Die Liebe Gottes hat viele Farben
Umgang mit Trennungsschmerz
Predigttext: Johannes 15,9-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. 11 Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. 13 Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. 14 Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. 15 Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. 17 Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Die Predigtperikope Joh 15,9-17 gehört in den Kontext der johanneischen Abschiedsreden Jesu. Vielleicht hat der Gedanke des Abschieds Jesu und der Frage, wie die Gemeinde ohne seine irdische Gegenwart fortbestehen kann, die Kommission bewogen, die Perikope ans Ende des Kirchenjahres zu setzen, wo wir beginnen, uns schon wieder nach der Ankunft Jesu zu sehnen. Jedenfalls ist die Rede Jesu eine durch den Evangelisten konstruierte Rede. Sie ist an die nachösterliche johanneische Gemeinde adressiert, die sich mit dem Problem auseinandersetzt, wie sie ohne den irdischen Jesus weiterexistieren kann. Die Antwort, die die Rede gibt, ist klar: Bleibt mit Jesus verbunden. Möglich ist dies, wenn ihr euch durch den Geist, den Parakleten, an alles erinnern lasst, was der irdische Jesus gesagt und getan hat, und in diesem Sinn „in Jesus“ bleibt. Dazu dient einerseits das allegorisch zu deutende Bild vom Weinstock (Joh 15,1-8) und unsere Perikope, in der auf Begriffe gebracht wird, was zuvor das Bild zu sagen versuchte. Einige gemeinsame Stichworte garantieren den Zusammenhang. Besonders die Wendung vom „Bleiben in“ oder „an“ spielt hier eine zentrale Rolle. Es geht um die bleibende Verbindung mit Jesus, die in Krisensituationen hilft. Dabei wird in der johanneischen Tradition das Liebesgebot tendenziell auf das Innenverhältnis der Gemeinde bezogen. Das Gebot der Feindesliebe, das für die Radikalität Jesu steht, scheint hier aufgegeben zu sein. Das mag an der historischen Situation der Abgrenzung gegenüber Anfeindungen aus dem Judentum liegen (so Wengst) oder an theologischen Grundentscheidungen für eine dualistische Weltsicht (so Becker). Mir scheint, dass uns heute aufgetragen ist, die Botschaft von der Liebe Gottes jedenfalls ohne eine dualistische Engführung zu verkünden. Homiletisch fruchtbar finde ich allerdings den Hinweis, dass die von Johannes konstruierte Rede Jesu als Zeugnis des Parakleten verstanden werden kann (so J. Becker in ÖTK 4/2, 575). Denn dies eröffnet die Möglichkeit, die Abschiedsrede Jesu quasi noch einmal in unsere Gegenwart fortzuschreiben. Die Predigt könnte also einfach eine Umschreibung der Worte Jesu sein; das sprechende Ich wäre das Ich Jesu Christi, wie es sich durch den Parakleten kundtut. Ich will dies in aller Behutsamkeit versuchen, also die Aussagen nicht zu stark mit aktueller Problematik aufladen, sondern in einer gewissen Allgemeinheit bleiben, die eine Brücke schlägt zwischen der Situation der johanneischen Gemeinde und unserer eigenen. An einer Stelle versuche ich freilich den Missbrauch des Wortes von der Lebenshingabe für die Freunde im Sinne einer Rechtfertigung von kriegerischem Lebenseinsatz (etwa im Ersten Weltkrieg) oder von Selbstmordattentaten (heute) zu korrigieren. Den Einstieg wähle ich bei der Situation des Abschiednehmens und bei der Frage, wie denn nun das Leben nach dem Weggang des geliebten Menschen weitergehen solle. Denn diese Situation hat auch der Evangelist zum Anlass seiner Jesus in den Mund gelegten Paränese genommen. Erfahrungen des Abschiednehmens erleben wir selber immer wieder, besonders auf dem Friedhof. Die Frage, wie man damit umgehen kann, was trotzdem trägt und hilft, öffnet m. E. das Verständnis für das, was Johannes uns sagen will.Lieder:
"Komm in unsre stolze Welt, Herr, mit deiner Liebe Werben" (EG 428) "Liebe, die du mich zum Bilde" (EG 401) "Christus, das Licht der Welt" (EG 410) "Lass die Wurzel unsers Handelns Liebe sein" (EG 417) "Solang es Menschen gibt auf Erden" (EG 427)Liebe Gemeinde!
