Pfundskur gegen die Verzweiflung
Lebensnotwendiges Brot ohne Kalorien und Ballaststoffe
Predigttext: Johannes 6,47-51 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon ißt, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.Liebe Gemeinde!
Kann ich noch etwas Brot haben?
Plötzlich kehrte Stille ein. Geschnatter und Gespräche verstummten. In dem hellen, großzügigen Raum saßen fünfundzwanzig Jugendliche im Stuhlkreis, alle dreizehn oder vierzehn Jahre alt, und warteten in gespannter Aufmerksamkeit darauf, was geschehen sollte. Es war Mittwoch. Also Konfirmandenunterricht.
In der Mitte des Raumes und des Stuhlkreises stand ein geflochtener Brotkorb auf einem kleinen Tisch mit einer weinroten Tischdecke. Daneben brannte eine dicke weiße Kerze. In dem Brotkorb lagen kleine Scheiben, die der Pfarrer von einem französischen Baguette abgeschnitten hatte. Der Reihe nach standen alle Konfirmanden im Kreis auf und nahmen sich ein Stück Brot aus dem Korb. Die Brotscheibe boten sie einem anderen Konfirmanden an, gaben sie ihm, so lange, bis jeder im Kreis versorgt war.
Dann fingen alle an zu essen, so langsam wie möglich. Beim Essen schwieg jeder. Die Konfirmanden konzentrierten sich auf ihre Brotscheiben, auf das Kauen und auf den Geschmack. Kein Kichern störte die Ruhe. Und beim Kauen dachten alle Konfirmanden an das Thema Brot. Wer bäckt die Brotlaibe? Welche Zutaten sind dafür nötig? Was ist eigentlich Sauerteig? Aus welchen Getreidesorten wird das Mehl gemahlen? Wie viel Brotscheiben esse ich täglich? Toastbrot oder Mehrkorn?
Nach zehn Minuten war die Brotmeditation vorüber: Der Pfarrer blies die Kerze aus. Der Pfarrer war erstaunt, wie lange es die Konfirmanden durchgehalten hatten, ruhig zu sein. Nun, nach der Stille, mußte jeder erst einmal reden, und als dann wieder Ruhe eingekehrt war, forderte der Pfarrer die Konfirmanden auf, all das mitzuteilen, was ihnen beim Kauen zum Thema Brot eingefallen war. Was ihnen einfiel, schrieben die Jugendlichen auf eine vorbereitete Flipchart:
Bäcker – Ofen – Lebensmittel – Brot für die Welt – Baguette – Weißbrot – Schulbrote – Schwarzbrot – Pumpernickel – Unser tägliches Brot gib uns heute.
Ich bin das Brot des Lebens, sagt Jesus im Johannesevangelium. Aber dieses Wort kannten die Konfirmanden noch nicht. Für die Brotbitte aus dem Vaterunser mußte der Pfarrer ein wenig Hilfestellung leisten, damit die Konfirmanden sich noch an das erinnerten, was sie längst auswendig kannten.
234 Gramm tägliches Brot
Unser tägliches Brot gib uns heute. In Deutschland sind das täglich zweihundertundvierunddreissig Gramm. Das ist die Menge an Brot oder Brötchen, die jeder Deutsche jeden Tag im Durchschnitt zu sich nimmt. Nicht nur in der Bundesrepublik ist Brot ein Grundnahrungsmittel. Statistisch gesehen geben Menschen monatlich 35 Euro für Brot aus, weniger als für Wurst und Fleisch, mehr als für Milch und Eier.
Seit über 10000 Jahren bauen die Menschen Getreide wie Weizen oder Roggen an, um Brot zu backen. Wie Brot hergestellt wird, hat das deutsche Recht ganz genau festgelegt: „Brot wird ganz oder teilweise aus Getreide und/oder Getreideerzeugnissen, meist nach Zugabe von Flüssigkeit, sowie von anderen Lebensmitteln (z.B. Leguminosen-, Kartoffelerzeugnisse) in der Regel durch Kneten, Formen, Lockern, Backen oder Heißextrudieren des Brotteiges hergestellt. Brot enthält weniger als 10 Gewichtsteile Fett und/oder Zuckerarten auf 90 Gewichtsteile Getreide und/oder Getreideerzeugnisse“. So umständlich formuliert steht es im deutschen Bundesgesetzblatt. Vielleicht kann uns nach dem Gottesdienst ein Bäcker erklären, was Heißextrudieren bedeutet.
