Raum geben zu einer neuen Hoffnung
Jesus strahlt eine Macht aus, die Recht und Gnade in das richtige Verhältnis setzt
Predigttext: Johannes 8, 3-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Ich habe die Übergangsverse Joh 8,1-2 (Jesus aber ging zum Ölberg. Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm und er setzte sich und lehrte sie.) in den Predigttext mit einbezogen. Nach meiner Überzeugung ist es zu kompliziert, der Gemeinde die schwierigen literarkritischen Unterscheidungen zu erläutern, die zu dem begründeten Urteil führten, diese Geschichte sei im ursprünglichen Johannesevangelium nicht enthalten gewesen. Wer daraus auf eine „evangelische Abwertung“ der Geschichte schließen will, der sollte nicht über diesen Text predigen. Der muss sich allerdings auch im Klaren sein, dass die Geschichte eine Fülle von theologisch wie exegetisch interessanten Elementen enthält, die man der Gemeinde nicht vorenthalten sollte. Homiletisch stellt sich vor allem die Frage, wie man den in der Neuzeit verblassten Begriff des Ehebruchs verarbeitet. In der nachfolgend vorgestellten Predigt habe ich dazu den Film „Der Blaufuchs“ (Deutschland 1938, 96 Minuten, Regie Viktor Tourjansky, mit Zarah Leander, Willy Birgel, Paul Hörbiger, Jane Tilden und Karl Schönböck) herangezogen, vor allem wegen des Chansons „Kann denn Liebe Sünde sein?“, den im Film die bekannte Zarah Leander singt. Weitere Informationen über den Film lassen sich leicht den entsprechenden Datenbanken und Filmportalen im Internet entnehmen. Aus dem Vergleich beider Geschichten lässt sich predigend Erhellendes für die Auslegung des Evangeliums ableiten. Dafür würde sich jedoch auch eine andere Parallelgeschichte aus der griechischen Antike eignen: Die griechische Hetäre Phryne gelangte im antiken Athen wegen ihrer Schönheit zu großem Reichtum. Mehrere bekannte Bildhauer porträtierten sie oder nahmen sie als Vorbild für Götterstatuen. Im Wikipedia-Artikel dazu heißt es: „Angeblich soll niemand in der Lage gewesen sein, ihren Reizen zu widerstehen. Durch ihre Anmaßung, ihre Schönheit könne mit der der Aphrodite mithalten, wurde sie der Asebie (Gottlosigkeit) angeklagt. Diese Anklage gestaltete sich alsbald zu einem heftigen Skandal in ganz Athen. Der Legende nach soll Phryne vor einem Gericht (gebildet aus dem Areopag) ihre Haare herabgelassen, ihr Gewand abgelegt und den Versammelten ihren nackten Körper als "Beweismittel" vorgebracht haben. Weiter berichtet die Sage, dass sie daraufhin freigesprochen wurde. - Eine andere Version besagt, dass Phryne von ihrem Liebhaber und Anwalt, dem Politiker Hypereides (Hypereídes, 389-322 v. Chr.), entkleidet und dann freigesprochen wurde. Diese Szene hielt der französische Maler Jean-Léon Gérome 1861 in seinem Bild „Phryne vor dem Areopag“ („Phryné devant l'aréopage“) fest.“ Dieses Bild lässt sich im Internet leicht recherchieren. Homiletisch spannend ist die Anklage wegen Gottlosigkeit, aber auch der Aspekt der Bloßstellung durch den Anwalt. Jesus als Fürsprecher und Anwalt der Ehebrecherin entlarvt wie der Anwalt die Ankläger, aber – und das ist der entscheidende Unterschied – Jesus stellt die angeklagte Frau nicht bloß. Diese zweite Geschichte ist in der folgenden Predigt nicht verarbeitet.Lieder:
„Morgenglanz der Ewigkeit“ (EG 450, 1-3), „Jesus nimmt die Sünder an“ (EG 353,1-4), „Kommt her, ihr seid geladen“ (EG 213,1-4), „Hilf, Herr meines Lebens“ (EG 419)Liebe Gemeinde,
eine aufwühlende, keineswegs unumstrittene Geschichte, bei der die kleinen Details die entscheidenden Hinweise geben! Es mag Sie alle ein Erschrecken erfasst haben, als Sie von der drohenden Steinigung gehört haben, kurz darauf sofort wieder Erleichterung: Das hat der charismatische Mann aus Nazareth ja gerade so eben noch hingekriegt. Nicht auszudenken, wenn die arme Frau wirklich gesteinigt worden wäre. Und das Ende klingt dann plötzlich ganz harmlos.
