Pforten des Himmels
Wir sind umfangen, getragen und gehalten von außerhalb unserer selbst her
Predigttext: 1. Mose 28, 10 -19 a (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. 16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goß Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel…Zum Predigttext
Die Perikope gehört zu den Erzählungen von Gottesbegegnungen und Heiligtümern, die zwischen die Teile der Jakob-Esau-Geschichte gefügt sind. Ihre Komplexität hängt auch mit dem Ansehen Bethels zusammen: Unser Predigttext „ist aus mehreren Schichten zusammengewachsen... Die hohe Bedeutung, die er später als Erzählung vom Ursprung des Heiligtums Bethel bekam, zeigt sich an den vielfältigen Erweiterungen“ (Claus Westermann, Genesis [BKAT I/2, 2. Teilband], Neukirchen-Vluyn 1981, S. 550). Die Eigenart dieser Erzählung besteht in zwei sich ergänzenden Aspekten: Einmal ist es der ätiologische Aspekt (Entstehung des Heiligtums bzw. des heiligen Ortes). Sodann die Entdeckung dieses heiligen Ortes als Erlebnis dessen, der ihn auf der Flucht entdeckt (Jakob). „Jakob hat einen Traum V. 12; es ist die erste Traumerzählung im AT. Die Wiedergabe des Traums besteht nur in zwei Sätzen; er gehört in die Gruppe von Träumen, die nur in einem Bild bestehen. Dem entspricht die Reaktion Jakobs nach dem Erwachen V. 17: Der Traum hat ihm gezeigt, daß hier ein heiliger Ort ist“ (Westermann, ebd. S. 553). Bei diesem Traumbild ist wesentlich, daß die Treppe oder Rampe, die Jakob im Traum sieht, den Himmel und die Erde in der Weise verbindet, daß ihr Ansatzpunkt der Ort ist, an dem er schläft und ihn so als heiligen Ort zu erkennen gibt. Auch die hinauf- und hinabsteigenden „Gottesengel“ verbinden den Ort, an dem Jakob liegt, mit dem Himmel. V. 13-15 enthalten die Verheißungen: Eine Landverheißung, eine Nachkommensverheißung und die Verheißung des Mitseins Gottes, die zunächst auf die gegenwärtige Situation (Flucht!) Jakobs ausgerichtet ist. Aber: Die Beistandsverheißung „ist eine beherrschende Erfahrung aller persönlichen Frömmigkeit, bis in die Liederbücher der Gegenwart“ (Westermann, ebd. S. 555). 4) V. 17: Nach Rudolf Otto (Das Heilige, [1917] 30 1958, Kap. IV. VIII) ist das Erschrecken ein „locus classicus für das „tremendum“ als Element des Heiligen, auch in dem Sinn, daß das tremendum von einem Ort ausgeht („Wie schauerlich ist diese Stätte!“). „Gotteshaus“: Dieser Ort ist den Menschen verwehrt, weil Gott hier wohnt. „Tor des Himmels“: Ein Ort, wo der Himmel sich den Menschen öffnet. Beide Ausdrücke könnten sich stoßen. Zur Reaktion in einem Ausruf tritt in V. 18 die einer Handlung als Reaktion des Erschreckens auf den nächtlichen Traum. „Es kommen in der Handlung Jakobs zwei Funktionen des Steines zusammen, er ist Zeuge..., und er ist als aufgestellter Stein ein Mal, das später an diesen Ort Kommende auf die Besonderheit dieses Ortes aufmerksam machen soll“ (Westermann, ebd. S. 557). Westermann (ebd. S. 560) faßt zusammen: „Die Erzählung Gn 28 ist für die Vätergeschichte wie für die Religion Israels von hoher Bedeutung... Gn 28 ist, mit Vorbehalt, Ex 19 [Sinai!] parallel... In Gn 28 treten drei Auffassungen vom heiligen Ort heraus: Gott ist in einem heiligen Gegenstand, die alte Vorstellung von einem heiligen Stein als ‚Haus Gottes‘. Dann: Gott ist an einem besonderen Ort, an dem er sich einem Menschen gezeigt hat, wie Gn 28 dem Jakob. Dieser besondere Ort muß markiert werden, was durch ein Steinmal geschehen konnte, einen Altar oder Tempel. Schließlich sieht eine dritte Vorstellung den