Verkörperter Glaube
Gastgeber und Gäste begegnen sich auf Augenhöhe
Predigttext: Lukas 7,36-50 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(36) Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. (37) Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl (38) und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl. (39) Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. (40) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! (41) Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. (42) Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? (43) Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. (44) Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. (45) Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. (46) Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. (47) Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. (48) Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. (49) Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? (50) Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“Liebe Gemeinde!
Eine schweigende Dame
Simon, der Pharisäer wundert sich doch sehr und stellt aufgeregt eine ganze Reihe von Fragen. Jesus erzählt ein Gleichnis, er vergibt Sünden und er erteilt seinen Segen. Aber die Hauptperson, die Sünderin schweigt. Sie bringt ein Gefäß mit Salböl mit. Sie weint. Sie wäscht Jesus die Füße. Sie küsst seine Füße. Sie reibt sie mit Salböl ein. Und am Ende verlässt sie gesegnet und getröstet das Gastmahl. Kein Wort hat sie gesprochen. Wundert es Sie nicht auch, liebe Schwestern und Brüder, dass die Hauptperson stumm bleibt? Sie redet nicht. Außer ihrem Schluchzen ist nichts zu hören. Und dennoch ist es so: Das Schweigen der Hauptperson spricht zu uns. Es macht einen Lärm, der nicht überhört werden kann.
An die Leerstelle des Schweigens treten in dieser evangelischen Geschichte die Bewegungen und Berührungen, Gesten und Gefühle. Und all das ist schwierig einzuordnen in unser behäbiges Koordinatensystem aus gesellschaftlicher Konvention und beruhigender Normalität. Für unsere modernen Augen und Ohren fällt die Dame, die als Sünderin bezeichnet wird, aus der Rolle, die unsere Erwartungen steuert. Sie schweigt und hat dennoch viel zu sagen. Das könnte auch daran liegen, dass unser Unverständnis in unseren falschen Erwartungen begründet ist: Salböl gehört nicht mehr zu unseren normalen Umgangsformen. Und im Zeitalter von Gummistiefeln, Sandaletten und Flip-Flops ist die Fußwaschung aus der Mode mit wenigen Ausnahmen aus der Mode gekommen. Das war einmal anders.
Ein vergessenes Ritual
Der Blick in die biblische und die antike Kulturgeschichte offenbart, dass die Fußwaschung durchaus in den Kanon üblicher Gepflogenheiten der Gastfreundschaft gehörte. Für unseren bequemen Blick der Moderne zeigt sich in der Lukasgeschichte eine Frau, die ihre Gefühle nicht mehr im Griff hat. Die antiken Zeitgenossen dieser Frau hätten diese Sicht kaum nachvollziehen können. Denn für sie war Gastfreundschaft ein hohes Ideal. In einer Welt ohne Email und Fernsehnachrichten zur Prime Time waren Gäste hochwillkommene Nachrichtenlieferanten. Wer längere Reisen unternahm, setzte sich großen Gefahren aus und er konnte nicht auf ein via Internet zu bedienendes Hotelbuchungssystem zurückgreifen. Wer Reisen unternahm, war auf die Hilfe von unbekannten Gastgebern angewiesen, auf das Vertrauen und auf die Einladungen von Helfern, die für Unterbringung und Körperhygiene, Schlafgelegenheit und Nahrungsaufnahme sorgten. Gastfreundschaft galt den antiken Menschen als eine Tugend, in der Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Anteilnahme über Vorsicht, Misstrauen und Angst triumphierten. Gastgeber und durchreisende Gäste traten sich in eingespielten Ritualen der Höflichkeit gegenüber. Gäste und Gastgeber wussten was zu tun ist, wenn sie sich zum ersten Mal begegneten. Und zu diesen in der Antike selbstverständlichen Ritualen gehörte auch die Fußwaschung.
