Der Schriftzug Gottes
Vorbehaltlose und unaufdringliche Liebe
Predigttext: Johannes 5,1-18 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte… 5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. 6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. 10 Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. 11 Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! 12 Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? 13 Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. 14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. 15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. 16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. 17 Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch. 18 Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich. 19 Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicher Weise auch der Sohn.Exegetische Vorbemerkung zur Perikope
Der für den Sonntag vorgeschlagene Predigttext erstreckt sich bloß bis v16. Dem liegt offenbar die Entscheidung J. Beckers zugrunde (ÖTK 4,1, S. 276), wonach der Sammler der Semeiaquelle – nicht der Evangelist – den Wunderbericht 5,1-9a um den Sabbatkonflikt erweitert habe. So wäre der Sammler von S Grundlage des Predigttextes. Becker schreibt vv17-18 dann dem Evangelisten zu als Überleitung zur Offenbarungsrede. Demgegenüber weist R. Schnackenburg (Das Johannesevangelium, IV, 2, S. 122) den gesamten Abschnitt 5,9b-18 dem Evangelisten zu. Wir schließen uns dem an und predigen über den Text des Redaktors Johannes. Wir halten v9b-18 für eine redaktionelle Einheit, weil sie deutlich Stationen eines Erkenntnisgewinns beschreibt:Vom Nicht-Wissen über die Kenntnis seines Namens bis hin zur Erkenntnis der Einheit mit dem Vater.Liebe Gemeinde!
Ich werde mit einer Gruppe von Touristen durch eine alte Klosterkirche geführt. Unter dem hellen Putz hat man versucht, die alte Wandbemalung wieder hervorzuholen. Konturen und Umrisse werden sichtbar, blasses Blau und Rot lassen darauf schließen, dass früher wohl mal eine kräftigere Farbgebung vorhanden war. Die Führerin erklärt, dass Christus hier an der Wand wiederholt zu sehen sei, wie er Wunder tut; hier sehe man ihn, wie er einen Blindgeborenen heilt, dort lässt er einen Lahmen wieder aufstehen und gehen, und schließlich weckt er am Ende der Bildreihe auch noch Lazarus vom Tode auf; da sehe man Lazarus gerade aus dem Grab auferstehen; die Grabtücher, mit denen er gebunden war, seien noch zu erkennen.
Ich muss gestehen: Ich erkenne auf den ersten Blick nichts. Die Farben und Konturen sind zu sehr verblasst. Ich kann Christus beim besten Willen nicht erkennen, die anderen Gestalten erst recht nicht. Die Führerin kann viel erzählen, und wahrscheinlich hat sie am Ende auch recht; aber es tut mir leid; für mich ist das alles viel zu blass. Meine Wahrnehmung teile ich mit all den anderen, die bei der Führung mit dabei sind: Christus – nicht zu erkennen, viel zu blass.
Liebe Gemeinde! Ich vermute, es ist nicht nur eine Wahrnehmung bei der Kirchenführung, es ist auch die Wahrnehmung vieler Menschen heut zu Tage: Christus – nicht zu erkennen, viel zu blass. Ich wage sogar zu behaupten, wir sind von dieser Wahrnehmung – oder besser: von dieser Nicht–Wahrnehmung Christi – mit betroffen. Obwohl das Abendmahlsbild an jeder Altarwand zu sehen ist, obwohl der Gekreuzigte auf jedem Altar steht, ist Christus in nebulöse Ferne gerückt. Fragt noch jemand nach ihm? Dann wäre ja noch ein Funken Interesse da, wenn auch keine Antwort, weil die Konturen blass geworden.
Der heutige Predigttext stellt diese Frage in die Mitte: „Wer ist der Mensch…?“ (v12). Lassen Sie uns mit dem Johannesevangelium um diese Frage kreisen: „Wer ist der Mensch…?“, um am Ende vielleicht in Farbe und Konturen Ihn zu erkennen, ihn, der in der Einheit mit dem Vater Gottes Werke tut. Dazu mag uns jene Wundergeschichte helfen, die schon angeblich an der Bilderwand zu sehen war, die Heilung eines Gelähmten am Teich Betesda. Sie steht im Johannesevangelium im 5. Kapitel.
(Lesung des Predigttextes)
„Wer ist der Mensch…?“ Diese Frage steht in der Mitte. Ja, mehr noch: Jener Mensch steht in der Mitte. Und von drei Seiten richten sich die Augen auf ihn. Da stehen die jüdischen Gelehrten: Wenn Blicke töten könnten… Ihnen ist klar, wer er ist: ein Gesetzesbrecher, der die heilige Sabbatruhe missachtet; ein Gotteslästerer, der behauptet, Gott sei sein Vater; ein Scharlatan, dem viel Volk hinterherläuft und der die religiöse Ordnung durcheinanderbringt. „Wer ist dieser Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?“ fragen sie den Geheilten. Eine scheinheilige Frage; denn sie wissen genau, wer er ist – zumindest meinen sie es zu wissen. Nun sehen sie ihn vor sich – und sind doch blind. Sie sind blind für das, was er wirklich ist. Sie sehen Ihn nicht. Sie sehen ihn nicht, weil sie ihm feindlich gegenüberstehen. Ohne einen Vorschuss an Sympathie gibt es kein Verstehen. Damals waren es die jüdischen Gelehrten und die Gesetzestreuen, die es an diesem Vorschuss an Sympathie mangeln ließen, und darum konnten sie nicht die Wahrheit erkennen. Heute sind wir gebeten, dem Wort der Bibel einen Vorschuss an Sympathie entgegenzubringen, damit uns das Bild Christi wieder deutlicher werden.
