Man sieht nur mit dem Herzen gut

Kirche Jesu Christi als geheilte, sehende und heilende Gemeinschaft

Predigttext: Johannes 9,1-7
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 29.07.2007
Kirchenjahr: 8. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Johannes 9,1-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Exegetisch-homiletische Vorbemerkungen:

Die homiletische Schwierigkeit und zugleich Herausforderung ist die Doppelbödigkeit des Bibeltextes, eine besondere Eigenart nicht allein des johanneischen Kerygmas. Da ist auf der einen Seite von der (Wunder-) Heilung eines von Geburt an blinden Menschen durch Jesus die Rede (9, 1 - 7). Auf der anderen Seite – wie die an die Heilung sich anschließenden und in der Predigt nicht außer Acht zu lassenden Auseinandersetzung (9, 8 - 41) zeigt – von einem tieferen Sehen, von dem Jesus spricht, das ihn als den Menschensohn, das Licht der Welt erkennt und von dem gesunden Augenlicht unabhängig ist. Weil es dies gibt, dass wir sehenden Auges blind sein können. "Man sieht nur mit dem Herzen gut", heißt es in der Erzählung "Der kleine Prinz" von Antoine Saint-Exupéry. "Sind wir denn auch blind?" (9, 40) - diese Frage der Pharisäer am Ende der sich an die Heilung anschließenden Auseinandersetzungen zu übergehen, würde die oben genannte Doppelbödigkeit des Bibeltextes außer Acht lassen und damit etwas ganz Bedeutendes in der Erzählung des Heilungswunders verfehlen, nämlich die "symbolische Einkleidung inwendiger Erfahrungen" (W. Stählin). Die in die Predigt integrierte (Orgel-) Musik - die Orgelchoräle nehmen Aspekte des Bibeltextes auf - möchte den Hörenden an gewichtigen Stellen ein Innehalten, gleichsam ein Sehen nach innen, ermöglichen, Zeit zum Nachdenken, zur kreativen "Seelenarbeit".

Lieder:

„Morgenglanz der Ewigkeit“ (EG 450) , „Christus, das Licht der Welt“ (EG 410), „Strahlen brechen viele“ (EG 268), „Hilf, Herr, meines Lebens“ (EG 419).

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Liebe Gemeinde!

“Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war” – das Evangelium von der Heilung eines Blindgeborenen nimmt uns mit auf Jesu Weg zu den Menschen. Jesus sah einen Menschen – das könnte jede und jeder von uns sein. Damals war es ein von Geburt an nicht sehen könnender Mensch. Bis heute gibt es wie damals auch Blindheit im übertragenen Sinn.

Bedenken wir zunächst: Eltern erwarten ein gesundes Kind. Ein Kind, das strahlen wird, wenn sie mit ihm Blickkontakt aufnehmen, und dem sie die Schönheit und Buntheit der Welt zeigen wollen. Wie schwer muss es für sie sein, anzunehmen, dass es so nicht gehen wird. Ist es nicht verständlich, wenn sich diese Eltern fragen: Womit habe ich/haben wir das verdient? Von solchen Familien erfahren wir: Eine Familie mit einem behinderten Kind ist auch eine behinderte Familie, weil sie immer wieder Hindernisse überwinden muss. Sie kann nicht das so genannte normale Leben führen wie andere, davon fühlt sie sich und ist tatsächlich oft wie ausgegrenzt. Wir dürfen hier nicht romantisieren, die Behinderung betrifft alle, als Sorge, als Aufgabe, als tägliche Herausforderung.

Und wie mag es dem Menschen gehen, der blind zur Welt kommt? Wie nimmt er die Welt wahr, um zu verstehen? Er muss seine anderen Sinne – tasten, fühlen und hören – viel stärker nutzen, weil Menschen wie er eine ganz wichtige Sprache nicht wahrnehmen können: die Körpersprache, die so viel über jeden Menschen aussagt. Er ist auf die “Zwischentöne” der Sprechenden angewiesen und auf Beschreibungen. Er kann lernen, zurechtzukommen. Aber quält nicht auch ihn die Frage: Warum gerade ich?