Abschied nehmen fällt uns meistens nicht so leicht. Das zeigt sich schon am Bahnhof. Das steht ein junges Paar, eng umschlungen. Die beiden müssen nicht viel sagen. Sie spüren den Trennungsschmerz körperlich. Den anderen eine Zeit lang nicht mehr berühren zu können, ihn bei sich zu spüren, ihn sehen zu können, das schmerzt. „Ich ruf dich an“, sagt man dann. Wenigstens reden kann man heute auch über große Distanzen miteinander. Früher hieß: „Vergiss nicht zu schreiben“. Ein Paar, das vor kurzem seine Goldene Hochzeit feiern konnte, erzählte mir, dass sie sich während der Verlobungszeit, als sie als Aupair-Mädchen in Schweden war und er in Deutschland arbeitete, täglich geschrieben haben, ein ganzes Jahr lang, glaube ich. Heute hält man Kontakt über das Internet. Kann Bilder von sich an den Liebsten oder die Liebste schicken. Aber der Trennungsschmerz bleibt trotzdem.
Noch stärker ist der Schmerz natürlich, wenn man von einem Menschen Abschied nehmen muss, den der Tod uns genommen hat. Was bleibt, das sind ein paar Habseligkeiten und die Erinnerungen, die „dir keiner nehmen kann“, wie wir zum Trost sagen. Aber was dir auch niemand abnehmen kann, ist, mit dem Verlust fertig zu werden. Dich damit abzufinden, dass der Mensch, mit dem du vielleicht Jahrzehnte deines Lebens verbracht hast, ohne den du manche schwierige Situation nicht bewältigt hättest, mit dem du viele schöne Erlebnisse teilen konntest, dass dieser Mensch nicht wieder ins Leben zurückkehrt, dass es – anders als bei den meisten Abschieden am Bahnhof – kein Wiedersehen in absehbarer Zeit geben wird.
Eine solche Situation endgültigen Abschiednehmens hatte der Evangelist Johannes vor Augen, als er die letzten Reden Jesu niederschrieb. Worte des Trostes und des Vermächtnisses. Da stand die Frage im Raum: Wie sollen wir damit umgehen, dass wir Jesus nicht mehr in unserer Mitte haben? Wer soll uns leiten? Wer wird uns in Not und Gefahr beistehen? Wie sollen wir uns als Gemeinschaft organisieren und wie verhalten wir uns gegenüber anderen? Starke Verunsicherung prägte die Gemeinde, in der der Evangelist Johannes sein Evangelium schrieb. Und so überlegte Johannes, was Jesus dazu wohl gesagt hätte. Wir finden diesen Versuch überliefert im Johannesevangelium (15,9-17).
(Lesung des Predigttextes)
So, dachte sich Johannes, hätte Jesus wohl reagiert auf unsere Verunsicherung. Er hätte uns an das erinnert, was die Basis seines eigenen Handels war: die unbedingte Liebe zu den Menschen. Das ist es, was euch bleiben muss, wenn alles andere wegbricht: die Liebe.
Bleiben in der Liebe
Viermal kommt die Wendung „bleiben in der Liebe“ in den ersten drei Versen vor. Die Liebe ist wie ein Raum, in dem ihr unbedingt bleiben müsst. Ein Raum, der Schutz und Geborgenheit vermittelt. Wenn ihr in ihm bleibt, kann euch nichts verunsichern, kann euch der Hass anderer Menschen nichts anhaben. Wenn ihr in diesem Raum der Liebe bleibt, werden eure Zweifel verblassen, wird eure Gemeinschaft tiefer werden. Wenn ihr nur in der Liebe bleibt. Oder genauer: Wenn ihr in meiner Liebe bleibt, sagt Jesus, also in dem Schutzraum, den meine Liebe vermittelt, die ihrerseits in der Liebe Gottes verwurzelt ist. Denn ich liebe euch so, wie ich mich von meinem Vater geliebt weiß.
