr eigenes Verhalten jenen gegenüber betrachten: Die Zöllner, sie werden geschnitten, sie werden wie Aussätzige behandelt. Keiner will etwas mit ihnen zu tun haben. Und wenn man auf einen trifft, dann wechselt man die Straßenseite, als sei er ansteckend.

Nun hatten die Pharisäer sicher auch gesehen, dass viele Zöllner eine Sehnsucht danach haben, heil zu sein. In Beziehungen zu leben, die gelingen. Dazu zu gehören zu einer Gemeinschaft. Wertgeschätzt zu werden. Wie sonst sollten sie sich erklären, dass so viele Jesus in das Haus gefolgt waren und sich selbst zum Essen eingeladen hatten. Sie haben sich nach Anerkennung gesehnt. Nicht nach Anerkennung dessen, was sie in ihrem Beruf leisten, sondern nach Anerkennung als Mensch. Als Mensch, der Hoffnungen und Sehnsüchte hat. Sie haben gespürt, dass Jesus sie als Menschen betrachtet. Nicht als Unmenschen, die man bekämpfen muss.

Konträre Schlussfolgerungen

Die Pharisäer haben Vieles von dem gesehen. Und sie reagierten mit einer harten Haltung. Sie schotteten sich ab, machten die Luken dicht und tauchten ab. Sie waren überzeugt: Wir sind auf dem richtigen Weg. Die andern müssen sehen, wie sie an Bord kommen. Bei uns, da gibt es Regeln, an die müssen sie sich halten. Und dann können sie auch dazu gehören. Das klingt in sich konsequent. Jesus aber geht einen anderen Weg: Er bringt das Erbarmen ins Spiel und wirbt mit einem Satz aus dem Propheten Hosea um seine Sicht der Dinge. Warum ausgerechnet Hosea? Weil dieser Prophet etwas aufarbeitet, das ihm wichtig ist.

Das Einsehen Gottes

Hoseas großes Thema ist die Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Die Geschichte dieser Zuwendung beginnt mit der Untreue, die Israel Gott gegenüber an den Tag legt. Gott ist zornig darüber und reagiert darauf zunächst mit einem schrecklichen Gericht. Bis er selbst einem Sinneswandel unterliegt. Das Leben von Hosea ist ein Spiegelbild für diese Geschichte des göttlichen Sinneswandels: Aus seiner Ehe mit einer Prostituierten, Sinnbild für Untreue, gehen Kinder hervor. Die Töchter haben bedeutungsvolle Namen wie Lo-Ruhama, die Nicht-Begnadigte, und Lo-Ammi, was bedeutet: Nicht-mein-Volk. Die Namen dieser Kinder drücken das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk aus. Die Untreue, die sich im Abfall Israels von seinem Gott ausdrückt, gebiert Kinder, die für alle Welt sichtbar machen: Dies ist nicht mehr mein Volk, es hat sich von mir abgewendet und läuft anderen Göttern nach. Aber, und das ist das Hoffnungsvolle an dieser Geschichte, Gott will das zerrüttete Verhältnis nicht so stehen lassen, wie es ist. Weil er weiß, dass das Volk selbst nicht umkehren kann, sagt er (Hosea 11, 7.8): Mein Volk ist müde, sich zu mir zu kehren und wenn man ihnen predigt, so richtet sich keiner auf. Wie kann ich dich preisgeben, Ephraim, und dich ausliefern, Israel? Wie kann ich dich preisgeben…? Mein Herz ist anderen Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Mit anderen Worten: Wenn Du es aus eigenem Antrieb nicht schaffst umzukehren, dann gehe ich dir entgegen. Ich werde dich wieder zu meinem Volk machen und man wird euch „Kinder des lebendigen Gottes“ nennen. (Hosea 2, 1) Wenn Jesus den Propheten Hosea zitiert, erinnert er an all diese Zusammenhänge. Bei bibelkundigen Menschen, wie es die Angehörigen der pharisäischen Bewegung waren, kann er die Kenntnis dieser Zusammenhänge voraussetzen. Sie gehören zum Grundbestand ihres Glaubens. Und der spricht in diesem Punkt gegen die geradlinige pharisäische Haltung. Denn wenn Gott selbst sich eines anderen besinnen kann, sollte das bei den Menschen, die an ihn glauben, ebenfalls möglich sein.