Das ist eine banale Erkenntnis: Fußwaschungen wurden in Gegenden erfunden, in denen staubige Straßen und Wege das Reisen zu einer schmutzigen und anstrengenden Angelegenheit machten. Deshalb reinigten sich die reisenden Gäste sorgfältig, bevor sie das Haus oder das Zelt des Gastgebers zum Essen und Schlafen betraten. Und umgekehrt war es die höfliche Pflicht des Gastgebers, für diese Reinigung von den staubigen Reisestrapazen das nötige Wasser zur Verfügung zu stellen. Das Angebot der Fußwaschung zählt nicht nur zu den antiken, sondern auch zu den Einstellungen biblischer Höflichkeit. Drei Männer, die sich später als Boten Gottes erweisen werden, besuchen Abraham und Sara vor ihrem Nomadenzelt. Sie erhalten zuerst Wasser zur Fußwaschung. Erst danach setzen sie sich hin, um das gebratene Lamm zu verspeisen. Zwei weitere Engel besuchen den gerechten Lot in Sodom, und Lot bietet ihnen als erstes an, ihnen die Füße zu waschen. Auch deshalb wird seine Familie später als einzige vor der Zerstörung Sodoms gerettet. Das Füßewaschen, im Übrigen auch das Salben der Füße mit kostbarem Öl, gehörte in Antike und biblischer Zeit zum eingespielten Begrüßungsritual. Es war eine Selbstverständlichkeit, wie uns heute das Händeschütteln eine Selbstverständlichkeit ist.
Heute gelten andere Maßstäbe der Hygiene, und die Straßen sind nicht mehr staubig und die Schuhe besser geworden. Fußwaschungen sind in Vergessenheit geraten. Ich habe im Internet nur ein Bild gefunden, das eine Fußwaschung außerhalb des religiösen Kontextes zeigt. Auf dem Bild ist der indische Friedensnobelpreisträger Mahatma Gandhi zu sehen. Eine ältere Frau im Sari hat sich vor ihm niedergehockt und wäscht ihm, dem Apostel der Gewaltlosigkeit, die knochigen, braungebrannten Füße. Gandhi soll stets barfuss gegangen sein.
Demütigung und Erhöhung
Einen einzigen, übrig gebliebenen besonderen Ort hat die Fußwaschung auch heute noch, nämlich in der katholischen Meßliturgie des Gründonnerstags: Am Tag vor Karfreitag waschen der Papst, die Kardinäle und Bischöfe ihren Mitbrüdern und -priestern die Füße. Und sie tun das in Erinnerung an eine Erzählung des Johannesevangeliums, wonach Jesus den zwölf Jüngern die Füße wusch, was der erste in der Reihe der Päpste, der Apostel Petrus freilich zunächst ablehnt, bis er dann fordert, nicht nur die Füße, sondern auch Gesicht und Arme zu reinigen. Der allmächtige Gottessohn ordnet sich unter, und die Schwachen erfahren eine Erhöhung, die sie so nicht erwartet haben.
Das Ritual der Fußwaschung und gleichermaßen das Ritual der Salbung bringen die Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, von Stärke und Schwäche in Bewegung. Und das wirkt störend in einer Gesellschaft, die auf dem demokratischen Ideal der Gleichheit aufbaut. Wir sind es gewohnt, Unterschiede zu verwischen oder nicht zu beachten; wir verhalten uns ihnen gegenüber gleichgültig. Wenn Gastgeber Freunde zum Abendessen einladen, dann begrüßen sie sich mit einem Handschlag und blicken sich in die Augen. Gastgeber und Gäste begegnen sich auf Augenhöhe. Ja, es kommt geradezu darauf an, diese Augenhöhe während des ganzen Abends nicht zu verlassen, keinen der Gäste unnötig zu demütigen oder unnötig in die Höhe und den Himmel zu loben. Wo es doch geschieht, finden die Autoren von Theaterstücken das Grundmaterial für Komödien und Tragödien.
