Wir sind nicht allein, wenn wir aufbrechen

An Gottes Segen ist alles gelegen

Predigttext: 4.Mose 6,22-27
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 3.06.2007
Kirchenjahr: Trinitatis (Dreieinigkeitsfest)
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: 4. Mose (Numeri) 6,22-27 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

22 Und der HERR redete mit Mose und sprach: 23 Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: 24 Der HERR segne dich und behüte dich; 25 der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; 26 der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. 27 Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen

Der literarische Ort des aaronitischen Segens ist die Sinaiperikope (Ex. 19,1 – Num 10,10), ihr Thema ist die Nähe Gottes. Nach Musterung und Zählung des Volkes (Num. 1) beginnt der Aufbruch vom Sinai (vgl. Num. 2,34) – der Gottesberg wird verlassen, der Weg durch die Wüste fortgesetzt (Num. 10,11). Die priesterliche Theologie kennt zwei Weisen der Nähe Gottes: einmal in der „Stiftshütte“, einem transportablen Heiligtum (Ex. 25-31; 35-40), das den Sinai „mitnimmt“ – dann aber in dem Segen. Jahwes Wort macht jeden Ort zu einem Ort seiner Gegenwart. „Dieses Verständnis des aaronitischen Segens als Reisesegen sowie seine gleichzeitige Einbindung in die priesterliche Heiligtumstheologie bestätigt sich in der Sammlung des ‚Wallfahrtspsalters’ (Ps. 120-134). Die 15 Psalmen, deren Zahl den 15 Worten des aaronitischen Segens entspricht, nehmen wichtige Schlüsselworte aus Num 6,24-26 auf und meditieren sie auf dem Hintergrund der Zionstheologie neu durch“ (Lux 275). Num. 6,22-27 hat einen kunstvollen Aufbau. Der Segen besteht aus einem in Prosa gehaltenen Rahmen (22/27) und einem Trikolon (24-26). Auffällig ist die von Kolon zu Kolon zunehmende Wortzahl (3 – 5 -7), mündend im Schalom. Im Hintergrund ist die Metaphorik einer höfischen Audienzszene wahrnehmbar: Ein Priester bittet, Jahwe möge sich dem Bittsteller segnend zuwenden. In V. 24 klingt noch der ursprüngliche Grußcharakter des Segens an. Es wird eine Begegnung eingeleitet, von der Schutz ausgeht. Vgl. Gen. 19. Der Hausherr gewährt persönlichen Schutz. V. 25 äußert den Wunsch, Jahwe möge sein Angesicht (panim) leuchten lassen. In Ps. 31,17ff.; 42,2f.; 67,2; 80,4.8.20; 119,35 wird die wärmende und freundliche Zuwendung Jahwes erbeten. Das Angewiesensein auf Gnade markiert auch die Grenzen menschlicher Gerechtigkeit vor Jahwe. Es ist eine Audienz beim – Höchsten. „Der Raum der Begegnung wird zum Raum der Vergebung“ (Lux 276). V. 26 steigert noch einmal: Jahwe möge sein Angesicht erheben (nasa’), gut und wohlgesonnen sein (vgl. Gen. 6,4f.). Zum Ziel kommt die Audienz in der Bitte um den Schalom. „In der Begegnung mit dem offenen, erhobenen Angesicht JHWHs tritt der Mensch in ein Haus der Annahme und des Friedens ein“ (Lux 276). Die Rahmung (VV 22 und 27) erlaubt einen Blick auf die vornehmste Aufgabe der (aaronitischen) Priesterschaft: Israel mit diesen Worten (VV 23-26) zu segnen und den Namen Gottes auf das Volk zu legen. Dabei ist und bleibt Jahwe allein Subjekt dieses Segens. Priester habe keine Macht über ihn, sie sind Bittsteller vor Jahwe, Bittsteller für das Volk. „Denn der Segen ist die Kraft des Wortes eines ganz bestimmten Gottes, nämlich des Schöpfers, der die Welt durch sein Wort erschuf (Gen 1), Mose am Sinai seinen Namen offenbarte (Ex 3), Israel aus Ägypten führte (Ex 12 ff.) und ihm sein Wort und seinen Willen kundtat (Ex 20; Dtn 5)“ (Lux 277). Die dreifache Nennung des Gottesnamens JHWH war wohl der Grund, Num 6,22-27 mit Trinitatis zu verbinden. Eine Zahlenmystik ist allerdings nicht ableitbar. Als Martin Luther die trinitarische Segensformel am Ende des Gottesdienstes durch den aaronitischen Segen ersetzte, wollte er, dass der Schrift gemäß der Name Gottes auf die Menschen gelegt wird. Dabei hat Luther gerade diesen Segen trinitarisch ausgelegt.

