Entdecke die Möglichkeiten – oder: Die andere Dimension des Lebens
Es lohnt sich, auf die Augenblicke eines „Kairos“ im Leben zu achten und damit umzugehen
Predigttext: Johannes 8, 21-30 (Übersetzung: Gute Nachricht Bibel)
21 Jesus sagte noch einmal zu ihnen (den Juden): »Ich werde fortgehen. Dann werdet ihr vergeblich nach mir suchen und in eurem Unglauben zugrunde gehen. Wo ich hingehe, dorthin könnt ihr nicht kommen.« 22 Die Leute meinten: »Wenn er sagt: 'Wo ich hingehe, dorthin könnt ihr nicht kommen' - heißt das, dass er Selbstmord begehen will?« 23 Jesus antwortete: »Ihr seid von hier unten, aber ich komme von oben. Ihr gehört zu dieser Welt, aber ich bin nicht von dieser Welt. 24 Ich habe es euch ja gesagt, dass ihr in eurem Unglauben zugrunde gehen werdet. Ich bin der, an dem sich alles entscheidet. Wenn ihr das nicht glauben wollt, werdet ihr in eurem Unglauben zugrunde gehen.« 25 »Du? Wer bist du denn?« fragten sie ihn. Jesus antwortete: »Was rede ich überhaupt noch zu euch? 26 Ich hätte zwar vieles über euch zu sagen und allen Grund, euch zu verurteilen; aber der, der mich gesandt hat, steht zu seinen Zusagen; und ich sage der Welt nur das, was ich bei ihm gehört habe.« 27 Sie verstanden nicht, dass Jesus vom Vater sprach. 28 Deshalb sagte er zu ihnen: »Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, werdet ihr es begreifen: Ich bin der, an dem sich alles entscheidet. Dann werdet ihr auch erkennen, dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was der Vater mich gelehrt hat. 29 Er, der mich gesandt hat, steht mir zur Seite und lässt mich nicht allein; denn ich tue stets, was ihm gefällt.« 30 Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn.Exegetisch-theologische Überlegungen
Der Text ist aus einer Insidersicht heraus geschrieben. Die Trennung von der Synagoge ist längst geschehen. Die scheinbaren Adressaten der Jesusworte (die Juden) sind nur noch Stereotypen und bezeichnen im Grunde alle „Ungläubigen“. Siegfried Schulz (NTD Bd 4; Göttingen³ 1978) weist in seinem Kommentar bereits darauf hin, dass der Dualismus „oben-unten“ aus der Zeit vor Johannes stammt. Im Zentrum steht nun Christus, in dem die himmlische Welt die Erde berührt. Jesus Christus ist der Präexistente, in dem das Reich Gottes „schon jetzt, aber noch nicht vollständig“ (präsentische Eschatologie) erlebbar ist. Nicht der Dualismus der Gnostiker wird bestärkt (hier die Welt als Jammertal, und später im Himmel erst das wahre Leben), sondern „das Wort wurde Fleisch“. Das zeigt sich auch daran, dass anders als bei den Synoptikern nicht „etwas mit Jesus geschieht“, sondern Christus souverän „ich bin es“ sagen kann. Die „ich bin – Worte“ des Johannes werden in Vers 28 verdichtet. Jürgen Becker (ÖTK zum NT Bd. 4/1; Gütersloh; 1979) arbeitet treffend heraus, dass in dem Abschnitt Offenbarung und Unglaube aufeinander prallen (4mal, nämlich: 21-22b; 23f-25a; 25b-27; 28-30), ohne dass es zu einem inhaltlichen Fortschritt kommt. Leben ist nur in der Konzentration auf Christus möglich, alle anderen erwartet der Tod. Die Wiederholung dieses Faktums zeigt auch, dass Glaube an Christus eben weit mehr ist als ein intellektuelles Verstehen. Die Ungläubigen können nicht von sich aus Christus entschlüsseln. Ihre Versuche scheitern, und Christus selbst bricht seine Versuche letztlich in ungewöhnlich unwirscher Weise ab (V 25b). Sein Gegenüber hat keine Chance, die angebotene Brücke zu Gottes Reich (oder die ausgestreckte Hand) zu erreichen, da sie gefangen bleiben in einem rein irdischen Denken, Fühlen und Handeln. Der Hinweis auf die noch ausstehende „Erhöhung“ (siehe auch Phil. 2,9) durch Passion, Kreuzigung und Auferstehung ist im Kontext des Abschnittes nur eine Unterstreichung des Wesentlichen, denn natürlich ist dies für Johannes bereits geschehen. Darauf weist auch der Vers 30 hin, der nur unter dieser Prämisse Sinn macht. