Wie konnte das passieren?

Über den Gottesverlust und seine Folgen

Predigttext: Jeremia 8,4-7
Kirche / Ort: Nicolaikirche Elstorf (21629 Neu Wulmstorf)
Datum: 18.11.2007
Kirchenjahr: Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Autor/in: Pastor Dr. habil. Günter Scholz

Predigttext: Jeremia 8,4-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

4 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? 5 Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen. 6 Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan? Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. 7 Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.

Exegetische (I) und homiletische (II) Bemerkungen zum Predigttext

I. Jeremia ist Gerichtsprophet wider Willen (vgl. Jer 1,6). Aber er fügt sich seinem Auftrag. Dennoch leidet er darunter, wie die Konfessionen zeigen (11,18-23; 12,1-6; 15,15-21; 17,14-18; 18,18-23; 20,7-11; bes. 20,14-18). Er hat Israel das drohende Gericht zu verkündigen, falls es nicht umkehrt vom Weg der Gottvergessenheit (z.B. 2,17f u.ö.), eine sehr undankbare Aufgabe, wofür er mehrfach Schikanen ausgesetzt ist (26,1-19; 38,1-13). Seine Verkündigung gliedert sich nach G. Fohrer (Die Propheten des Alten Testaments, Bd. 2) und A. Weiser (Das Buch Jeremia, ATD 20) in vier Zeitabschnitte: in die Zeit vor der josianischen Reform (Kap. 1-6) – während der Reform schwieg er –, in die Zeit nach der Reform (Worte gegen Joahas, Jojakim und Jojachin: Kap. 7-20); in die Zeit Zedekias (Kap. 21-25) und schließlich Worte aus dem ägyptischen Zwangsexil (Kap. 43 u. 44). Der erste und der zweite Abschnitt unterscheiden sich formal dadurch, dass wir es in Kap. 1-6 mit einem Ich-Bericht, ab Kap. 7 mit einem Er-Bericht zu tun haben. Das ist zu beachten im Blick auf die Frage, wer in 8,4-7 redet. Unser Predigttext gehört also in den zweiten Abschnitt der Wirksamkeit Jeremias und ist als Gottesrede Mahnung zur Umkehr, nachdem in 7,1-15 (Tempelrede) die Sünde Israels beim Namen genannt wurde. Damit haben wir in der Frage, wer in 8,4-7 redet – der Herr oder der Prophet – eindeutig Stellung bezogen: Es ist durchweg Gottesrede. Das sehen Rudolph und Weiser anders. Rudolph erkennt die Einleitung (v4) durchaus als Gottesrede; aber v7b scheint ihm das nicht mehr zu sein, weil hier vom „Herrn“ (3. Person) die Rede ist. Auch v6a spricht er wegen des „ich“ dem Propheten zu. – Weiser baut darauf auf und möchte das „Prophetenwort“ v6a und v7b von einem Sammler, der für v4 verantwortlich ist, als Gotteswort umgedeutet wissen. – Das ist alles abwegig. Denn erstens befinden wir uns seit 7,1 im Er-Bericht. Der Rückfall in ein Propheten-Ich in v6 wäre schwer erklärbar. Zweitens lässt sich das Ich ohne weiteres als Gottesrede verstehen. Drittens kenne ich keine Stelle, wo ein Prophet „mein Volk“ (v7) sagt; das ist stets Gottesrede (vgl. Jes 40,1). Wohl aber ist es möglich, dass Gott von sich als dem Herrn in der 3. Person redet. Der Beleg ist nicht weit entfernt (7,28f). Diesen Abschnitt eindeutig als Gottesrede identifiziert zu haben, ist wichtig für die homiletische Umsetzung. II. Der Skopus des Textes ist die Warum-Frage Gottes. Nicht wir fragen Gott: „Warum ...“, sondern er fragt sich bzw. sein Volk: „Warum nur will es sich nicht an die gute Ordnung halten, die ich ihm gegeben habe.“ Diese Betrachtung der Geschichte als Heils- bzw. Unheilsgeschichte im Wohlgefallen bzw. im Schuldig-Werden vor Gott ist uns fremd. Sehen wir jedoch einmal von dem heilsgeschichtlichen Interpretationsmuster ab und übertragen das in Jer 8,4-7 Gesagte in unsere profangeschichtliche Denkweise, dann erkennen wir: Hier ist von einem Werteverlust die Rede. Werteverlust ist uns indes nicht fremd. Wir beklagen ihn als Folge der 68er-Revolution, wir suchen nach geistgeschichtlichen Ursachen und fragen nach Wegen zur Überwindung. Hier tritt – nolens volens – die Kirche wieder in den Blick. Werteverlust ist der gemeinsame Nenner zwischen damals und heute, somit auch als eine Brücke schlagendes und den alten Text vergegenwärtigendes Thema. Ein zweites Brückenthema ist der Gottesbezug in der Grundlegung der Gesetze (und damit natürlich auch des Zusammenlebens). Der Gottesbezug ist in Jer 8,4-7 ganz einfach durch das selbst redende Ich Jahwes gegeben. Eine gesonderte Thematisierung ist nicht notwendig, weil die Klage über den Werteverlust Klage des Wertegebers, Gottesklage, ist. Der Text ist getragen von der enttäuschten Liebesbeziehung Gottes zu seinem Volk – und zu dieser Liebe gehörte einst auch die Gesetzgebung. – Der Gottesbezug wird in neueren Verfassungsentwürfen (EU) und –revisionen (Niedersachsen) immer wieder angemahnt. Wer ihn draußen lassen will, beruft sich gern auf den religiös neutralen Charakter, den ein Grundgesetz haben müsse und darauf, dass die Menschenrechtscharta ein hinreichender Bezugspunkt für alle sei. Wer ihn drin haben möchte, möchte menschliches Tun, auch wenn es nach bestem Wissen und Gewissen gesetzlich geregelt ist, in die letzte Verantwortung vor Gott stellen – und damit den Staat eben gerade nicht letztlich religiös überhöhen (Mk 12,17). Beide Brückenthemen stehen miteinander in innerer Beziehung, bei Jer 8,4-7 erkenntlich dadurch, dass Gottes Ich sich emotional gegen den Werteverfall engagiert; grundsätzlich, weil Verlust des Gottesbezuges zum Werteverfall führt (den historischen Beweis erspare ich mir), umgekehrt ein bewusster Gottesbezug Werteerhalt und Internalisierung dieser Werte zur Folge hat. Ich möchte dem entsprechend in der Predigt deutlich machen: Letztendliche Berufung auf die Menschenrechtscharta reicht nicht aus, die Menschlichkeit des Menschen zu bewahren und Werte zu erhalten, sondern sie werden nur bewahrt und erhalten in der Korrespondenz mit Gott. Gottesbezug und Menschenrechtscharta sind deswegen nicht etwa Gegensätze. Diese folgt allerdings aus jenem. Denn die Würde des Menschen ist von Gott gesetzt. Nur in diesem Wissen bleibt sie der Manipulation unverfügbar; nur in diesem Wissen sind Werte der Definition durch den Menschen entzogen und ganz in Gottes Schöpfungs- und Erhaltungswillen verankert.

