Gott im Menschen sehen
Im Leben des Jesus von Nazareth sehen und spüren wir einen Gott, den das Leben der Menschen anrührt, bewegt und zu einem Handeln in Barmherzigkeit und Gnade führt
Predigttext: Matthäus 9,35-38;10,1-7
Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, daß sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.Liebe Gemeinde!
Frühstücksüberlegungen
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am Sonntagmorgen entspannt am Frühstückstisch, nippen gelassen an Ihrer Kaffeetasse und lesen eine Sonntagszeitung. Zufällig stoßen Sie auf einen Bericht über den Kölner Kirchentag. Erstaunt stellen Sie fest, wie viele Menschen dort Podiumsdiskussionen und Feierabendmahle besucht haben. Sie fragen sich aber auch, ob das richtig ist, daß sich beim Kirchentag allzu Vieles auf politische Fragen konzentriert. Was haben globale Erwärmung und neue Armut mit Gott zu tun? Und weil Sonntag ist, stellen Sie sich auch die Frage, ob Sie an diesem Tag den Gottesdienst besuchen sollen. Und dann kommen Sie darüber ins Nachdenken, weil Sie sich fragen: Was erwarte ich eigentlich von einem Gottesdienst? Warum besuche ich Gottesdienste? Warum soll ich das ausgerechnet heute tun?
Sie, liebe Schwestern und Brüder, konnten sich schließlich dazu durchringen, hierher in die Kirche zu kommen. Also konnten Sie die Frage positiv beantworten. Sie können darauf eine Reihe von Antworten geben: Ich gehe aus Routine zum Gottesdienst, weil ich es so seit meiner Kindheit gewohnt bin. Ich gehe fröhlich zum Gottesdienst, weil ich singen und beten will. Ich gehe begeistert zum Gottesdienst, weil mir die Kirchenmusik gefällt. Ich gehe mit meinen Ängsten und Fragen zum Gottesdienst, weil ich getröstet werden will. Ich gehe suchend zum Gottesdienst, weil ich etwas über Gott erfahren will. Alle diese Antworten haben ihre eigene Berechtigung. Bei der letzten Antwort will ich einen Moment verweilen.
Ich gehe zum Gottesdienst, weil ich etwas über Gott erfahren will. Der Predigttext aus dem Matthäusevangelium zeichnet sich überraschenderweise durch ein besonderes Merkmal aus: Von Gott spricht er nur ein einziges Mal. Gott ist für Jesus der „Herr der Ernte“. Umso mehr ist von Menschen die Rede, von Jesus von Nazareth zuerst und dann von den Jüngern und Aposteln, von den Zwölfen. Sie alle werden mit Namen genannt. Und das ist das Geheimnis: Wer Gott für uns ist, das verbirgt sich im Handeln und Glauben dieser Menschen.
Gott im Menschen aus Nazareth
Das ist die erste überraschende Erkenntnis, die wir aus dieser evangelischen Geschichte entnehmen können: Wir begegnen dem barmherzigen Gott nicht als einem überirdischen Wunder. Gott ist kein Naturwunder, keine Wetterkatastrophe, kein undurchsichtiges und zweideutiges Orakel, kein märchenhafter Flaschengeist. Wir begegnen Gott in anderen Menschen: zuerst in Jesus von Nazareth und dann in den Jüngern und Aposteln. Wer Gott sucht, bekommt es mit anderen Menschen zu tun.
An dem Menschen aus Nazareth können wir staunend lernen, wie Gott sich den Menschen in aller Liebe und Gnade zuwendet. Gott ist nicht gleichgültig passiv, kein undurchdringliches Schicksal, kein grausamer Despot, kein folternder Tyrann, kein gnadenloser Beobachter, kein würfelnder Spieler, dem das Leben der Menschen gleichgültig wäre.
Nein, an dem Menschen aus Nazareth sehen wir: Gott mischt sich in das Leben von Menschen ein. An die Stelle von Gleichgültigkeit tritt herzliche Sensibilität. Er läßt sich anrühren vom Schicksal der Menschen. Und aus diesem Angerührtsein entfaltet er eine barmherzige Fülle von Aktivitäten. Wir erkennen Gottes Handeln und Denken im Handeln des Menschen aus Nazareth. Wir langsamen und überraschten Zuhörer kommen kaum nach mit dem, was der menschliche Jesus von Nazareth an Aktivitäten entfaltet:
Er geht furchtlos in die Städte und Dörfer seiner Heimatregion.