Auf den ersten Blick ist das eine moralische Geschichte traditioneller Alltagsethik: Seid vorsichtig mit euren Urteilen über andere Menschen. Hütet euch vor dem schnellen Urteil! Denn wer kurz angebunden andere verurteilt, verurteilt damit möglicherweise auch sich selbst.
Ich will dieser ebenso erschreckenden wie merkwürdigen und doch faszinierenden Geschichte aus dem Johannesevangelium eine andere, jüngere Geschichte gegenüberstellen. Ein Universitätslehrer ist mit einer Ungarin verheiratet. Der Professor muss viel arbeiten, die Ehefrau langweilt sich, und sie lernt bei einer Reise einen Piloten kennen, auch er ein Ungar. Die Ehefrau verliebt sich in den Piloten. Und der Pilot verliebt sich in diese elegante Frau. Um so bestürzter ist er, als er merkt, dass seine neue Geliebte verheiratet ist. Und er erschrickt sich richtig, als er in dem Ehemann einen alten Freund aus Studientagen erkennt. Deswegen bricht er die Beziehung zu der Geliebten ab. Wenig später beginnt das umgekehrt: Der Universitätslehrer fängt ein Verhältnis mit seiner wissenschaftlichen Assistentin an. Die ungarische Ehefrau trennt sich von ihrem Mann und beginnt nun ein zweites Mal die Liebesgeschichte mit dem Piloten. Und der Pilot muss seine Gefühle nicht mehr verbergen. Beide Paare werden glücklich.
Das klingt ein wenig nach geplantem Happy End. Und das ist es auch. Die Geschichte kommt nicht aus dem wirklichen Leben, sondern von der Bühne. Was ich erzählt habe, ist die Geschichte eines Theaterstücks, einer Boulevardkomödie. Die Geschichte aus dem Johannesevangelium und die Boulevardkomödie variieren beide das Thema Ehebruch. Jesus schreibt mit dem Finger in den Sand und rettet die von der Steinigung bedrohte Ehebrecherin. Der Autor der Boulevardkomödie sorgt mit heiteren Verwirrspielen dafür, dass am beide Teile des Ehepaars glücklich werden, jeder mit einem neuen Partner, der besser zu ihm passt.
Im Johannesevangelium werden wir zu Zeugen einer dramatischen Rettung vor dem Tod; in der Komödie erfreuen wir uns an einem schmerzlosen, heiteren Happy End. Jeder amüsierte Zuschauer räumt lächelnd, dass so etwas in Wirklichkeit nicht vorkommt. Die Boulevardkomödie wurde auch verfilmt, im Jahr 1938 vom Regisseur Viktor Tourjansky, ein harmloses Filmchen mit damals hochkarätigen Stars wie Willy Birgel und Paul Hörbiger, oberflächliche Unterhaltung, mit der die Nazis von ihren Mord- und Kriegsplänen ablenken wollten. Die Rolle der ehebrechenden Ungarin, der Ehefrau des Professors, spielte die wunderbare schwedische Schauspielerin Zarah Leander, die nicht nur schauspielen, sondern auch mit rauchiger, tiefer Stimme singen konnte.
Neben dem Thema Ehebruch haben die beiden Geschichten, die aus dem Evangelium und die aus dem Boulevardtheater, eine weitere Gemeinsamkeit: Die Geschichten werden nicht als Selbstzweck erzählt, sondern in beiden Geschichten sind Deutungen und Interpretationen angelegt. Auch den Zuschauer, der Unterhaltung sucht, treffen moralische Hinweise. Im Boulevardtheater oder im Film geht das ganz einfach: Die ungarische Ehefrau singt ein Lied, und in dieses Lied packt sie die Moral der Geschichte. Das Lied kennen Sie alle, vor allem Zarah Leander singt. Es heißt: „Kann den Liebe Sünde sein?“ „Frag’ ich voll Bescheidenheit
mit lächelndem Gesicht:
Kann denn Liebe Sünde sein?