Orgelchoral zu EG 74, 4 Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht, führ uns durch Finsternis zum Licht

Entlastend ist die Antwort Jesu auf die Frage, wer angesichts der Krankheit gesündigt habe, der Behinderte oder seine Eltern: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Jesus weist den Zusammenhang von Sünde und Krankheit entschieden zurück und setzt einer nicht nur damals gängigen Meinung entgegen: “Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm”. Diese Worte Jesu wären allerdings gründlich missverstanden, wenn wir heraushören, Gott lasse einen Menschen behindert zur Welt kommen, nur damit Jesus ihn heilen und sich damit – und Gott selbst – profilieren kann. Das Wunder liegt nicht in der Vorherbestimmung, sondern in dem Augenblick der Begegnung, darin, dass Jesus den Menschen, der ihm blind begegnete, sah, ihn wahrnahm und nicht an ihm vorbeiging. Jesus erkennt, sieht: Da ist jemand, der Hilfe braucht.

Jesus weiß um das Gebot der Stunde: “Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann”, sagt Jesus, und: “Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt”. Die Nacht darf nicht die Oberhand gewinnen. Jesu Licht muss leuchten.

Orgelchoral zu EG 72, 1 „O Jesu Christe, wahres Licht“

Die Werke Gottes werden auch heute noch offenbar, wenn wir “gegen allen Augenschein” glauben, darauf vertrauen können, dass in den dunkelsten Lebenssituationen Gott bei uns ist und uns nicht allein lässt. Die Werke Gottes werden an uns offenbar, und Gott wirkt in uns seine Werke, wenn uns die Leiden der anderen Menschen samt allem Leid der Welt berühren, wenn wir hinschauen, nicht wegschauen, wenn wir sie vor Gott bringen, sie Gott zeigen.

Jesus wendet sich dem blind geborenen Menschen zu und handelt wie ein Wunderheiler, indem der dem Blinden einen aus Erde und Spucke gerührten Brei auf die Augen streicht. Eigenartig die Prozedur Jesu. Genügte es nicht, dass die Augen des Blinden schon seit Geburt verschlossen waren, muss Jesus sie noch einmal mit Erde gleichsam verschließen? Haben wir es jetzt mit einer doppelten Blindheit, einer inneren und äußeren, zu tun?

Jesus fordert den Erblindeten dann aber überraschend auf, den (heilenden) Erdschlamm, den er ihm auf die kranken Augen gestrichen hatte, im Teich Siloah abzuwaschen. Jesus lässt den Blinden selbst tätig werden, er muss sich auf den Weg machen. Der Blinde konnte Jesus nicht sehen, aber er hörte ihn, und er tat, was er gehört hat: er folgte der Aufforderung Jesu. Dieses Sich-auf-den-Weg-machen des in der Blindheit noch Gefangenen brachte ihm die Heilung. Der sich nach dem Licht sehnende Mensch muss die Chance seines Lebens ergreifen. Die göttliche Gnade des Heils und der menschliche Glaube sind hier aufs engste miteinander verbunden, sie treten in eine unmittelbare Beziehung. Der Name des Teiches Siloah, an dem der Blinde seine “Erleuchtung” hatte, heißt auf deutsch – wie ausdrücklich im hebräischen Bibeltext vermerkt wird – “gesandt”.

Dadurch wird hervorgehoben: Der Geheilte soll seine (Gottes-) Erfahrung nicht für sich behalten. Gott sendet ihn in die Welt, ins Leben, damit auch für andere Menschen Tag wird. Damit leuchtet bereits eine Symbolik auf, die in das Leben eines jeden Menschen greift, der gesunde Augen hat und meint sehen zu können?

Orgelchoral zu EG 161, 3 „O du Glanz der Herrlichkeit, Licht vom Licht, aus Gott geboren“

An dieser Stelle bekommt die Bibelgeschichte die wichtige Bedeutung für diese andere Art von Blindheit, besonders deutlich in der Auseinandersetzung in den frommen Kreisen, die sich der Heilung anschließt. Die Auseinandersetzung mündet in die Frage der Pharisäer: “Sind wir denn auch blind?” Gut, wenn auch wir (so wir gesunde Augen haben) uns dieser Frage stellen. Denn das gibt es tatsächlich: Wir können sehenden Auges blind sein. Antoine Saint-Exupéry lehrt uns in seiner Erzählung “Der kleine Prinz”: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar”. Hat vielleicht auch Jesus diese Wahrheit mit dem Auftragen des Erdbreies verdeutlichen wollen, der ja noch mehr von der Außenwelt abschirmte und eher den Blick nach innen lenkte?

