Raus aus der Dunkelheit

Seiner eigenen Lebenssehnsucht vor Gott einen Namen geben

Predigttext: Lukas 18,31-43
Kirche / Ort: 66989 Nünschweiler
Datum: 18.02.2007
Kirchenjahr: Estomihi
Autor/in: Pfarrerin Anke Andrea Rheinheimer

Predigttext: Lukas 18,31-43 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und mißhandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war. 35 Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, daß ein Blinder am Wege saß und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre 37 Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, daß ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Am Sonntag vor der Passionszeit begegnet uns nach der Perikopenordnung ein Doppeltext, der sich rein äußerlich aus zwei sehr unterschiedlichen Textteilen zusammensetzt: die dritte Leidensankündigung bei Lukas und die Wundergeschichte von der Heilung des blinden Bettlers in Jericho. Die innere Brücke zwischen den beiden Textteilen liegt in der verwendeten Metaphorik von Sehen und Blindheit; Unverständnis und begreifendem Verstehen. Da sind auf der einen Seite die unverständigen, „blinden“ Jünger, die mit der Voraussage von Jesu Leiden nichts anfangen können; und da ist bei Lukas gleich danach der blinde Bettler, der „sehenden Herzens“ in Jesus von Nazareth den verheißenen Davidssohn erkennt und ihm mit offenen Augen nachfolgt. In dieser Spannung bewegt sich auch meine Predigt. Die Heilung des Blinden, die Wendung seiner im wahrsten Sinnes des Wortes „aussichtslosen“ Situation, geschieht zeichenhaft, damit auch die unverständigen Jünger und die beobachtende Menge versteht und begreift, welchen Weg Gott mit Jesus geht. Es ist ein Weg, zu dem auch das Leiden auf dem Weg zur Verherrlichung dazugehört. Für den Evangelisten Lukas bilden Passion und Ostern eine unauflösliche Einheit. Ausgehend von der Lebenswendung des Blinden in Jericho, der von Jesus gefragt wird: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“, wird die Predigt gerahmt von der Frage nach unseren innersten Lebenssehnsüchten und Wünschen, unserem tiefen, inneren Wollen.

Lieder:

„Mir ist Erbarmung widerfahren“ (EG 355) „Dass du mich einstimmen lässt“ (EG 597, Anhang Baden, Elsass und Lothringen, Pfalz)

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Liebe Gemeinde,

Unsere Lebenssehnsüchte – und wie wir damit umgehen

Stellen sie sich vor, sie hätten einen Wunsch frei. Was würden sie sich wünschen? Was ist ihr größter Wunsch? Was gibt es, das sie so sehr beschäftigt, dass es ihre sehnsüchtigste Hoffnung ist? Je nach Lebensalter und Lebenssituation mögen unsere Wünsche verschieden sein. Es mögen bei manchem von uns materielle Dinge sein, die sich jemand wünscht. Es mag bei vielen von uns vielleicht aber auch ein viel umfassenderer Wunsch sein, eine ganz persönliche, tiefe Lebenssehnsucht, der wir in diesem Moment einen Namen geben.

Was ist unser größter Wunsch? Und wie würden wir damit umgehen, wenn er tatsächlich in Erfüllung geht? Oft ist es mit großen Lebensträumen so, dass es viel Zeit braucht, bis sie sich erfüllen, dass man viel Geduld und einen langen Atem haben muss, um zum Ziel zu kommen. Oft muss man einen Lebenstraum auch gegen äußeren Widerstand verteidigen, geht durch Phasen der Mutlosigkeit und Enttäuschung. Ich muss kämpfen darum, auch wenn andere mich entmutigen, auch wenn andere versuchen, mir diesen Wunsch auszureden, wenn sie sagen: Vergiss es, daraus wird nichts! Wenn ein Lebenstraum dann aber wider Erwarten und trotz aller Enttäuschungen doch in Erfüllung geht, dann ist es manchmal gar nicht so einfach, diese Erfüllung auch wirklich dankbar anzunehmen, sie ins eigene Leben zu ziehen und nicht mit Altgewohntem zuzudecken. Dann steht man manchmal in der Gefahr, zu leicht darüber hinweg zu gehen und den erfüllten Wunsch schon bald als selbstverständlich zu nehmen.

Lebenswunsch und Lebenswendung des blinden Bettlers in Jericho

Ein Lebenswunsch, der in Erfüllung geht; eine ganz tiefe Sehnsucht, die beantwortet wird – darum geht es auch in unserem heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium. Das, genau das, die Erfüllung seines großen Lebenswunsches, hat der blinde, im Lukasevangelium namenlose Bettler, den Markus Bartimäus nennt, in Jericho erlebt. Und diese Erfüllung kam völlig unerwartet für ihn, durch eine einzige, lebensentscheidende Begegnung.