Es gibt nichts, was beständiger wäre, nichts, auf das mehr Verlass wäre als die Liebe Gottes. Von Gottes Liebe habe ich gelebt. Sie hat mein Handeln bestimmt. Wenn ihr eine zentrale Regel haben wollt, dann eben diese: Bleibt in dieser Liebe, dann bleibt ihr mit mir und mit dem Vater verbunden. Alles andere folgt daraus oder lässt sich daraus ableiten. Im Grunde ist dies das einzige Gebot Gottes, das ich zu erfüllen trachtete. Deshalb möchte ich es an euch weitergeben. Stört euch nicht an dem Wort „Gebot“.
Vielleicht meinen manche: Die Liebe kann man nicht gebieten. Das ist sicher richtig. Ihr könnt auch sagen: Die Liebe ist uns aufgetragen. Zur Liebe sind wir ermächtigt. Gott will, dass ihr einander liebt. Wer liebt, der erfüllt den Willen und damit das Gebot Gottes. Denn Gott will nichts anderes, als dass wir seine Liebe annehmen und in uns wirken lassen. Gott möchte, dass wir uns in den Wärmestrom seiner Liebe stellen und sie an andere weitergeben. Nichts weiter. Wenn ihr mich nun fragt, wozu das führen soll, wofür das gut ist, dann antworte ich mit den drei Worten: Freude, Freunde, Frucht.
Freude
Bleiben wir zunächst einmal bei jedem einzelnen von euch. Ich behaupte, dass das Bleiben in meiner Liebe für jeden von euch Freude bringt. Ihr seid traurig, weil ich nicht mehr leibhaftig bei euch sein kann. Aber vergesst nicht: Im Geiste bin ich immer bei euch. Lasst euch durch den Geist an das erinnern, was ich gepredigt und verkündigt habe, und an das, was ich unter euch getan habe. Blinde sind sehend geworden, Lahme konnten wieder gehen und Stumme wurden fähig, Gott zu loben. Das entspricht dem Willen Gottes.
Das Evangelium ist eine freudige Botschaft. Nämlich die Botschaft, dass jeder und jede von euch von Gott geliebt wird. Gott liebt uns Menschen. Gott will, dass wir glücklich sind. Gott will, dass wir unseren Spaß haben, wie die Jugendlichen vielleicht sagen würden. Er will, dass wir ein erfülltes, zufriedenes Leben führen können, wie die Älteren unter uns wahrscheinlich sagen würden. Er will all das nicht, worunter Menschen leiden: Krankheiten, Kriege, Not und Elend, Unterdrückung und Hass. Er will, dass Menschen etwas zu lachen haben, dass sie sich in den Armen liegen vor Freude, dass sie glücklich und zufrieden miteinander leben.
Das ist es, was ich euch von Gott vermitteln will. Ich will, dass diese meine Freude in euch bleibt und ihr vollkommen davon erfüllt seid. Da sollte nichts sein, was diese Freude trüben kann. Wenn ihr in meiner Liebe bleibt, dann wird euch diese Freude zuteil werden. Das ist das erste.
Freunde
Das zweite betrifft eure Gemeinschaft. Auch sie wurzelt in der Beziehung zu mir. Das Größte, was ein Freund für den anderen tun kann, ist sein Leben hinzugeben. Das habe ich getan, wenn ihr das Evangelium des Johannes lesen werdet. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Das gilt sicher nicht nur für mein Lebensopfer. Aber denkt daran, dass damit nicht etwa Gewalt gerechtfertigt werden darf. Nicht jedes Lebensopfer ist durch diesen Satz gedeckt, etwa wenn in einem Krieg ein Soldat sein Leben lässt für seine Heimat. Immer wenn dieses Lebensopfer mit der Ausübung von Gewalt gegen andere verbunden ist, kann man es mit meinem Opfergang am Kreuz nicht vergleichen. Ich habe mein Leben für euch hingegeben, ohne jemand anderen mit in den Tod zu reißen. Aber richtig bleibt trotzdem, dass ich mein Leben für euch hingegeben habe, für euch, meine Freunde. Denn ihr seid meine Freunde.