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Liebe Gemeinde!

Ein Blick aus dem Fenster der Geschichte: Werteverlust im alten Israel – und heute

Hier öffnet sich uns ein Fenster, in dem wir zurückblicken können in eine ferne Vergangenheit des Volkes Israel. Der Blick aus diesem Fenster wäre ziemlich uninteressant, wenn wir da nicht etwas entdecken würden, was wir bei uns auch feststellen: den Werteverlust. Der Werteverlust damals begann mit dem „falschen Gottesdienst“ – Fruchtbarkeitskulte anderer Völker drangen ins Land ein und zogen Neugierige an. Was neu ist und anderswo her kommt, ist ja immer besser als das Eigene, Hergebrachte und Gewohnte. Der Gottesdienst wird nicht dadurch falsch, dass ich das Abendmahl anders feiere, sondern dadurch, dass ich anderen Mächten und Geistern diene als Gott allein. Die Vermarktung unserer Feiertage, sei es Himmelfahrt, Reformationsfest oder Weihnachten legt ein beredetes Zeugnis ab vom „falschen Gottesdienst“ unserer Tage.

Damals schien man Gott verloren zu haben. Daraus folgte dann der Verlust weiterer Werte: Die Wahrheit ist nicht mehr wichtig; die Unwahrheit wird gesagt, wenn sie denn dazu dient, eigene Ziele zu erreichen. Es ist schon ein schlimmes Zeichen des Werteverlusts, wenn man – immerhin etwas karikierend zwar, aber doch deutlich – feststellen muss: Es wird nirgends so sehr gelogen wie vor Gericht. Es fehlt das Unrechtsbewusstsein und die Fähigkeit, Schuld auf sich zu nehmen und einzugestehen. „Es gibt niemand“, so heißt es, „dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan.“ Das liegt am Werteverlust, am „falschen Gottesdienst“, und der besteht darin, sein Reden und Tun nicht mehr vor Gott zu verantworten.

Wie konnte das passieren? – Werteverlust im Dritten Reich und vorher

Immer wieder hat es Zeiten des Werteverlusts in der Geschichte des Volkes Israel gegeben, aber auch anderer Völker und Kulturen, so auch in der Geschichte unseres Volkes. Es war schon grotesk, damals die Gestalt des Führers mit messianischen Zügen auszustatten. Unverständlich aus heutiger Sicht der Rassenwahn, die daraus resultierende Theorie vom Herrenmenschen und Untermenschen bis hin zum Völkermord. Unverständlich auch die medizinischen Experimente an Menschen, die sich nicht dagegen wehren konnten. Aus heutiger Sicht fragt man sich, wie so etwas einer Kulturnation passieren konnte. Das ist zumindest ein Teil unserer Volkstrauer, dass es passiert ist und dass es letztlich – einschließlich des Krieges – so viele Opfer gefordert hat. Warum konnte das passieren? Mir scheint, man hat sich schon lange vorher, aber erst recht in jener Zeit von Gott entfernt. Und wer sich von Gott entfernt und sich nicht vor ihm verantwortet, dem passiert so was.