Dieser Blinde am Wegesrand in Jericho war im wörtlichen und übertragenen Sinn an den Rand gedrängt, mit Behinderung geschlagen, aus dem Erwerbsleben aussortiert, sozial marginalisiert und dadurch auch psychisch belastet. Aber in ihm war immer noch ein großes Interesse an seiner Umwelt lebendig, auch wenn er sie nicht sehen konnte. In ihm war auch ein großer Veränderungswille lebendig, ein innerer Ruf, ein stummer Schrei war in ihm: Ich will raus aus der Dunkelheit! Ich will die Welt noch einmal ganz neu wahrnehmen! Ich will sehen und leben! Das ist seine größte Lebenssehnsucht. Im entscheidenden Moment gibt er diesem stummen Schrei eine Stimme: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“, ruft er. Er lässt sich auch nicht abhalten, als die Umstehenden ihn zum Schweigen bringen wollen und ihn anfahren.

Der blinde Bettler schafft es, seine Leidensrolle zu durchbrechen, herauszutreten aus seiner im wahrsten Sinne des Wortes „aussichtslosen“ Lebenssituation. Sein Schrei um Hilfe ist getragen vom Mut der Verzweiflung: Mut, sich gegen die anderen durchzusetzen, die ihm das Rufen verbieten wollen; auch Mut sich selbst gegenüber, die Scheu zu überwinden, den Mund aufzumachen, alles auf eine Karte zu setzen. Noch einmal ruft er mit aller Kraft: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“

Er, der Blinde, sieht mit seinem Herzen, dass dieser Jesus von Nazareth ihm helfen kann. Er erkennt in ihm den Davidssohn, den von Gott gesandten Retter, geboren im jüdischen Volk. Und er wird nicht enttäuscht. Die Ansprache Jesu gibt ihm schließlich die entscheidende Motivation, seinen größten Wunsch zu benennen. Jesus sagt zu ihm: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Sprich sie aus, deine größte Lebenssehnsucht, fasse sie in Worte, lass sie konkret werden, stell sie vor dich hin und teile sie mit, schrei sie heraus, wenn du willst, denn sie gehört zu dir.

Der Blinde tut, was Jesus sagt. Er benennt, was er vorher nur als innerlichen Wunsch und stummen Schrei in sich getragen hat: „Herr, dass ich sehen kann“. Was die anderen sagen, ist in diesem innigen Moment der Begegnung mit Jesus nicht mehr wichtig. Nur er selbst zählt, er und sein Lebensschicksal, dessen ganze Tragik er frei und offen benennen kann. Ein nie gekanntes Vertrauen und eine nicht zurückzudrängende Hoffnung haben ihm den letzten Schub gegeben. Dieses Vertrauen hat ihn nicht enttäuscht. Jesus, dessen Erbarmen er erfleht hat, enttäuscht ihn nicht. Er sagt zu ihm: „Sei sehend. Dein Glaube hat dir geholfen!“

Der Blinde geht in ein neues Leben, in dem er leibhaftig sehen kann, was er mit dem Herzen schon geglaubt hat. Er steht nicht mehr am Rand, im Schatten der „Normalen“, Gesunden, Sehenden, die ihn bisher meist übersehen haben. Er muss nicht mehr aufschauen zu denen auf der lichten, hellen Seite des Lebens, die er aus seiner Dunkelheit heraus immer beneidet hat. Er geht hinein in ein neues, Licht erfülltes Leben durch diese tiefe Erfahrung in der Begegnung mit Jesus, die sein Leben verändert hat. Seine Dunkelheit, die ihn vom Leben getrennt hat, ist aufgebrochen, er hat Vertrauen gefasst und dabei im entscheidenden Moment die entscheidende Hilfe bekommen. Sein Glaube, sein inneres Licht, hat ihm die Spur gewiesen, hat ihm geholfen, sich nicht mehr als hilflos und abhängig zu erfahren, sondern das Leben neu wahrzunehmen, neu sehen zu lernen.

Für den Blinden war der erste Schritt heraus aus der Leidensrolle, dass er seiner eigenen Lebenssehnsucht vor Gott einen Namen geben hat, sie ausgesprochen hat. Ja, er hat sie sogar laut herausgeschrieen. Dieser verzweifelte Schrei, „Erbarme dich meiner!“ – das war in diesem Moment die Gestalt seines Glaubens – kein intellektueller Habitus, sondern ein ganz menschlicher, Gott aus purer Lebensnot anflehender Akt. Wir kennen diese Worte bis heute als einen der tiefsten und innigsten Gebetsrufe der christlichen Liturgie: „Kyrie eleison – Herr, erbarme ich!“ Und mit diesem Ruf war das Entscheidende offenbar schon geschehen. Alles andere schließt sich daran an, unerwartet und überwältigend für den blinden Mann. Er findet das Erbarmen, nach dem er sich gesehnt hat. Seine große Lebenssehnsucht erfüllt sich, er sieht die Welt mit neuen Augen. Für ihn auch der Beginn eines neuen Weges, des Weges in der Nachfolge Christi.

Die blinden, unverständigen Jünger und der verstehende Blinde, der in Jesus den verheißenen Messias und leidenden Gottesknecht erkennt

Im Herzen sehend war der blinde Bettler von Jericho schon vorher, denn er erkennt in Jesus ohne Vorerklärung den verheißenen Messias, den Davidssohn, den Knecht Gottes, der durch sein Leiden Erlösung schafft. Und damit hat der Blinde mehr gesehen und verstanden als seine sehende Umwelt, mehr sogar als die Jünger, die gegenüber dem angekündigten Leiden Jesu unverständig und blind geblieben waren.