Literatur:

Rüdiger Lux, in: GPM 96 (2007), 273-280 (mit Literatur).

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Das Ende ist der Anfang

Am Ende unseres Gottesdienstes werden wir mit dem Segen des Herrn in unser Leben gehen. Mit ausgebreiteten Armen werden die Worte gesagt, die schon im alten Israel Menschen begleiteten: Der Herr segne dich und behüte dich, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Im Jüdischen Gebetbuch steht: der Ewige. Obwohl sein Name auf uns gelegt wird, hat er keinen Namen, auf den wir ihn festlegen könnten. Sein Name ist unaussprechlich. Aber eine Zusage. Zusage von Schutz, Nähe und Gemeinschaft.

Als der Segen zum ersten Mal gesprochen wurde, begann für Israel wieder der Weg durch die Wüste. Eine Durststrecke. Am Sinai hatten die Menschen, wider Erwarten, sogar für längere Zeit, eine Ruhepause einlegen können. Dabei sogar große und schöne Erfahrungen gemacht. Zwar nicht so sehr mit sich, aber mit Gott. Der, der sie aus dem Knechthaus Ägyptens in der gelobte Land aufbrechen ließ, kam ihnen nahe, gab ihnen die Gebote, sprach (wenigstens) mit Mose. Auf einmal war die Durststrecke durchbrochen, es kam so etwas auf wie Heimat, Geborgenheit, Alltag. Wie köstlich doch der Alltag ist, wenn alles andere zur Durststrecke wird …!

Audienz

In jedem Gottesdienst wird diese alte Geschichte gegenwärtig und lebendig. Wenn der Segen gesprochen wird, teilen wir eine Erfahrung, die Menschen vor uns gemacht haben. Wir sind nicht allein, wenn wir aufbrechen.

Ein Bild, das bis heute einen Reiz bewahrt hat, stellt sich ein. Das Bild einer Audienz. Im Raum sind: Menschen, die um Schutz und Geleit bitten wollen – Priester, die die Anliegen zu ihren eigenen machen und die Rollen der Bittsteller übernehmen – Gott, der den Raum mit seiner Erscheinung füllt, aber unsichtbar bleibt. Und wenn Sie fragen, ob die Begegnung nicht direkter, unmittelbarer sein könnte – also ohne Priester: Menschen brauchen Menschen, die für sie eintreten, sich ihrer annehmen, ihren Anliegen Worte geben. Nein, es hört sich auch nicht gut an, wenn es heißen würde: Der Herr segne mich und er behüte mich. Der Blick auf die anderen gehört zum Segen – und unterstreicht die göttliche Würde. Dass jeder für den anderen eintreten kann, einer dem anderen zum Priester wird, verleiht dem Segen einen sehr menschlichen Glanz.

Ob das Bild von der Audienz trägt?
Viele Menschen sind allein unterwegs. Sie müssen alles mit sich ausmachen. Niemand nimmt Notiz von ihnen …
Viele Menschen können über ihr Leben nicht reden. Ihnen fehlen die Worte. Und die Ohren, die hören könnten…
Viele Menschen haben die Hoffnung aufgegeben, noch gebraucht zu werden. Sie schlagen sich nur noch durch. Sie erwarten auch nichts mehr in ihrem Leben…

Wenn ich sage: „Der Her segne dich und er behüte dich“, trete ich in die Geschichte eines anderen Menschen ein. Was ich vor Gott für ihn erbitte, wird mir selbst anvertraut. Einen anderen Menschen zu behüten.

Dreiklang

Dieser Segen fällt auf. So, wie er formuliert ist, enthält er die Anmut und die Schönheit, die von ihm ausgeht. Es sind drei Sätze. Was in der deutschen Sprache nicht so auffällt, lässt sich in der hebräischen nicht übersehen. Die Sätze des Segens steigern sich. Erst sind es drei Worte, dann fünf, am Schluss sieben. Der Segen wächst geradezu – und kommt im Frieden, im Schalom, an sein Ziel. Schalom: das ist das heilvolle, ganze, erfüllte Leben. Wenn es Brüche gab, sind sie geheilt – gab es Streit, ist er beigelegt – ging der Frieden verloren, so ist er gefunden. Das rundum gute Leben – es wächst mit diesem Segen.