Ihr habt mich Herr und Meister genannt, weil ich euch den Willen Gottes verdeutlicht habe. Aber das bedeutet nicht, dass ihr nun meine Knechte, meine Untergebenen wärt. Ihr wisst: das wollte ich nie. Es soll kein Gefälle zwischen uns herrschen, keine Hierarchie. Ein Knecht führt einfach Aufträge aus, ohne zu wissen, was sein Herr damit beabsichtigt. Er muss es nicht verstehen. Er ist nur Mittel zum Zweck. Aber gerade das seid ihr nicht. Nicht für mich. Und nicht für Gott. Denn ihr wisst, wozu die uns gebotene Liebe gut ist, wofür sie dient. Ihr versteht, was auf dem Spiel steht. Ihr seid verantwortliche Akteure in diesem Spiel. Deshalb seid ihr alles andere als Knechte oder Mägde.
Ich betrachte euch vielmehr als meine Freunde und Freundinnen. Wir wollen das Gleiche. Wir verfolgen dasselbe Ziel: Der Wille Gottes, nämlich die Liebe, soll in dieser Welt Raum gewinnen. Weil ihr alle zusammen meine Freunde seid, deshalb ist auch euer Verhältnis untereinander von Freundschaft geprägt. Eine Gemeinschaft von Freunden und Freundinnen sollt ihr sein. Gewiss wird es unter euch auch Meinungsverschiedenheiten geben, wahrscheinlich auch Sympathien und Antipathien. Aber sie dürfen nie so stark werden, dass sie eure Freundschaft in Frage stellen. Die Liebe Gottes hat viele Farben. Die sollten wir wahrnehmen und auch unter uns gelten lassen. Überlasst das graue Einerlei getrost dem Teufel. Da passt es besser. Aber da gehört ihr schließlich nicht hin. Ihr gehört zu mir. Ihr seid meine Freunde. Ich habe euch erwählt.
Frucht
Ich habe euch erwählt, weil ich euch zutraue, dass ihr auch Frucht bringt. Ein Leben in der Liebe bringt Ertrag. Nicht nur Freude und Freundschaft für euch selber, sondern auch für andere Menschen, die sich davon angesprochen fühlen. Menschen, die an euch sehen, dass es sich lohnt, in diesem Stil zu leben. Menschen, die auch so leben wollen wie ihr, die auch so glücklich sein wollen ihr, die auch so viel Freude haben wollen wie ihr. Ihr dürft das nicht unterschätzen. Es mag sein, dass es auch Rückschläge gibt. Es mag sein, dass die Uneinigkeit unter euch zeitweise stärker wird als es gut ist für die Gemeinschaft. Es mag sein, dass die Leute euch verachten oder euch gleichgültig behandeln. Lasst euch dadurch nicht entmutigen. Bittet den Vater in meinem Namen um Hilfe, um neue Ideen, um Fantasie, um Einigkeit im Grundsätzlichen, nämlich in der Liebe, dann wird der Vater euch geben, worum ihr bittet.
Die Liebe ist der Boden, auf dem alle möglichen Früchte wachsen: Gemeinschaft untereinander, Gelassenheit im Umgang mit euren Gegnern in der „Welt“, Frieden und Ruhe, innere Freiheit, Toleranz und Achtung. Alles, was Menschen brauchen, um leben zu können, wächst auf dem Boden und im Raum der Liebe.
Das ist es, was ich euch zum Abschied sagen will. Deshalb kann ich euch nur noch einmal zurufen: Bleibt in meiner Liebe. Achtet darauf, einander zu lieben, dann braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Weder um eure persönliche Zukunft noch um die Zukunft der Gemeinde. Und denkt immer daran: Ich bin durch meinen Geist immer in eurer Mitte. Ihr müsst euch nur offen halten für meinen Geist, solltet versuchen, auf ihn zu hören, wenn er euch an das erinnert, was ich gesagt und getan habe. Im Kern wird das immer wieder in dem einen Gebot bestehen: Dass ihr euch untereinander liebt.
Amen