Himmel als Ort Gottes. Dann muß es eine Verbindung geben: die Pforte des Himmels oder die Treppe, die zum Himmel führt. Die Erzählung hat den uralten Zug bewahrt, daß der besondere Ort furchterregend, daß er schauerlich ist... Wenn sich in Gn 28 zu der Erfahrung des Heiligen die Verheißung (V. 15) tritt, die sich auf den Weg, auf die Geschichte des Vaters Jakob bezieht, kommen die beiden religiösen Grundphänomene zusammen, die von hier ab miteinander die Geschichte und die Religion des Gottesvolkes bestimmen: Das Mitsein Gottes auf dem Weg, das die Lebensgeschichte Jakobs und die Geschichte des Volkes Israel bestimmt, und die Heiligkeit Gottes, die sich an einem besonderen Ort zeigt (V. 12), Geschichte und Gottesdienst... Diese beiden Grundphänomene bleiben in lebendiger Spannung zueinander... Jesus antwortet der Samariterin auf ihre Frage nach dem ‚richtigen‘ heiligen Ort: ‚...die Stunde kommt und ist schon jetzt, wo die wahren Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden!‘ (Joh 4,19-26).“ Wer in der Predigt über interessante, im Protestantismus leider öfters vergessene religionswissenschaftliche Erkenntnisse oder Einsichten der Religionspsychologie hinausgehen will (Rudolf Otto ist auch heute noch lesenswert!), wird (auch gemäß Psalm 23,4) seine Zuflucht eher bei den „existenztheologischen“ Aussagen des Textes nehmen, bei diesem „Ich bin mit dir!“ (V. 15a) als zugesagter Beistand Gottes, als Behütung in den Gefährdungen des Weges, den wir persönlich zu gehen haben. Damit wird der Text „entschränkt“, die Spannung zwischen Geschichte und Gottesdienst zumindest relativiert. „Protestantismus“ erscheint dann eher als ein „Ethos“, als eine „Grundhaltung“ und weniger als Dogma und Kultus. Als einer, der zwischen Kirchengeschichte und Praktischer Theologie angesiedelt ist, versuche ich, den Text eher „alltagsweltlich“ zu predigen, auch wenn ich um die Defizite einer solchen „Phänomenologie“, die heute in der Praktischen Theologie wieder einmal modern ist, weiß.Himmel und Erde verbinden sich
Jakobs Traum von der Himmelsleiter fasziniert nicht nur bei dem Mystiker Johannes vom Kreuz oder bei dem Maler Marc Chagall, dessen Himmelsleiter-Gemälde unübertroffen ist! „Jakobs Traum“ ist die erste Traumerzählung im Alten Testament. Der Traum besteht nur aus einem Bild, seine Wiedergabe nur in zwei Sätzen. Eigentlich geht es um eine Treppe, die Himmel und Erde verbindet, vielleicht sogar um eine steinerne Aufschüttung, also um eine Rampe. Ähnliche Vorstellungen liegen zum Beispiel den babylonischen Tempeltürmen zugrunde, die die Götter besteigen. In den Pyramidentexten steigt der tote König auf einer Leiter zu seiner Mutter Nut. Hier wie dort begegnet auch der Ausdruck: „die Pforte des Himmels“. Wir befinden uns also mitten in der reichen Religionswelt des vorderen Orients. Was Jakob im Traum sieht, kann man also nicht auf eine bestimmte Vorstellung festlegen. Ich finde: Das ist gut so! Das reizt auch zum Nachdenken, zum Nachzeichnen, ja zum Nachträumen! Das kann auch die Brücke zwischen diesem alten Text und uns heute schlagen helfen!
Weltliche Himmelsleitern
Eine Leiter ist für uns zunächst ein nüchterner Gebrauchsgegenstand. Sie ist aber auch ein Bild für Wünsche und Sehnsüchte, aber auch für Ängste und Bedrohung. Die Leiter ist ein Bild für Aufstieg und Karriere, aber auch für eine Rang- und Hackordnung. Und: Jakobs Traum wird bis heute nicht nur „geistlich“, sondern auch höchst „weltlich“ geträumt. Dafür je ein Beispiel, in das wir auch unsere Erfahrungen einbringen können.