Er lehrt in den Synagogen und stellt sich unerschrocken Fragen und Diskussionen.
Er predigt das Evangelium vom Reich Gottes.
Er heilt Krankheiten, weil er Menschen von ihrem Leiden befreien will.
Er sieht und beobachtet das Volk, er nimmt wahr, was um ihn herum geschieht.
Er läßt sich vom Leben des Volkes berühren; das löst Gefühle bei ihm aus.
Er spricht zu den Jüngern und Aposteln.
Er gibt ihnen Anweisungen.
Er überträgt ihnen Macht, die seine eigene Macht ist.
Kurz und gut: Wenn wir im Leben des Nazareners den allmächtigen und barmherzigen Gott erkennen, dann sehen wir keinen passiven, schweigenden, willkürlichen und unnahbaren Gott. Sondern wir sehen und spüren einen Gott, den das Leben der Menschen anrührt, bewegt und zu einem Handeln in Barmherzigkeit und Gnade führt. In der Botschaft Jesu erkennen wir die Botschaft Gottes. Im Handeln und Sprechen Jesu von Nazareth erkennen wir das Handeln und das Sprechen das gnädigen und barmherzigen Gottes. Gott hat sich aus dem Leben der Menschen nicht zurückgezogen, sondern er greift ein im Reden und Handeln des Menschen Jesus von Nazareth.
Gebet plus Handeln gleich Barmherzigkeit
Haben wir das verstanden, daß Gott uns in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, so können wir dem zweiten Schritt folgen, den der Weg der erzählten Predigtgeschichte nahelegt. Jesus scheint zu merken: Alleine schafft er all das nicht, was er sich vorgenommen hat. Also teilt er seine Macht auf, damit möglichst viele Menschen von der Barmherzigkeit Gottes erfahren. Jesus überträgt seine göttliche Vollmacht auf die Jünger und Apostel. Wie er sollen sie Kranke heilen. Wie er sollen sie Dämonen austreiben. Wie er sollen sie das Evangelium verkündigen.
Das hört sich wie eine Überforderung an, aber das täuscht. Es geht nicht um ein rein sozialethisches oder politisches Aktions- und Reformprogramm. Das ist das Mißverständnis des Kirchentags: Er wird als politisches Spektakel gestaltet, weil sich die Kirchenleute davon einmal alle zwei Jahre öffentliche Aufmerksamkeit versprechen. So erzeugt man aber nur kurzlebigen Aktionismus, der schnell wieder verpufft, wenn Kameras und Mikrofone abgeschaltet sind.
Das Handeln Jesu lebt keinesfalls davon, daß er nach öffentlicher Aufmerksamkeit schielt. Das Handeln Jesu lebt nachhaltig aus dem Vertrauen auf Gott. Bei der Geschichte aus dem Matthäusevangelium wird oft der Anfang der Aufforderung Jesu überhört: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende.“ Am Anfang steht das Gebet: Es ist der Anfang aller seelsorglichen, ethischen und politischen Handlungen. Wer handeln und politisch wirken will, sollte sich zunächst auf Gott besinnen.
Das klingt so ähnlich wie die ebenfalls kluge Regel, nach der man nachdenken soll, bevor man anfängt zu handeln und zu sprechen. Die zweite Regel ist wichtig und vernünftig, die erste Regel aber führt einen Menschen darüber hinaus in eine neue Lebensperspektive. Denn im Lichte Gottes stellt sich manches anders dar als im Licht der Vernunft und der nüchternen, pragmatischen Lebensbetrachtung.
Das Gebet, das am Anfang allen Handelns steht, verändert das Handeln von Menschen. Wer vor dem Handeln mit dem Gebet anfängt, der fragt: Was dient der Bewahrung und Erhaltung der Schöpfung? Wie macht mein Handeln Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Liebe unter den Menschen bekannt?
Wer sich durch das Beten verändern läßt, der muß auch nicht vor den Aufgaben zurückschrecken, die der Mensch aus Nazareth stellt: das Evangelium verkünden, Kranke heilen und Dämonen austreiben. Ich lasse Überlegungen beiseite, was es heute heißen könnte, Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben. Etwas anderes erscheint mir noch wichtiger.