Weil wir es alle gewohnt sind, alle Menschen, die uns begegnen, formal und höflich als gleiche zu behandeln, erstaunt das Verhalten der schweigenden Frau, die mit dem Salböl so verschwenderisch die Füße des Gastes aus Nazareth einreibt. Diese vermutlich sehr reiche Frau – sie schweigt, sie salbt, sie weint, sie küsst die Füße eines fremden Mannes. Und wir alle, gewohnt an die Umgangsformen der Gleichheit, empfinden das Anstößige, den peinlichen Geschmack ihres Verhaltens: Sie erniedrigt sich selbst, macht sich schweigend zum Gegenstand hässlicher Vermutungen; und sie erhöht den Menschen aus Nazareth durch ihre Erniedrigung.
Die Frau ist reich, denn sonst würde sie kein Glas mit Salböl besitzen. Sie ist im Innern von Gefühlen bewegt, die sie zum Weinen bringen. In einer Kultur, die auf Gleichheit und Gleichrangigkeit beruht, wird diese Frau immer ein Rätsel bleiben. Die Würde aller Menschen ist unantastbar, heißt es in Kulturen der Gleichheit, und niemand soll gezwungen werden, diese Würde zu verspielen.Vor dem Hintergrund der antiken Gastfreundschaft stellt sich die gleiche Szene ganz anders dar: Dann erklärt sich das Füßewaschen und das Salben aus Ritualen der Gästebegrüßung.
Gott als Mensch
Und trotzdem wundert sich der Pharisäer Simon und wendet sich an seinen Ehrengast aus Nazareth: Du siehst doch, dass dir da eine Dame aus einem gewissen Milieu zu Füßen kniet. Aber davon lässt sich Jesus nicht beirren. Er sieht die Frau, die sich erniedrigt, in einer Mischung aus Konvention und Emotion, und er handelt nun seinerseits: Er erhöht die weinende Frau, die sich erniedrigt hat: Dir sind deine Sünden vergeben.
Eines fällt dabei sehr auf: Weiterhin findet diese Frau keine Worte. Sie spricht sich nicht aus. Und Jesus erwidert dieses Schweigen. Mit der Frau redet er gar nicht, dafür umso mehr mit dem Pharisäer Simon. Es hätte vielleicht nahe gelegen zu sagen. Liebe Frau Soundso, nun stehen Sie erst einmal auf. Beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas Wasser und essen Sie eine Kleinigkeit! Und wenn Sie sich beruhigt haben, dann erzählen Sie mir, was Sie so sehr bewegt. Nichts von alledem! Jesus ist weder Therapeut noch Seelsorger, sondern mehr: Er ist derjenige, der die Sünden vergibt. Jesus ist auch kein Richter. Er sagt auch nicht: Bitte beruhigen Sie sich, liebe Frau Soundso. Ich kann Ihnen selbstverständlich helfen. Aber vorher müssen Sie mir alles gestehen und beichten. Und dann will ich sehen, was ich für Sie machen kann.
Das Gastmahl bleibt ein Gastmahl. Es verwandelt sich weder in eine therapeutische Sitzung noch in eine Gerichtsverhandlung. Die Erinnerung oder die Durcharbeitung des Vergangenen ist nicht Bedingung für diesen einen entscheidenden Satz: Dir sind deine Sünden vergeben. Auch das entspricht nicht unserem modernen Drang zum Geständnis, zum Bekenntnis, zur Seelenarbeit. Das Staunenswerte liegt im Plötzlichen, im Unvorhersehbaren der Sündenvergebung. Die Gnade kommt ohne Vorbedingung daher.
Gehe hin in Frieden!
Und die Frau schweigt immer noch weiter. Man könnte es nun als Gebot der Höflichkeit sehen, dass die salbende reiche Dame sich für diese Sündenvergebung bedankt. Aber auch jetzt, am Ende schweigt sie. Und Jesus von Nazareth schickt sie weg, zurück in ihr Leben: Gehe hin in Frieden. Das ist das eigentlich Erstaunliche der Geschichte, das sich uns heute nur so schwer und mühsam erschließt: Sünden werden vergeben. Macht euch darum keine Sorgen. Gehet hin in Frieden. Gehet hin in den Frieden eures Alltags!