Jesus handelt Gott ent-sprechend

Jesus zieht aus dem Verhalten Gottes, das er im Buch des Propheten Hosea findet, folgende Schlüsse: Gott ging damals auf das ganze Volk zu, das ohne Ausnahme ein Volk von Sündern war. Er hat gesehen, dass diese aus ihren Zwängen, in denen sie sich befanden, nicht herauskamen. Deshalb ging er auf sie zu. Und Jesus handelt nun Gott ent-sprechend: Auch er sieht, dass die Zöllner in einer Lage sind, aus der sie sich selbst nicht befreien können. Aus welchen Gründen auch immer. Jede Predigt verpufft. Aber wie kann er sie aufgeben und dem Lauf der Dinge überlassen? Sein Herz ist anderen Sinnes, alle seine Barmherzigkeit ist entbrannt. „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“

Missionserfolg

Für die Zöllner und alle anderen Sünder ist das ein großer Befreiungsschlag. Nicht dass der mit einem Mal alles verändert. Nur ein einziger Zöllner wird zu einem Jünger Jesu. Alle anderen kehren an ihre Arbeit zurück. Ist die Mission Jesu damit missglückt? Gemessen an zählbaren Bekehrungserlebnissen ist sie das. Wenn man seine Mission daran misst. Jesus selbst tut das nicht. Er legt lediglich einen Weg fest, den er einschlägt. Einen Weg, den er durch sein Bibelstudium findet. Den Weg des Erbarmens mit den Sündern. Diesen Weg hat er zu gehen. Davon hat er zu reden, gegen alle Widerstände – auch gegen die Mehrheitsmeinung der pharisäischen Bewegung. Ob der Weg des Erbarmens Massenbekehrungen auslöst, das liegt nicht in seiner Hand. Die Folgen seiner Mission bleiben unkalkulierbar. Trotzdem bleibt für Jesus die Reihenfolge unumkehrbar: Gottes Erbarmen geht vor. Opfer werden dadurch eventuell ausgelöst. Bedingung sind sie nicht.

Gehen und Lernen

Ich weiß nicht, wie es Ihnen heute Morgen mit diesen Sätzen geht. Ob Sie zustimmen, ob Sie diese Sätze ratlos oder gar wütend machen. Ich sage und höre sie vor dem Hintergrund der Bemühungen um Menschen, die Angebote in unserer Gemeinde nicht in Anspruch nehmen. Und ich höre sie als ermutigende Sätze, durch die sich viele Perspektiven eröffnen. Menschen, die offenkundig Unrecht tun, wie die Zöllner, die gibt es in unserer Gemeinde nicht. Wenigstens kenne ich keine. Aber es gibt viele Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, den Weg in unsere Veranstaltungen und Gottesdienste nicht auf sich nehmen. Die sich zwar zu unserer Gemeinde zugehörig fühlen, aber an unserem Leben nicht teilnehmen. Oft sind wir dabei, von ihnen Opfer zu verlangen, z. B. in dem wir erwarten, dass sie sich an einen bestimmten Stil anpassen, den wir selbst mögen. Ich denke, es ist unsere Aufgabe, z.B. in den Ältestenkreisen und Kirchengemeinderäten zu überlegen, wie sich das in unseren Angeboten niederschlägt, dass wir Erbarmen haben mit ihnen. Erbarmen mit den Kindern, den Jugendlichen, den Familien mit Kindern, den Alleinlebenden, den Kranken.

Das ist ein Lernprozess, den Jesus nicht nur den Pharisäern auf den Weg gegeben hat: „Darum geht und lernt, was das heißt: »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer«“.

Amen.

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