„Wer ist dieser Mensch…?“ Der Mensch Jesus selbst steht in der Mitte. Wie die jüdischen Gelehrten ihre Antwort haben, so hat der geheilte Gelähmte seine Antwort gefunden. Nach seiner Begegnung mit Jesus im Tempel weiß er: Es ist Jesus, der ihn gesund gemacht hat. Er hat ihn gesehen und erkannt als den großen Wundertäter, und er bekennt es auch frei und offen vor allen, die ihn fragen. Ob er damit schon alles gesehen hat, ob er damit schon die Wahrheit über Jesus erkannt hat, bleibt offen; aber er hat wenigstens etwas gesehen. Und warum konnte er wenigstens etwas sehen? Weil er Jesus von Anfang an an sich herangelassen hat. „Willst du gesund werden?“ fragt Jesus ihn. Ohne ihn hier schon zu erkennen, breitet er all seine Not vor ihm aus, lässt ihn an sich heran: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.“ Und Jesus spricht nur ein Wort, und der Kranke wird gesund. Noch weiß er nicht, wer dieser Mensch ist. Bei ihm heißt er bloß: „Der mich gesund gemacht hat…“ (v11). Nach der Begegnung im Tempel kann er ihn frei und offen mit Namen nennen: „Jesus“. Nur weil er dem, der ihn angeredet hat, ein Grundvertrauen entgegengebracht hat, hat er ihn erkannt, zumindest seinen Namen. Wenn man dieses Grundvertrauen nicht mitbringt, dann wird man auch nichts verstehen, dann entfernt sich die Figur Jesu nur umso weiter.
„Wer ist dieser Mensch…?“- Der Ablehnende auf der einen, der Sich-Öffnende auf der anderen Seite. Der Ablehnende hat seine vorgefertigte Antwort, der Sich-Öffnende ist auf dem Weg zur Wahrheit. Jesus steht in der Mitte. Da schaut noch ein Dritter auf ihn. Es ist der Evangelist Johannes, der diese Geschichte in sein Evangelium aufgenommen hat. Er möchte – last not least – auch noch aus seiner Sicht, gewissermaßen aus der Sicht des Regisseurs, auf Jesus schauen und uns sagen, wer dieser Mensch ist. Denn dazu hat er diese Geschichte aufgeschrieben, um die Konturen Jesu nachzuzeichnen und sie mit lebendigen Farben zu füllen, für sich zur Freude und für uns zur erhellenden Betrachtung.
Vor dem Hintergrund der schier hoffnungslosen Situation des Kranken ist es Johannes wichtig, uns Jesus zu zeigen, wie er ist: Er spricht nur ein Wort: „Steh auf und geh!“ Und der Kranke ist wieder gesund.
Das schier Unglaubliche, das hier geschieht, wird erst recht wunderbar vor dem Hintergrund: Der Mann ist schon 38 Jahre krank. Keiner kann ihm helfen. Besser: Keiner hilft ihm. Denn er hat keine Beziehungen. Die anderen haben Beziehungen. Daher sind sie schneller, daher sind sie eher da, daher können sie geheilt werden. Er aber klagt: „Herr, ich habe keinen Menschen…“ Er wird glatt übersehen, man hat ihn aufgegeben. Weil er keine Beziehungen hat. Zugleich hat er sich selbst noch nicht aufgegeben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Da kommt Jesus auf ihn zu. Jesus sieht ihn. Er sieht seine Not: Aufgegeben, weil er keine Beziehungen hat. Jesus kümmert sich nicht um Beziehungen. Das Geflecht von Beziehungen, das uns weiter bringt, ist ihm egal. Er scheint auch nicht zu verlangen, dass wir zu ihm eine Beziehung aufgebaut haben müssten, damit er helfen kann. Nein, er selbst nimmt die Beziehung auf, von sich aus, aus freien Stücken, da, wo die Not am größten ist. „Deine Beziehungen sind da, wo es wirklich um deine Existenz geht, nicht wichtig. Wichtig ist, dass Christus zu dir die Beziehung aufnimmt, und er tut es auch, still und unerkannt zunächst. „Lass ihn an dich heran!“ Das sagt uns der Regisseur Johannes.
Und noch ein Zweites sagt er uns: Verlass dich nicht auf irgendein Wunderwasser. Verlass dich allein auf Jesu Wort. Wenn er zu dir spricht: „Steh auf!“, dann und nur dann wirst du an Leib und Seele gesund.
Schließlich sagt er uns noch ein Drittes: „Es war aber an dem Tag Sabbat“ (v9). Damit führt er uns direkt in den Konflikt hinein, den Jesus immer gesucht hat: Wo Gebote die Liebe töten, wo Vorschriften die Zuwendung ersticken, da wird der Wille des liebenden Gottes und Vaters durchkreuzt. Johannes schaut auf Jesus und sagt uns: Dieser Mensch kümmert sich nicht um Vorschriften, er selbst ist Vorschrift. Er selbst ist die Nachschrift des liebenden Vaters.
Und wir? Wo stehen wir? Für uns ist noch Platz an einer Seite. Gegenüber von Johannes. Gewissermaßen als seine Gesprächspartner, die wir mit einem Schuss Sympathie seiner Darstellung gefolgt sind. Wissen wir jetzt mehr über diesen Menschen in der Mitte? Sind seine Konturen klarer, seine Farben wieder leuchtender geworden?
Ich möchte für mich sagen: ER ist der Schriftzug Gottes, der durch diese Welt geht, der Schriftzug der vorbehaltlosen und unaufdringlichen Liebe.
Amen.