So betrachtet, ist der Segen alles andere als vertraut. Es lohnt, von Anfang an mitzugehen, sich seinem Weg zu öffnen. Die erste Bitte, die ausgesprochen wird, ist, Gott möge doch die, die sich auf den Weg machen, behüten und beschützen. Ich sehe den Priester, wie er vor Gott steht. Er kann ihn nicht sehen, weiß aber um seine Gegenwart. Ein großes Vertrauen liegt in der ersten Bitte: Der Herr segne dich und behüte dich.
Und dann kommt auch schon der zweite Wunsch: Der Herr möge sein Angesicht leuchten lassen – über dir. Ein leuchtendes Angesicht ist wie eine aufgehende Sonne. Warm, freundlich, zugewandt. Gesichter könnten dunkel werden, sich verfinstern – dann wird es kalt, bedrückend, still. Aber ein leuchtendes Angesicht ist sichtbare Barmherzigkeit. Ist Gottes Angesicht freundlich, bekommen Menschen Mut, auch um Vergebung zu bitten, neu anzufangen, sich zu öffnen. Ein großes Vertrauen liegt in der zweiten Bitte: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.

Der dritte Segenswunsch schließlich – und endlich – erbittet ein „erhobenes“ Gesicht Gottes. Augen, die nach unten schauen, Augen, die wegsehen, sprechen eine deutliche Sprache. Man trollt sich besser, hat keine Chance, ist doch nur überflüssig. Augen aber, die anschauen, einen Blick erwidern, einen Blick standhalten, schenken Nähe und Vertrauen. Der Priester, der Gott um einen solchen Blick bittet, kann um die größte Gabe bitten: um den Frieden. Die Augen Gottes heben einen Menschen auf. Er kann nicht mehr auf der Erde liegen – er muss stehen. Ein großes Vertrauen liegt in der dritten Bitte: Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

Drei Sätze sind es, drei Wünsche, drei Bitten. Aber sie haben einen Klang. Den Klang einer großen Barmherzigkeit, die nur von Gott kommen kann. Er vermag zu behüten, gnädig zu sein, Frieden zu geben. Genau betrachtet: Für uns Menschen, die unterwegs sind, oft auch ungeborgen und verloren, oft übermütig und größenwahnsinnig, ist in diesem Segen alles beschlossen. Was wir brauchen – und was wir für einander erbitten. Behütet sein, Gnade finden, im Frieden leben.

Das Augenspiel

Ist Ihnen etwas aufgefallen? In diesem Segen haben die Augen eine herausragende Bedeutung. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir – der Herr hebe sein Angesicht auf dich. Ja, die Augen sind, so sagen wir, Spiegel der Seele. Sie lassen tief blicken. Aber so richtig in die Augen sehen – sich nur Verliebte. Die können das stundenlang – und sie lesen in dem Gesicht des anderen – alles. Vor allem aber: Liebe.

Obwohl das Wort nicht vorkommt: es ist auf Schritt und Tritt da, es füllt die Segensbitten, es umfasst die Audienz mit Gott. Immer wieder: Liebe. Auch die Geschichte, die für Israel durch die Wüste ging, ist eine Liebesgeschichte. Liebesgeschichten können nie einen rationalen Grund angeben, warum der die oder die den liebt. Warum hat Gott sich in Israel verliebt? Warum in Menschen? Warum in mich? In diesem Segen ist auch das Geheimnis Gottes gegenwärtig. Sein Augenspiel.

Am Ende unseres Gottesdienstes werden wir mit dem Segen des Herrn in unser Leben gehen. Und dann kann etwas geschehen: Ich segne einen Menschen – ich lasse einem anderen Menschen mein Angesicht leuchten – ich hebe einen anderen Menschen mit meinen Augen auf. Das letzte Wort hat der Herr – und es ist doch nur ein anderes Wort für „Frieden“: Denn ihr sollt meinen Namen auf die Menschen legen, dass ich sie segne.

Der Rabbiner Nathan Peter Levinson hat, kurz nach dem 2. Weltkrieg, in der zerstörten Stadt Berlin, über den Segen gepredigt. Ich muss das ganz zitieren: „Als ich vor neun Jahren Berlin verließ, ging ich zu einem nichtjüdischen Koffermacher an der Spandauer Straße, und während dieses gute Mann, der sein ganzes Leben die jüdischen Kaufleute mit Koffern ausgestattet hatte, an meinem Koffer herumklopfte, sagte er zu mir: ‚Junger Mann, ihr Juden werdet länger das Höre Israel sagen, als die da draußen Heil Hitler brüllen werden’. Die Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen, und während ich Gott danke, dass wir noch leben, bete ich: Der Ewige segne euch und behüte euch. Er möge euch neue Freunde und neue Familien geben. Der Ewige lasse euch sein Antlitz leuchten und sei euch gnädig. Er möge euch einen neuen Glauben schenken. Der Ewige wende euch sein Antlitz zu und gebe euch Frieden. Er möge euch einen neuen Glauben an die Menschen geben.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus
unserem Herrn.

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