Ich stehe am Tiefpunkt meines Lebens nicht allein

Es ist für uns oft nicht einfach, unser Bild von Gott mit dem Geschehen am Kreuz in Einklang zu bringen

Predigttext: Matthäus 27,33-50
Kirche / Ort: St. Willehadi, Osterholz-Scharmbeck
Datum: 6.04.2007
Kirchenjahr: Karfreitag
Autor/in: Pastorin Theda Wolthoff

Predigttext: Matthäus 27,33-50 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1094)

(33) Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, (34) gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken. (35) Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. (36) Und sie saßen da und bewachten ihn. (37) Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. (38) Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. (39) Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe (40) und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! (41) Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: (42) Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. (43) Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. (44) Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. (45) Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. (46) Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (47) Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. (48) Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. (49) Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! (50) Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

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Liebe Gemeinde,

das war kein ruhiges, friedliches Sterben. Was für einen grausamen, einsamen Tod schildert Matthäus da. Jesus, von aller Welt und von Gott verlassen, stirbt schreiend am Kreuz. Niemand von seinen Leuten ist bei ihm. Ja, es waren wohl einige da an der Kreuzigungsstätte, viele Frauen, die ihm gedient hatten. Aber sie stehend irgendwo fern ab vom sterbenden Jesus.

Was für ein Sterben. Verspottet von allen Seiten. Auch von den Verbrechern, den Räubern, die auch am Kreuz hingen. Da gab es keine Umkehr eines Übeltäters in der letzten Minute, keine Frohbotschaft an einen Bekehrten.

Die Kleider wurden verlost, kaum dass Jesus am Kreuz hing. Totale Finsternis tritt ein. Dann der Schrei totaler Verlassenheit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das muss den umstehenden Bewachern und Gaffern durch Mark und Bein gegangen sein. Und doch Spott bis zur letzten Sekunde seines Lebens: „Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe!“ Elia, der Nothelfer, der Vorläufer des Messias – natürlich, er kam nicht. Jesus starb einfach.

Liebe Gemeinde, so wie Matthäus das Sterben von Jesus am Kreuz schildert, ist es keine Hoffnungsgeschichte. Im Gegenteil: Liest man die Geschichte nur bis zu diesem Vers, dann könnte man schnell auf den Gedanken kommen: Die Spötter, die Gaffer, alle, die mit ihrer Verachtung, ihrem Unglauben und ihren Zweifeln am Kreuz standen, haben mit Jesu Tod Recht bekommen. Er konnte doch nur ein Betrüger sein! Jedenfalls nicht Gottes Sohn. Niemand hat Jesus geholfen. Niemand ist ganz nah an seiner Seite geblieben, hat ihn bis an den Tiefpunkt seines Lebens begleitet. Seine Anhänger augenscheinlich nicht.

Und Gott? Warum hilft der ihm nicht? Haben die hohen Vertreter des jüdischen Glaubens nicht Recht wenn sie sagen: „Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn, wenn er Gefallen an ihm hat!“? War Jesus ganz und gar von Gott verlassen? Haben diese Leute nicht recht, die sagen: „Hilf dir selbst, Jesus! Wenn du das nicht bewerkstelligen kannst, dann hast wohl keinen guten Draht nach oben!“ Hilf dir selbst! Dann hilft dir –vielleicht – auch Gott.

Liebe Gemeinde, diese Menschen interessieren mich heute an Karfreitag, die Leute aus den drei Gruppen vor dem Kreuz, so schildert es ja Matthäus, die alle ein Denkmuster vertreten. Ein weit verbreitetes Denken, auch heute noch, vielleicht kennen Sie auch aus Ihrem eigenen Alltag diese Einstellung: Wenn´s drauf ankommt und du richtig tief in der Klemme steckst, dann musst du dir schon selber helfen! Und deshalb haben allesamt, die Jesus am Kreuz beim Sterben zusehen, nicht mehr zu bieten als Jesus noch ihren Spott an den Hals zu rufen: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig doch herab vom Kreuz!“ Oder sein Schicksal hämisch zu kommentieren: „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen!“ Und zu guter Letzt schmähten ihn selbst die Räuber, die rechts und links von ihm hingen. Bist du nicht der König von Israel? Bist du nicht Gottes Sohn? Dann hilf dir doch selbst!

Ich höre immer nur: Hilf dir selbst. Das heißt doch: Glaub nicht an den Unsinn, dass es jemanden über dir gibt, dass es Gott gibt, der dir zur Seite steht. Hilf dir selbst, sonst bist du arm dran.

Liebe Gemeinde, diese Gedanken kenne ich nur zu gut. Ich habe mich selbst auch schon manches Mal bei dieser Einstellung ertappt. Ich habe mich zuerst auf mich selbst verlassen und gedacht: „Da musst du jetzt allein durch. Dabei kann dir niemand helfen!“ Liebe Gemeinde, vielleicht wissen Sie das aus eigener Erfahrung: Es sind einsame Momente, Augenblicke tiefer Verzweiflung, wenn wir so denken. Wenn wir nur darauf schauen, was wir selbst aus eigener Kraft in dieser Situation vermögen. Wie wir uns selbst aus einer Notlage, aus einer tiefen Krise befreien können.