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts bleibt: Wir leben wie Paul Tillich es ausgedrückt hat „auf der Grenze“. Diese Welt ist nicht von Gott verlassen, und es lohnt sich, mit mehr zu rechnen als dem, was scheinbar diese Welt begrenzt. Im Glauben an Christus können Menschen eine Dimension des Seins erschließen, die die Möglichkeiten in dieser bis in die andere Welt erweitert. Dieser Glaube bleibt Geschenk, aber es lohnt sich damit zu rechnen, offen zu sein und auf die Augenblicke eines „Kairos“ im Leben zu achten und damit umzugehen.Zur Predigtsituation
Der Text passt gut zur Passionszeit. Was noch kommt, ist schon bekannt, aber das Osterfest steht noch aus. Innehalten, sich auf das Wesentliche des eigenen Glaubens zu besinnen, sich zu öffnen für die Möglichkeiten, die im Alltag nur all zu oft verdrängt werden, ist gefordert. Ich schreibe für eine dörfliche Situation einer Kirchengemeinde mit rd. 4300 Gemeindegliedern in 5 Ortschaften. Die Konfirmanden werden im GD eine große Gruppe stellen. Ich spreche sie an, aber ich stelle sie bewusst nicht ins Zentrum meiner homiletischen Überlegungen, da um diesen Sonntag herum ein Jugendgottesdienst und ein Familiengottesdienst gruppiert sind. Ich rechne mit etwa 50 Erwachsenen und 30 Jugendlichen, die gemeinsam feiern werden. Zwei Alternativen für die Predigt - Was wäre eigentlich, wenn Jesus nur ein Mensch gewesen wäre, wie z.B. Martin Luther. In einer Predigt könnte in einem fiktiven Gespräch erzählt und diskutiert werden, wie sich der christliche Glaube in Luft auflösen würde, wenn Christus nicht im Zentrum steht. - In Gemeinden, wo islamische Kräfte aktiv sind, wo es nötig ist, zu einem ehrlichen und transparentem Dialog zu kommen, könnte der präexistente und erhöhte Christus dem Jesus des Koran gegenüber gestellt werden, um die eigene christliche Position zu schärfen. Hier bietet die Handreichung der EKD „Klarheit und gute Nachbarschaft“ (EKD Texte Nr. 86 ; 2006) gute Ansätze.Lieder:
Ich wähle nicht die klassischen Passionslieder, sondern z.B. „Holz auf Jesu Schulter“ (EG 97), „Korn, das in die Erde“ (EG 98), „All Morgen ist ganz frisch und neu“ (EG 440), „Vertraut den neuen Wegen“ (EG 395), „Gott liebt diese Welt“ (EG 409).Liebe Gemeinde!
„Entdecke die Möglichkeiten!“ Ein großes Möbelhaus aus Schweden hat diesen Satz populär gemacht. Entdecke die Möglichkeiten, diesen Satz möchte ich Ihnen und Euch im Blick auf unseren Predigttext ans Herz legen.
Johannes, der diese Szene aufschreibt, will zeigen, dass es gute Gründe gibt im Leben hier und jetzt mit mehr zu rechnen als dem, was „man“ für „normal“ hält. Jesus kündigt hier seinen Abschied an. „Ich werde weg sein“, sagt er. „Und ihr, ihr werdet mir nicht folgen können.“ Die Zuhörer verstehen nicht: „Will er sich umbringen,“ fragen sie ihn und meinen die Frage nicht ernst. Aber sie verstehen nicht. Sie können nicht verstehen, weil sie nicht mit mehr rechnen, als dem, was zu ihrer alltäglichen Welt dazu gehört.