Für viele ist Brot eine selbstverständliche, nicht weiter beachtete Nebensache, der sie noch nie größere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Der Bauer, der Getreide anbaut, der Müller, der Mehl mahlt, der Bäcker, der Brot – das sind für viele nur noch nostalgische Erinnerungen.
Mazzen und Manna
In der Schule sprach der Religionslehrer mit seiner Klasse über das Leben Jesu als Jugendlicher. Wahrscheinlich ist er bei seinen Eltern aufgewachsen. Mit ihnen zusammen aß er die Mahlzeiten, er half ihnen wahrscheinlich bei der Arbeit, und er feierte mit ihnen die vorgeschriebenen Feste, auch das wichtigste Fest für das Volk Israel, das Passafest.
Alle Speisen, die für das Passafest vorbereitet werden, haben ihre besondere symbolische Bedeutung: Bitterkräuter, das gebratene Lamm und Mazzen erinnern an die überstürzte Flucht des Volkes Israel aus Ägypten. Das ungesäuerte Brot, die Mazzen, werden gegessen, weil die Israeliten bei der panikartigen Flucht keine Zeit hatten, den Brotteig gehen zu lassen. Also buken sie, Zeit sparend, Brot ohne Sauerteig, eben die Mazzen. Der Religionslehrer, der von seinen Schülern einiges gewöhnt war, staunte nicht schlecht, als ein Junge in der nächsten Stunde eine leuchtendrote Packung mit Mazzen dabei hatte. Wo hast du das besorgt? fragte der Lehrer. Das hat meine Mutter im Supermarkt gekauft, sagte der Schüler. Und er fuhr fort: Und ich habe das mitgebracht, damit wir alle davon probieren können. Am Ende der Stunde verteilten der Lehrer und der Schüler an alle, die sie probieren wollten, eine halbe Scheibe. Mazzen schmecken ein wenig salzig und säuerlich, sehr trocken, ähnlich wie Knäckebrot.
Später auf seiner Flucht aus Ägypten ging dem Volk Israel das Getreide aus, um Mazzen zu backen. Da war man auf das Manna angewiesen, das Gott vom Himmel fallen ließ. Manna als Lebensmittel in der Wüste. Manna war für das Volk Israel auf seiner Wüstenflucht das Brot, das vom Himmel fiel.
Das haben die ungeduldigen Wüstenwanderer des alten Israel, neugierige Konfirmanden und sonntägliche Gottesdienstbesucher alle selbstverständlich gemeinsam: Ohne etwas zu essen und ohne etwas zu trinken können sie nicht überleben. Wüstenwanderer und Gottesdienstbesucher und alle anderen sind auf Grundnahrungsmittel angewiesen. Grundnahrungsmittel sind mindestens Brot und Wasser. Je selbstverständlicher beides ist, desto weniger beachten viele beides. Selbstverständlichkeit und Gewohnheit führen oft in Gedankenlosigkeit und Unachtsamkeit.
Grundnahrungsmittel für die Seele
Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist, sagt der Jesus des Johannesevangeliums. Der Mann aus Nazareth spielt mit den Bildern und Erinnerungen der Menschen. Denn die, die ihm zuhören, kennen das Brot aus den biblischen Geschichten vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und aus ihrem eigenen täglichen Leben. Kaum ein Mensch, der nicht jeden Tag mindestens eine Scheibe Brot verzehren würde, damals wie heute.