Zunächst ein Gedicht eines Postbeamten namens Heinrich Schäffer, das ich einem Band mit dem Titel: „Deutsches Lachen“ entnommen habe, bei dem einem aber auch das Lachen vergehen kann, wenn man „Opfer“ ist! Das Gedicht Heinrich Schäffers ist überschrieben: „Der Posthilfsbote Säbelbein“. Es beginnt:
Der Posthilfsbote Säbelbein
Lädt für Berlin Pakete ein.
Der Hilfspackmeister Livius
Schaut treulich, wie er soll und muß,-
Daß auch der Hilfsbot‘ Säbelbein
Lädt für Berlin Pakete ein.
Da naht sich auch Herr Stiefelbrand
Der seines Zeichens Praktikant,
Der schauet starr und unverwandt:
Ob Hilfspackmeister Livius
Nachsehe, wie er soll und muß,-
Daß auch der Hilfsbot‘ Säbelbein
Lädt für Berlin Pakete ein.
Darauf kommt, wie von ungefähr
Herr Schellen – Obersekretär.
Er kontrolliert: ob Stiefelbrand
Auch schauet starr und unverwandt
Wie Hilfspackmeister Livius
Nachschaue, wie er soll und muß
Daß auch der Hilfsbot‘ Säbelbein
Lädt für Berlin Pakete ein.
Und siehe, aus des Tunnels Tor
Tritt stolz des Amtes Direktor.
Sein Adlerblick erblitzt daher:
Ob Schellen – Obersekretär –
Auch kontrollier‘, daß Stiefelbrand
Nachschaue, starr und unverwandt
Wie Hilfspackmeister Livius
Sich überzeugt so, wie er muß
Daß Hilfspostbote Säbelbein
Lädt für Berlin Pakete ein.
Dieser „Posthilfsbote Säbelbein“ ist allgegenwärtig und überzeitlich. Wir können ihn jeden Tag erleben. Die wirkliche „Hierarchie“, wie wir das nennen, braucht auch nicht immer von oben nach unten zu gehen, wie die Parole vom „Druckmachen“ im Polit- oder Gewerkschaftsdeutsch lautet. Gegenüber der Entstehung des Gedichts sind die Ränge, so meine ich, höher geworden. „Hilfsbote“, „Hilfspackmeister“, „Obersekretär“ – das klingt altmodisch. Heute heißt es eher: „Amtsfrau“, „Amtsrat“, „Postdirektor“ usw. Egal, wie die Titel auch lauten: Die „weltliche Himmelsleiter“ existiert auch heute noch.
Gehört Schäffers Gedicht zur sogenannten „Trivialliteratur“, so stammt das andere Beispiel aus einem Klassiker der Religionspädagogik. 1714 hatte der Hamburger Gymnasialrektor Johann Hübner (1668-1731) erstmals seine „Zweymal zwey und fünfzig Auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testament, der Jugend zum Besten abgefaßt“, herausgebracht. 1859 erschien bereits die 107. Auflage, 1928 die 465. Auflage! Also ein Bestseller unter den Schulbüchern! Die Geschichte „Von der Himmels-Leiter im Traume“ fehlt bei Hübner natürlich nicht. Sie wird in Anlehnung an den Luthertext zunächst plastisch erzählt. Da für Hübner als Pädagogen Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist, stellt er nach der Darbietung des Textes 14 „Deutliche Fragen“ im Blick auf das Textverständnis, zum Beispiel als Frage 6: „Wo nahm Jakob denn sein Quartier?“ Frage 8: „Was hatte Jakob in dieser Nacht für einen Traum?“ Frage 9: „Wer war auf der Leiter?“ usw. Man sieht den Lehrer alten Stils plastisch vor sich, dem das Verstehen vor das „Darüber reden“ geht. Träume verlangen in der Regel eine Deutung. Das war damals, das ist aber auch heute noch der Fall. Ging es früher da eher „religiös“ zu, so heute meistens „psychoanalytisch“. Zuerst die „weltliche“ Deutung dieser Himmelsleiter! Sie ist bei Heinrich Schäffer verhalten skeptisch und dient eher der Aufarbeitung von Frustrationen:
Die Glocke klingt, fort fährt der Zug!