Sind wir die blinden Pharisäer/Pharisäerinnen auf den Kirchenbänken? Wer möchte sich so etikettieren lassen? Fällt es uns aber nicht selten schwer, dort hinzuschauen, wo es nötig ist? Und manchmal schauen wir mit Herzklopfen weg, stecken den Kopf in den Sand nach der Devise “was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß”! Wie oft hat die Kirche weggeschaut? Wie viele Christen/-innen schauen heute weg, wenn andere Menschen in Gefahr sind, ihnen ihre Würde und ihr Leben genommen wird? Sogar der Glaube kann blind machen, daran erinnern die Kriege, die unter Missbrauch des Namens Gottes geführt wurden und werden, auch die Kleinkriege in unserer Gemeinde und Gesellschaft.

Kennen wir das nicht an uns selbst? Hinschauen kostet Zeit, Mühe, Zivilcourage, Stehvermögen. Es ist nicht einfach, wenn ich sehe, dass ich mich einmischen muss, z.B. wenn in der Nachbarwohnung ein Kind schreit und sich nicht beruhigt oder ein Geschrei zwischen Erwachsenen zu hören ist, wenn ich Bedrohung merke und meine (Nachbarschafts-) Hilfe gefordert wird. Werden wir uns von fremdem Leid bewegen lassen und etwas unternehmen? Wünschen wir uns zuweilen nicht selbst, dass andere uns wahrnehmen und zur Seite stehen, wenn wir Hilfe brauchen? Wer wartet in solchen Lebenssituationen nicht auf ein Wunder, z.B. in schwerer Krankheit, dass mir jemand zu Hilfe eilt. Es gibt bis heute dieses Wunder. Wir können es nicht erklären, wenn der eine Mensch geheilt wird und dem anderen nicht geholfen werden kann. Und wer wünscht nicht den acht Millionen Behinderten in unserem Land und den Abermillionen auf der ganzen Welt, dass für sie das ersehnte Wunder geschieht!

Meditative (Orgel-) Musik

Gibt es auch Wunder für all die Menschen, die meinen, sehend zu sein? Ja – und ob! Es ist ein Wunder, wenn Fremde, uns fremde Kulturen und Religionen, nicht als bedrohlich empfunden werden, sondern als eine menschliche Bereicherung. Es ist etwas Wunderbares, wenn uns von irgendwoher Hilfe kommt, mit der wir nicht gerechnet haben. Nicht zu vergessen die täglichen kleinen Wunder wie der Löwenzahn, der den Asphalt durchbrochen hat, Begebenheiten, für die wir oft blind sind. Das größte Wunder aber ist, wenn wir mit Jesus den Mut finden, so im Vertrauen auf Gott zu leben, wie Jesus es uns vorgelebt hat. Dann werden die Werke Gottes offenbar, und es hat nicht die Nacht die Macht über uns, sondern der Tag bestimmt uns und mit ihm das Licht, das uns hinweist auf den Christus Gottes. In dem Namen Jesus ist das ganze Wollen Gottes, sein Wohlwollen und sein Gott-mit-uns-und-für-uns umschrieben. Jesus, hebräisch Jeschua, bedeutet: Gott hilft, rettet, heilt.

Von ihm innerlich erleuchtet werden wir für andere zum Licht und bringen die Frucht – das ist besonders die Liebe, die unser Handeln bestimmt, auf die Gott voller Hoffnung wartet. So sind wir die Kirche Jesu Christi – Kirche als geheilte, sehende und heilende Gemeinschaft, in der wir einander wahrnehmen, achtsam miteinander umgehen und immer wieder ‘ein Licht anzünden, wo die Finsternis regiert’.

“Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt”, mit diesen Worten hat sich Jesus an seine Jünger gewandt, die das Schicksal jenes von Geburt an blinden Menschen nicht unberührt ließ. Die Jünger erlebten, sahen es mit eigenen Augen, wie Jesus in das Dunkel der Not trat und wie es für den Menschen, der sich nach dem Licht sehnte, hell wurde. Es ist die Erfahrung, wie sie am Anfang des Johannesevangeliums ausgesprochen ist: “Das Licht scheint in der Finsternis”. Der Geheilte findet, wie wir später in der biblischen Geschichte noch erfahren, das Vertrauen zu Jesus, den Glauben. Der Glaube lehrt ihn, die Welt und alles Leid mit anderen Augen zu sehen. “Kyrie, ich glaube”, bekennt er, und er erkennt in Jesus selbst das Licht, das er zum Leben braucht.

In dem Lichtschein, der von Jesus ausgeht, ruft uns der Wochenspruch zu (Epheser 5, 8f.): “Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit”. Jesus, das Licht der Welt – in ihm hat Gott das Leben aufleuchten lassen, und ‘in seinem Licht sehen wir das Licht’.

Amen.

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