Das Ergebnis auf den ersten Blick ist dann: Jesus ist für uns weg! Seine Person aus Fleisch und Blut ist weg! Nicht selbst umgebracht hat er sich, aber wohl gewusst, dass das andere schon sehr schnell erledigen werden. Und noch unverständlicher: Das nennt Johannes „erhöht werden“. Ich kann ihn nicht hier auftauchen lassen. Jesus Christus erscheint nicht auf Stichwort und auch nicht wenn wir alle zusammen beten. Wir wissen nur: Sein Körper wurde auf furchtbare Weise umgebracht.
Übrigens: Das ist für Muslime undenkbar. Sie kennen Jesus im Koran wohl als Propheten wie Abraham, aber so ein Mann Gottes, der kann doch nicht umgebracht werden, das hieße ja nach Muslimischer Vorstellung: Gott kann seine Leute nicht schützen, unmöglich! Und die Frage kann man ja stellen: Wäre es denn nicht viel wirkungsvoller gewesen, wenn Jesus noch da wäre? Wenn er einfach auf wunderbare Weise entkommen wäre und ab und zu bei uns hier auftauchen könnte? Was taugt denn ein Glauben, wo die wichtigste Person gleich am Anfang brutal umgebracht wird?
Jesus selbst gibt hier die Antwort: „Ihr alle,“ sagt er, „ihr seid von unten her, also seid Kinder dieser Welt, aber ich, ich bin von oben her, ich will sagen: Eure Spielregeln gelten nicht für mich.“ Von oben her meint aus Gottes Bereich, aus der „anderen Dimension des Lebens“. Eine Dimension des Seins, die wir manchmal erahnen, manchmal spüren und erleben, an die wir glauben, aber die wir nicht begreifen können.
Liebe Konfirmanden und Konfirmandinnen, es geht nicht nur euch so: Die Zuhörer von Jesus verstehen auch nur „Bahnhof“. „Wer bist Du denn, dass Du so etwas sagst? Schließlich wissen wir doch einiges von Dir. Da soll zwar einiges an merkwürdigen Dingen in deinem Leben passiert sein, aber wir wissen doch auch: Du bist Zimmermann aus Nazareth, hast dort Mutter, Vater, Geschwister“. Die Menschen um ihn herum versuchen ihren gesunden Menschenverstand einzusetzen und … scheitern.
Wir würden im Jahr 2007 genauso scheitern! Wir sind es gewohnt, mit wissenschaftlichen Methoden voran zu kommen. Die Historiker sagen uns: Ja, die Person Jesus von Nazareth lässt sich nachweisen. In verschiedenen Dokumenten auch außerhalb der Bibel wird er erwähnt, aber historisch und naturwissenschaftlich gibt es keinen Grund, in ihm mehr zu sehen als solch einen historischen Menschen. Sicher, Christen, also die, die an ihn geglaubt haben, die haben das schon immer anders gesehen, aber Glauben, was ist das? Einige sagen: Das sei nur das Gegenteil von nicht wissen! Wer nur so weit gehen will, wie die Naturwissenschaften es möglich machen, der scheitert.
Mit solchen Leuten verliert der Jesus, den Johannes uns vorführt, die Geduld. „Was rede ich überhaupt noch mit euch: Ihr kapiert es nicht und dabei gäbe es noch soviel zu reden. Es täte euch gut. Aber es ist zu hoch für euch. Ihr denkt zu klein.“ So könnte er damals und heute sagen.
Und wir hier in der der Mulsumer Kirche: Auch zu hoch? Ja, Jesus Christus erklären, beweisen, das geht nicht. Das geht einfach über unseren Alltagshorizont hinaus. Da kommen wir nicht viel weiter. Jesus würde wohl sagen: Eure Forschungen sind prima! In eurer Weltebene, in euren Lebenszusammenhängen, da seid ihr voran gekommen, aber ich bin nicht an diese Zusammenhänge gebunden. So weit weg der Neandertaler von der Relativitätstheorie Albert Einsteins entfernt war, so weit weg seid ihr davon, Gottes Reich, diese andere Dimension der Wirklichkeit, zu kennen.