Der Geschichte von der Heilung des Blinden in Jericho ist die dritte Ankündigung des Leidens Jesu direkt vorangeschaltet – und das nicht zufällig. Die Jünger begreifen (noch) nicht, dass die Passion ein notwendiger Teil der Heilsgeschichte ist. Sie verstehen nicht, dass sich gerade im Leiden die unangefochtene Verbundenheit des Menschensohns mit Gott zeigt, dass eben darin die alten Prophetenworte zur Erfüllung kommen. Die Jünger erkennen zwar die Messianität Jesu, aber sie sind blind für die Notwendigkeit, Freiwilligkeit und Vorbildhaftigkeit des Leidens Jesu, das Teil von Gottes Heilsweg ist.

Dem gegenüber sieht und versteht der Blinde, lange bevor er wieder leibhaftig sehen kann, das Heil, das Gott der Welt in Jesus Christus geschenkt hat. Sehenden und verstehenden Herzens vertraut er sich mit seinem Leben Jesus an. Der Lichtstrahl, der durch Jesus in sein Leben fällt, macht ihn fähig, weiter zu sehen als die Jünger und die Menge um ihn herum. Seine Heilung geschieht zeichenhaft, damit dann auch das Volk hinsieht und versteht, welchen Weg Gott mit Jesus Christus zum Heil der Welt geht. Dieser Weg ist ein Weg, der über Jericho nach Jerusalem führen wird, hindurch durch die Leidenszeit, hinein in die Herrlichkeit. Kreuz und Auferstehung gehören zusammen, Passion und Ostern bilden eine unauflösliche Einheit. Der Sinn dieser Rede wird sich den dafür blinden Jüngern erst nach Ostern erschließen; der Blinde in Jericho aber hat mit seinem sehenden und gläubigen Herzen bereits jetzt erkannt und verstanden.

Unsere blinden Flecken und der Lichtstrahl Jesu Christi

Manchmal verstehen wir Menschen auch erst im Nachhinein. Manchmal befinden wir uns in einer selbst erschaffenen Dunkelheit, in der wir uns irgendwie eingerichtet haben, sind blind für die tieferen Wahrheiten des Lebens. Manchmal erscheint es uns bequemer, nicht genau hinzusehen, vor allem, wenn es um Leiden geht, das wir nicht an uns heranlassen wollen. Wir sind blind für die ganze Wahrheit des Lebens und des Glaubens, in denen auch das Leiden nicht ausgespart bleibt. Dann brauchen auch wir einen Anstoß von außen, einen Lichtstrahl, der unsere innere Blindheit aufbricht, der uns lehrt, hinzuschauen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, unser Leben und auch unseren Glauben neu wahrzunehmen. Ein kurzer Stoßseufzer kann ein erster Schritt dazu sein, den Kontakt mit Gott wieder aufzunehmen.

„Erbarme dich meiner“ – mehr brachte der Blinde in Jericho im ersten Moment nicht über die Lippen. Aber damit war der entscheidende Schritt getan. Vor Jesus kann er seinen tiefsten Lebenswunsch benennen und bekennen, ohne Angst und ohne Scheu. Jesus nimmt ihn wahr als ganzen Menschen, mit seiner getrübten Leiblichkeit und seinem tiefen, inneren Vertrauen.

Vor dem Sehen kommt in der Geschichte das Gesehenwerden, das Wahrgenommenwerden. Leiden wird wahrgenommen, angeschaut, benannt. Das zurückliegende Leiden des blinden Bettlers, wie auch das bevorstehende Leiden Jesu. Es ist Teil des Weges in der Nachfolge, die lebenswendend ist, das Leben des blinden Bettlers verändert, das Leben des Zöllners Zachäus verändert, dessen entscheidende Lebenswende uns bei Lukas unmittelbar danach erzählt wird. Es ist gewandeltes Leben im Vertrauen auf Jesus Christus, im Wissen um seine Passion und im Glauben an seine Auferstehung. Er schaut uns an, er nimmt uns wahr mit unserer Lebensgeschichte, ihren Licht- und Schattenseiten, mit unseren Lebenssehnsüchten und tiefen, inneren Wünschen. Vor ihm haben sie Raum, vor ihm dürfen sie ausgesprochen und benannt werden, im Vertrauen auf sein Erbarmen. Schon ein kurzes Gebet ist ein Schritt auf ihn zu, der unser Leben verändern kann; ein Angebot, durch das wir das Leben mit neuem Blick wahrnehmen können.

Der blinde Bettler in Jericho aus der biblischen Geschichte hat uns heute morgen dazu Mut gemacht. Wie die Jünger und die Menge damals können wir von ihm lernen, nicht nur zu vertrauen auf das, was unsere Augen sehen, sondern auch auf das, was unser Herz sieht und erkennt, erhofft und glaubt: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“

Amen.

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