Menschen sind wichtiger als Dinge
Wir lernen Gott im Handeln und Glauben Jesu kennen. Und Jesus überträgt seine Vollmacht auf die Jünger. Nächster Schritt: Die Geschichte aus dem Matthäusevangelium nennt in einer Liste diejenigen zwölf Jünger, die Jesus mit seinem besonderen Auftrag bedenkt. Viele messen dieser Liste keine besondere Bedeutung bei. Was interessieren mich die Namen von Menschen, die seit langem tot sind? So könnte man fragen und hätte damit den tieferen Sinn dieser Liste verfehlt.
Denn wenn das richtig ist, daß Gott durch die Menschen handelt, daß wir ihm nirgendwo anders begegnen als in anderen Menschen, dann sind wir geradezu gezwungen, auch die Namen dieser anderen Menschen zu kennen und dauerhaft in der Erinnerung zu bewahren. Der Glaube an Gott entsteht aus der Begegnung mit anderen Menschen. Damit Glaube entstehen kann, braucht ein jeder von uns Menschen, die wir kennen, die wir ansprechen und mit Namen nennen können.
Um einen anderen ohne Zögern ansprechen zu können, muß ich seinen Namen kennen. Der so wichtige Name gewinnt seine besondere Bedeutung aus der Person, die ihn trägt, und aus der unverwechselbaren Geschichte, die mit dieser Person verknüpft ist. Der Name vertritt die Person und ihre Lebensgeschichte und das, was sie mit uns verbindet. Deswegen klingt eine trockene Liste mit Namen nur an der Oberfläche ganz harmlos: Je mehr gute Geschichten ein Mensch mit den Namen solch einer Liste verbinden kann, desto mehr lädt sie sich mit guter Bedeutung auf. Wenn wir vom Glauben erzählen wollen, dann können wir nicht einfach eine Liste mit Erkenntnissen herunterbeten. Sondern wir müssen von den Menschen erzählen, die Glauben und Gottvertrauen bewußt oder unbewußt, beabsichtigt oder unbeabsichtigt in uns geweckt haben. Und deswegen ermuntert die Liste mit den Namen der Apostel, in Gedanken eigene Listen zu erstellen mit denjenigen Personen, die uns für den Glauben hilfreich waren. Wer könnte dazu gehören?
Die Mutter, die täglich und unbeirrbar das Abendgebet sprach;
der Onkel, der zur Anmeldung im Konfirmandenunterricht ermunterte, trotz aller Zweifel;
die Patentante, die die erste Kinderbibel schenkte;
der Freund, der zu nächtelangen Diskussionen über Gott und die Welt bereit war;
die Nachbarin, die einen Kuchen brachte und Trost spendete, als ein guter Freund gestorben war.
Jeder kann für sich selbst solche Listen anfertigen. Er kann die Menschen aufzählen, die wichtig waren für den eigenen Glauben. Er kann die Menschen aufzählen, die mit mir selbst in der Taufe verbunden sind. Solche Listen sind verdichtete und konzentrierte Lebensgeschichten.
Erbarmen für die Schmachtenden
Gott begegnet uns in anderen Menschen. Glaube und Vertrauen wachsen aus der Begegnung mit anderen Menschen. Entscheidend ist der barmherzige Gott, der für die Menschen eintritt. Denn alles Handeln der Menschen hilft nichts, wenn Gottes Barmherzigkeit in diesem Handeln nicht erkennbar ist. Darum steht das Gebet am Anfang jeden Handelns, sei es politisch oder privat. Am Ende will ich Aufmerksamkeit nochmals auf den Beginn der Matthäus-Geschichte richten. Dort heißt es: „Und als [Jesus] das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe (…).“ Vieles in dieser Gesellschaft ist in der Tat so gestaltet, daß Menschen verschmachtend und jammervoll darunter leiden.
Gott begegnet uns gerade in diesen Menschen, die leiden und „schmachten“. Die Anhänger Jesu, Jünger und Apostel werden besonders an die Leidenden verwiesen, an die Kranken. Gott steht dieser Welt nicht gleichgültig gegenüber. Er ist ein Gott, der sich erbarmt. Diese vertrauensvolle Botschaft geben wir weiter, weil sie uns selbst zu Glauben und Vertrauen gebracht hat.
Amen.