Das hören Menschen des 21. Jahrhundert nicht so gern. Aber daran hängt alles. An diesem Christus, der nicht in dieser Welt aufgegangen ist, hängt alles. Schauen wir uns um im Jahr 2007. Kriege im Irak, Afghanistan und vielen anderen Orten der Welt. Klimakatastrophe im Anrollen und außer Lippenbekenntnissen ist bisher kaum etwas passiert. Das stimmt nicht ganz. In Australien sind die Glühbirnen verboten worden, aber dem Kioto Abkommen wird nicht beigetreten. Welch ein Erfolg!
Trotz guter Wirtschaftsdaten, für euch Konfirmandinnen und Konfirmanden wird es schwer, einen guten Ausbildungsplatz zu finden und dann einen Beruf, in dem ihr zufrieden seid. Und mehr noch: Liebe Angehörige und Freunde von uns, die den Tod nicht verdient haben, sie sind gestorben oder werden sterben. Man müsste doch verzweifeln an dieser Welt und auch an Gott. Oder?
Jesus sagt: Es gibt mehr, als diese Welt. Ihr könnt in Hoffnung leben, ihr könnt sogar mit dem Wissen sterben, dass kein Leben verloren geht. Nur… wissenschaftlich erklären könnt ihr es nicht. Ihr „Konfis“ könntet nun sagen: Aha, billige Vertröstung auf das Jenseits: Ich lebe doch jetzt und ich will etwas haben von meinem Leben. Wenn es erst richtig losgeht, wenn ich tot bin, dann verzichte ich lieber.
Aber Johannes und Jesus wollen eben nicht vertrösten. Christus ist in unserer realen Welt, und seine Zuwendung und Hilfe lassen sich eben auch heute nicht aussperren von diesem Planeten Erde. Es hat schon begonnen. Gottes Reich und unsere rein menschliche Welt, sie haben Berührungspunkte in diesem Christus. „Entdecke die Möglichkeiten! Du Mensch kannst schon mit der anderen Dimension des Lebens rechnen,“ so könnte Christus uns zurufen. Wir können hier und jetzt besser leben im Glauben, weil Gott handelt. Wir können voller Hoffnung Schritte machen auf dem Weg, den dieser Jesus voran gegangen ist. Denn Gottes Möglichkeiten sind da, nicht voll verwirklicht, aber angebrochen.
Als Kolumbus bewiesen hatte, dass die Welt tatsächlich viel größer ist, als alle gedacht hatten, da hatte sich die Welt nicht verändert, aber alle hatten sofort viel größere Möglichkeiten. Gottes andere Welt ist angebrochen damals mit Jesus von Nazareth, dem, der scheinbar voll gescheitert ist am Kreuz. Und doch hat Gott damit erst eine ganz neue Perspektive eröffnet. Schon jetzt möglich, spürbar, nutzbar, erlebbar, aber noch nicht vollendet.
Darum: Christen sind nicht die, die über der Welt verzweifeln, denn wir wissen, die bietet, Gott sei Dank, noch viel mehr Möglichkeiten und wir können sie voran bringen. Christen sind auch nicht die, die sagen: Ach lasst uns untergehen, es wird erst im Jenseits alles besser.
Nein wir sind die, die sagen: Wir haben Ziele für diese Welt und für unser Leben und wir können mit Gottes Hilfe schon jetzt etwas bewegen. Aber wir brauchen auch nicht zu verzweifeln, wenn unser Leben an Grenzen kommt. Denn im Vertrauen auf Gott, auf Christus, auf diese andere Ebene der Wirklichkeit, da können wir leben und bleiben, selbst über den Tod hinaus.
Johannes endet mit den Worten: Als Jesus das alles sagte, kamen viele zum Glauben an ihn! Er schreibt nicht: Das begriffen viele. Es geht im Glauben um mehr als den Kopf. Zum Glauben kommen meint, den Verstand sehr wohl eingeschaltet lassen, aber auch mit dem Herz, dem Bauch, mit allem, was noch zu uns gehört spüren: Da ist noch mehr, über, hinter, in unserer Welt. Gottes Reich, diese andere Dimension des Seins, ist schon angebrochen und wird sich ausbreiten in dem Tempo, was Gott für richtig hält. Und wir, wir können seine anderen Möglichkeiten entdecken. Es lohnt sich!
Amen.