Ach, leider war nicht Zeit genug
Daß der Posthilfsbote Säbelbein
Lädt sämtliche Pakete ein –
Es blieb, o böses Mißgeschick
Der Ladung Hälfte noch zurück.
Da schwindet durch des Tunnels Tor
Dahin des Amtes Direktor
Herr Schellen – Obersekretär –
Klabastert spornstreichs hinterher
Worauf der junge Stiefelbrand
Im Wartesaale ‚eins‘ verschwand
Und Livius trinkt voll Verdruß
In ‚vierter‘ einen Schnaps zum Schluß.
Auf dem Perron steht ganz allein
Der Posthilfsbote Säbelbein
Und spricht: ‚So geht es allemal
Weil Mangel ist an Personal‘.
Der Gymnasialrektor Hübner ist da optimistischer. Er verfährt in seiner Auslegung des Traums von Jakob zunächst volkspädagogisch. In seinen „Nützlichen Lehren“, die er an die „Deutlichen Fragen“ angehängt hat, heißt es: „Man hat endlich daraus zu lernen, daß sich Gott den Seinigen oftmals in der Einsamkeit offenbart. Denn hier sah Jakob etwas im freien Felde, da er ganz allein war, welches er schwerlich in dem größten Gasthofe würde gesehen haben.“ Alkoholprobleme gab es also auch schon damals! Die Geschichte von Jakobs Traum dient deshalb auch als Mittel der Suchtprävention, wie überhaupt die Bibel für ihn das Lehrbuch der Sittlichkeit und Moral ist. Hübner endet aber nicht – wie so manche heutigen Predigten und kirchliche Appelle – mit der Moral, sei sie politisch oder ökologisch gefärbt. Auf die Darbietung des Textes, die „deutlichen Fragen“ und die „Nützlichen Lehren“ folgen endlich „Gottselige Gedanken“, die er sogar ins Lateinische übersetzt hat:
Was dorten Jakob sah, erscheint uns zwar nicht weiter,
doch zeigt mir Gottes Wort dergleichen in der Tat:
Ich sehe vor mir stehen auch eine solche Leiter,
die bis gen Himmel reicht, und nur drei Stufen hat.
Die sind des Vaters Huld;
Herr Jesu! Deine Schmerzen:
Und Herr Gott Heilger Geist! Dein Glaub in meinem Herzen!
Vielleicht mag heute eine solche direkte, ja trinitarische Übertragung des Jakobstraums zu gewagt, ja illegitim zu sein: Vergleichende Religionswissenschaft stellt, wie wir eingangs sahen, nicht nur bei der „Himmelsleiter“ den Bezug unseres Textes zur vorderorientalischen Religionswelt fest. Die „Pforten des Himmels“ begegnen heute für nicht wenige auch außerhalb der jüdisch-christlichen Religionskultur. Vielleicht entsprechen die Erfahrungen und Frustrationen des Posthilfsboten Säbelbein eher unserer Alltagswelt. Wie oft stehen wir allein auf dem „Perron“!
Der Grund zu Freude und Lob
Ich möchte mich, ohne unsere Alltagserfahrungen zu übersehen, an den Heidelberger Professor für Altes Testament Claus Westermann halten, an den ich gerne zurückdenke: „Wesentlich ist, daß die hinauf- und hinabsteigenden ‚Gottesengel‘ den Ort, an dem Jakob liegt, mit dem Himmel verbinden“. Himmel und Erde kommen da zusammen. Wichtig ist der Segen Gottes: „Durch Dich und Deinen Samen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden“. Wichtig ist auch das große Versprechen des segnenden Gottes: „Siehe, ich bin mit dir!“ Hören wir da nicht auch Jesu großes Versprechen mit: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“? Wie wir auch Jakobs Traum heute träumen, eher auf Schäffers oder eher auf Hübners Weise: Wir sind umfangen, getragen und gehalten von außerhalb unserer selbst her. Das ist der Grund zu Freude und Lob, auch in Leid und Trauer. Nicht ohne Grund bezieht sich Strophe 2 des Liedes „Näher mein Gott zu dir“ auf Jakobs Traum:
Bricht mir wie Jakob dort
Nacht auch herein,
find ich zum Ruheort
nur einen Stein,
ist selbst im Traume hier
mein Sehnen für und für:
Näher, mein Gott, zu dir,
näher zu dir!