Darf es niemand wissen,
wenn man sich küsst,
wenn man einmal alles vergisst,
vor Glück? (…)
Niemals werde ich bereuen,
was ich tat,
und was aus Liebe geschah,
das müsst ihr mir schon verzeihen,
dazu ist sie ja da!“
Zarah Leander in der Rolle der ungarischen Ehegattin singt uns die lockere Moral dieser Geschichte vor. Sie braucht keinen Jesus, der sie vor einer Steinigung rettet. Ihre Botschaft lautet: Gefühle sind wichtiger als Regeln. Und wenn ein Gefühl wie die Liebe überhand nimmt, dann wird jeder verständnisvoll die Regeln und Konventionen nicht ganz so ernst nehmen. Wo es stört, nehmen wir die Regeln nicht ganz so ernst. An diesem Punkt aber ist die ältere Evangeliumsgeschichte spannender als die moderne Theatergeschichte: Auch Jesus von Nazareth, der vor den Schriftgelehrten in den Sand malt, setzt Regeln außer Kraft.
Werfen wir darum einen näheren Blick auf die Geschichte von der Ehebrecherin, so erleben die Zuhörer und Leser der Geschichte eine Überraschung nach der anderen. Die Schriftgelehrten und Pharisäer wollen sich streiten und den Mann aus Nazareth provozieren. Und das ist ja aller Ehren wert, denn Streit, Debatte und Diskussion haben nicht nur in der biblischen Theologie Glauben und Gewissheit stets vorangebracht. Aber der im Diskutieren so versierte Mann aus Nazareth lässt sich auf eine theologisch-rechtliche Debatte nicht ein. Er hockt sich auf den Boden und malt im Sand. Er verlässt die Augenhöhe mit den Schriftgelehrten und nimmt eine geduckte Körperhaltung ein. Sie gestattet nur den Blick von unten nach oben.
Eine weitere Überraschung: Man erwartet eigentlich so etwas wie eine Gerichtsverhandlung. Zeugen sollten auftreten, um den Ehebruch zu bestätigen. Das fünfte Buch Mose sagt, dass vor einer Steinigung wegen Ehebruch mindestens zwei Zeugen den Ehebruch bestätigen müssen. Aber die Gerichtsverhandlung findet nicht statt. Die Kläger bringen keine Anklage hervor. Der ebenfalls mit anzuklagende Mann, der am Ehebruch ja beteiligt gewesen sein muss, ist nirgendwo zu sehen. Und der Sandmaler Jesus nimmt die Anklage zurück. Überraschend klagt er die Kläger an: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Und später nimmt er auch die Anklage gegen die Frau zurück.
Eine dritte Überraschung: Die, die um Jesus und die angeklagte Frau herum stehen, kennen mit Sicherheit die Bibel. Sie wissen, dass bei Ehebruch die Ehebrecherin und der Ehebrecher mit der Todesstrafe bestraft werden. Und die Zeugen sind es dann, die bei dieser grausamen Hinrichtungsart die ersten Steine werfen sollen. Sie sollen das deshalb tun, um zu verhindern, dass leichtfertig Anklagen wegen Ehebruchs erhoben werden. Aber die Hinrichtung findet nicht statt – ebenso wie das Streitgespräch nicht stattfindet. Im Laufe der Geschichte gehen die Kläger und die Angeklagte einfach nach Hause.
Der genauere Blick auf die Geschichte zeigt uns ein geplantes, provoziertes Streitgespräch, das in einem kurzen Dialog zwischen Jesus und der Ehebrecherin endet. Er zeigt uns eine strenge Gerichtsverhandlung, die sich nach und nach auflöst. Wo alle Kläger nach Hause gegangen sind, kann auch niemand mehr richten. Und er zeigt uns eine grausame Hinrichtung, die nicht stattfindet.
Niemand spricht.
Niemand richtet.
Niemand tötet.
Die Geschichte der Ehebrecherin ist eine Geschichte der Unterlassungen. Und die Geschichte lässt uns mit drei Rätseln zurück: Was hat Jesus in den Sand geschrieben? Was haben die Ältesten und Pharisäer gedacht, als sie nach Hause gingen? Was hat Jesus gemeint, als er die Frau aufforderte, in Zukunft nicht mehr zu sündigen?