Wer Brot länger kaut, der kann schmecken, wie das Brot allmählich immer süßer wird. Wer Brot anfaßt, schneidet, kaut oder schmeckt, der wird durch das Johannesevangelium an die biblischen Geschichten erinnert. Die achtlose tägliche Gewohnheit, in der Menschen den Geschmack von Brot schon kaum mehr wahrnehmen, verwandelt sich plötzlich in eine neue Aufmerksamkeit. Und diese Aufmerksamkeit verbindet sich mit einer neuen Erinnerung an den Menschen aus Nazareth.
Ich komme aus dem Himmel, sagt Jesus. Gott hat mich geschickt, wie er dem Volk Israel das Manna geschickt hat. Ich bin das himmlische Brot. Der Mensch aus Nazareth, der heilend und predigend durch Galiläa zieht, hat etwas Besonderes. Er zeichnet sich aus durch eine besonders innige Verbindung zu Gott. Und er strahlt das nicht nur aus, er gibt das auch weiter, er will, daß die Menschen, die ihn sehen und hören und berühren, davon einen Gewinn haben. Weil er Gott nahe ist, sollen die Menschen um ihn herum Gott näher kommen. Jesus will nicht angestaunt und bewundert werden. Er lädt die Menschen ein, diese Nähe Gottes, die er wie kein anderer lebt, auch selbst nachzuleben.
Wasser und Brot stehen für Flüssigkeit und Nahrungsmittel, für das, was der menschliche Körper unbedingt zum Überleben benötigt. Das aber reicht nicht aus. Es muß noch ein weiteres „Grundnahrungsmittel“ hinzukommen. Und dieses Grundnahrungsmittel ist das Vertrauen auf die Nähe Gottes. Ich bin das Brot des Lebens, sagt Jesus.
Wie wirkt dieses Grundnahrungsmittel? Brot wirkt gegen den Hunger. Wasser wirkt gegen den Durst. Jesus von Nazareth, das Brot des Lebens wirkt gegen alle Formen von Angst, Verzweiflung, Lebensüberdruß und Mißtrauen. Wer vom Brot des Lebens ißt, der kann an Wirkungen und Nebenwirkungen Geduld, Hoffnung, Vertrauen und Lebensmut erwarten. Dieses Brot des Lebens ist ein Grundnahrungsmittel für die Seele und nicht für den Körper. Es wirkt vor allem gegen alle Formen von Orientierungslosigkeit und Beziehungslosigkeit und Aussichtslosigkeit, gegen die Krankheitssymptome, die daraus entstehen, daß Menschen sich von Gott abwenden. Das Brot des Lebens wirkt gegen das, was wir Sünde nennen: Menschen verlassen sich nicht mehr auf Gott, sondern auf sich selbst. Wer sich auf sich selbst verläßt und sich dann doch nicht ganz traut, der verstrickt sich unweigerlich in Ängsten, die ihn plagen und nicht mehr loslassen.
Das Brot des Lebens enthält weder Kalorien noch Ballaststoffe. Wer es ißt, der nimmt nicht an Gewicht zu, ganz im Gegenteil: Er wird leichter, weil er das Leben nicht mehr so schwer nehmen muß. Die Ängste verlieren ihr Gewicht. Die Verzweiflung verliert ihr Gewicht. An die Stelle von Unruhe und Verzweiflung treten Geduld, Glauben und Hoffnung.
Dieses Brot des Lebens wirkt übrigens nicht allein als eine neue Erkenntnis. Nicht nur sehen wir die Welt in einem neuen Licht, nämlich dem Licht Gottes. Das Brot des Lebens nährt Leib und Seele, es versorgt uns mit dem, was wir zum täglichen Leben brauchen. Es ist ein Grundnahrungsmittel.
Ich bin das Brot des Lebens, sagt Jesus von Nazareth. Und den meisten wird dabei das Abendmahl einfallen: In Brot und Wein ist Jesus gegenwärtig. Aber damit ist noch mehr gemeint. Wir brauchen täglich neu die Nähe Gottes. Wir brauchen das Brot des Lebens, um nicht zu dick zu werden an Ängsten und Traurigkeit. Das Brot des Lebens ist die Pfundskur gegen die Verzweiflung. Das Brot des Lebens enthält die Nährstoffe der Liebe Gottes, ohne die wir nicht überleben können.
Amen.