Die umstehenden Menschen damals bei der Kreuzigung haben Jesus als total verlassenen, als gescheiterten Menschen wahrgenommen. Spott und Hohn waren das letzte, was sie Jesus darum mitgegeben haben. Hilf dir doch selbst. Das war alles, was sie zu bieten hatten. So würden sie auch selbst sterben müssen, hingen sie am Kreuz. So sterben Menschen, die sich nur auf sich selbst verlassen.

Liebe Gemeinde, die Spötter werfen Jesus vor, er sei von Gott verlassen. Aber wo stehen sie selbst? „Hilf dir selbst“ – ist das nicht ein Spott, der das ganze Ausmaß der menschlichen Einsamkeit und Verlorenheit vor Gott ausdrückt? Wer sich nur auf sich selbst verlässt, hat der nicht selbst die Verbindung zu Gott verloren? Der hat jedenfalls für Menschen, die sich bis zuletzt an Gott wenden, zu Gott schreien wie Jesus, nur Hohn und Spott übrig.

Es ist für uns oft nicht einfach, unser Bild von Gott mit dem Geschehen am Kreuz in Einklang zu bringen. Ist Gott nicht unser gütiger Vater im Himmel, ist Gott gleichbedeutend mit Liebe und Fürsorge für uns? Ja, das ist er – barmherzig und gütig. Er ist wie der liebende Vater, der dem verlorenen Sohn nach seiner langen Irrfahrt entgegenläuft und ihn in die Arme schließt.

Aber es gibt auch eine andere Seite von Gott. Gott ist auch gerecht. Er nimmt unser Verhalten ernst. Welches Urteil hätten wir verdient, wenn Gott nur unser eigenes Leben anschauen würde? Damit wir dieses Urteil nicht tragen müssen, hat Gott seinen Sohn Jesus für uns ans Kreuz gehen lassen. Damit wir gerecht werden durch seine Gerechtigkeit. Das, was er am meisten lieb hat, gibt er hin, damit wir endgültig zu ihm gehören können. Damit die Tür zu ihm immer offen steht. Damit er uns in die Arme schließen kann.

Jesus hat an unserer Stelle das Urteil Gottes über alle Menschen auf sich genommen, die erkennen, dass sie sich am Ende nicht selbst helfen können. Deshalb sprechen wir davon, dass Jesus am Kreuz „für uns“, das heißt, unserer Statt, gestorben ist.

Liebe Gemeinde, das Lukasevangelium erzählt von einem Verbrecher am Kreuz, der im letzten Moment seines Lebens erkannt hat, was es heißt, dass er sich nicht mehr nur auf sich selbst verlassen muss. Der erkannt hat, was es heißt, dass Jesus für ihn stirbt. Dieser Verbrecher am Kreuz hatte keine Zeit mehr, sein ganzes Leben zu erzählen, von dem, was schief gelaufen ist. Er hat sein ganzes Vertrauen nur ein einer Haltung deutlich gemacht: Jesus, denk an mich. Jesus, wenn du einmal vor dem Vater im Himmel stehst, dann denk an den Kerl, der mit dir gekreuzigt worden ist. Der so viel auf dem Kerbholz hatte.

Liebe Gemeinde, der Tod am Kreuz, den Jesus erleiden musste, bleibt ein grausamer Tod. Und bei mir bleibt der Eindruck haften, dass es für Jesus auch ein einsamer, unendlich leidvoller Tod gewesen sein muss. Und trotzdem ist dieser Tod Jesus ein Zeichen von Gottes Nähe und Liebe für uns, das deutlicher nicht sein kann. Gott geht als Mensch den schmerzvollsten Weg ans Kreuz, verspottet und verlassen stirbt er, damit wir diese tiefe Verlassenheit und dieses totale Sterben nicht erleiden müssen.

Jesus Christus ist für uns gestorben. Liebe Gemeinde, das ist mehr als nur eine fromme Floskel, das ist eine Lebenseinstellung. Ich stehe nicht allein da am Tiefpunkt meines Lebens. Ich muss mein Leben – und mein Sterben – nicht allein bewältigen. Ich darf mir helfen lassen. In einem neueren Kirchenlied (EG 533), das bei uns oft zur Beerdigung gesungen wird heißt es: Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand, / Die er zum Heil uns allen / barmherzig ausgespannt.

Gott hilft! Das gilt jedem, der sich helfen lassen, der Gottes Kraft in seinem Leben wirken lassen will. Und wie der verlorene Sohn dürfen wir uns auch nach endloser Zeit, ja nach ewig langer Zeit – wo immer nur galt: Ich helfe mir selbst – an Gott wenden, weil wir einsehen, wer wirklich helfen kann. Dann gilt für uns alle, was Jesus nach Lukas einem Menschen am Kreuz zugesagt hat: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“! Auch wenn das in der letzten Minute unseres Lebens so sein sollte.

Amen

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