Was hat Jesus in den Sand geschrieben? Jesus bückt sich vor den Schriftgelehrten, die ein Streitgespräch auf Augenhöhe erwarten. Er zeichnet in den Sand, vielleicht schreibt er, vielleicht malt er. Jedenfalls scheint ihn niemand aus der Ruhe bringen zu können. Dem kundigen Bibelleser fällt vielleicht das Gesetz des Sinai ein, die Tora der fünf Bücher Mose, nach dem die Ehebrecherin verurteilt werden soll. Dieses Gesetz, vor allem die zehn Gebote, schrieb Gott mit seinem Finger auf zwei steinerne Tafeln (2 Mose 31,18). Gott schreibt nach biblischer Vorstellung auf Stein, und Jesus schreibt auf Sand. Sand und Erde sind flüchtig, die nächste Windböe kann bereits das Geschriebene unwiederbringlich zerstören. Man muss hier nicht einen Gegensatz zwischen dem steinernen Gesetz Gottes und der sandigen, vergänglichen Liebe des Jesus von Nazareth heraushören. Aber Jesus strahlt bei seinen Sandschriften offensichtlich eine Souveränität aus, gegen die die gesetzestreuen Schriftgelehrten und Ältesten nicht ankommen.
Was mögen darum diese Ältesten und Pharisäer gedacht haben, als sie beschämt nach Hause gingen? Sie schämten sich, weil sie in ihrem Inneren wussten, dass sie genauso Fehler begangen hatten wie die Ehebrecherin. Und sie schämten sich, weil die Aufforderung Jesu genau unter die blütenweiße Oberfläche gezielt hatte: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Wer dem nachkommen würde, der müsste von sich sagen können: Ich habe noch nie gesündigt, noch keinen Fehler begangen. Aber wer könnte das von sich sagen? Aus Scham kann leicht Zorn hervorgehen. Ich kann mir gut vorstellen, die Schriftgelehrten waren nach diesem verhinderten Streitgespräch wütend auf Jesus, weil er sie entlarvt hatte. Das Gesetz kann nicht allein nach dem Buchstaben ausgelegt werden. Aber dieses letzte ist nicht mehr als eine Vermutung von mir, die Geschichte im Evangelium schweigt sich darüber aus.
Was hat Jesus gemeint, als er die Frau aufforderte, in Zukunft nicht mehr zu sündigen? Beim ersten Überlegen muss man meinen, diese Aufforderung könne sich nur auf den Ehebruch beziehen. Aber „Sündigen“ und „Ehebrechen“ sind nicht dasselbe. „Sündige hinfort nicht mehr“ bedeutet viel eher „Bleibe in der Liebe Gottes“. Die Gebote werden dir dabei helfen und dich unterstützen.
Alle diese drei Rätsel, der beschriebene Sand, die schamhaften Pharisäer und die Frau, die der Hinrichtung entkommen ist, weisen wie unmissverständliche Hinweisschilder auf denjenigen, der im Mittelpunkt steht. Im Mittelpunkt dieser ausgefallenen Gerichtsverhandlung, im Mittelpunkt dieses ausgefallenen Streitsgesprächs und im Mittelpunkt dieser ausgefallenen Hinrichtung steht der Mensch und Gott Jesus aus Nazareth.
Statt zu streiten schweigt er. Statt zu urteilen fragt er. Statt zu strafen ermuntert er. Mit all dem hätte der Mensch aus Nazareth noch mehr Widerspruch hervorrufen können. Die Schriftgelehrten hätten aggressiver fragen können. Die Frau hätte sofort fliehen können, nachdem die Ankläger sich schamhaft verzogen hatten. Am Ende steht der Sohn des Zimmermanns allein im Tempel, vor sich die Schrift im Sand, die niemand je gelesen hat. Und wir sind angelangt bei der Botschaft, die sich durch das ganze Evangelium wie ein roter Faden zieht: Aufregend ist nicht, dass Jesus in einer Diskussion Recht behält. Aufregend ist auch nicht, dass Jesus ein Urteil über die Ehebrecherin ablehnt. Das Aufregende, das, was uns heute noch anspricht, ist die Souveränität, die – man muss das so sagen – Macht, die Jesus ausstrahlt. Denn es ist eine barmherzige und gnädige Macht. Sie spielt nicht Liebe gegen Regeln aus, wie es die Schriftgelehrten versuchen. Sie rettet sich auch nicht in die Scheinlösung eines Happy End – wie beim kitschigen und leicht durchschaubaren Film. Es ist eine Macht, die Recht und Gnade in das richtige Verhältnis setzt. Recht und Gnade und Liebe werden so bestimmt, dass sie die Menschen nicht mehr zwingen, sondern befreien, retten (vor der Todesstrafe) und ihnen Raum geben zu neuer Hoffnung.
Amen