Uns kann das nicht mehr passieren – oder doch?

Uns kann das nicht mehr passieren. Denn wir haben gelernt. Wir haben gelernt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass der Kranke und Behinderte die gleiche Würde hat wie der Gesunde. Wir wissen, dass vor Gott alle Menschen gleich sind – und vor dem Gesetz auch, und dass Unterschiede in Rasse, Religion und Kultur kein Grund sind, auf andere herabzusehen. Wir achten die Menschenrechte und möchten sie gern auch weltweit durchgesetzt wissen. Uns kann solch ein Werteverlust wie damals nicht mehr passieren – oder etwa doch?

Immerhin wird ja ein Werteverlust und – damit einhergehend – mangelndes Unrechtsbewusstsein gelegentlich beklagt. Ehe und Familie gelten vom Grundgesetz her als besonders schützenswert. Vor wenigen Jahren noch wurde die Familie als auslaufendes Modell erklärt, heute freilich entdeckt man sie wieder und gründet in vielen Städten und Gemeinden unseres Landes Bündnisse für Familie. – Ein anderes Beispiel für Werteverschiebung: Vor nicht allzu langer Zeit hat ein Politiker der jüngeren Generation Hüftgelenkoperationen bei 75-jährigen in Frage gestellt, weil das volkswirtschaftlich keinen Sinn mache. Was hier geschieht, ist von bedenklicher Tragweite: Hier entscheidet volkswirt- schaftlicher Nutzen über die gesundheitliche Rehabilitierung eines Menschen. Diese Gedanken sind nicht neu und erinnern an die Weimarer Zeit, die dem Dritten Reich vorausging. – Schließlich wird die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben nicht müde, für die erlösende Spritze bzw. Tablette zu werben.

Verbriefte Menschenrechte sind kein eindeutiger ethischer Bezugsrahmen

Werteverschiebung, Wertevielfalt auf der Grundlage des Grundgesetzes. Das ist möglich. Wer also meint, es ließe sich ein eindeutiger Wertekanon aus dem Grundgesetz, aus den Grundrechten und aus der angeborenen Menschenwürde ableiten, der irrt. Eindeutig ist hier nichts. Denn wer bestimmt, was human ist? Wer bestimmt, was des Menschen würdig ist und was nicht? Das kann letztlich nur wieder ein Mensch sein, es sei denn, er lässt Gott bestimmen, was für ihn und seine Lebenswelt gut ist. Wo der Mensch letzte Instanz ist, wird das, was er für sich und andere als würdig erachtet, in sein Belieben gestellt, wird beliebig, letztlich willkürlich und dadurch inhuman. Die Väter des Grundgesetzes haben das gewusst. Darum haben sie ihm auch eine Präambel vorangesetzt, in der zugleich die Verantwortung vor Gott beschworen wird: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen… hat das Deutsche Volk… dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“ Das ist der berühmte Gottesbezug, um den immer wieder gestritten wird, wenn eine Verfassung neu formuliert wird.

Nur der Gottesbezug bindet in die letzte Verantwortung ein

Ich halte den Gottesbezug in den Verfassungen für äußerst wichtig, zeigt er mir doch, dass mir Lebensordnung, Recht und Wahrheit gegeben sind, dass sie nicht in mein Belieben gestellt sind. Nicht umsonst erzählt die biblische Geschichte, dass Mose am Sinai die Gesetzestafeln für das Volk empfangen hat.

Und was Gott der Herr durch den Propheten Jeremia spricht, dass will uns in dem Bewusstsein stärken, dass Lebensordnung, Recht und Wahrheit nichts Beliebiges ist, was Menschen jeweils ihrer Befindlichkeit, ihrer Wirtschaftslage, ihrer Ideologie anpassen könnten, sondern dass es etwas von Gott her Gegebenes ist. Hören wir doch noch einmal, wie Gott sich dafür einsetzt, dass sein Volk in der Wahrheit wandelt, dass es ablässt von der Bosheit und dem Recht Raum gibt. Er bringt sich selbst ein: „Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden; ich sehe und höre ihre Bosheit; ich sehe, wie sie sich verrennen im Unrecht.“ Nicht bräuchte sich Gott so sehr engagieren, wenn es nicht seine Wahrheit, sein Recht und seine gute Ordnung wäre. Aber nicht um seiner selbst engagiert er sich, sondern um seines Volkes willen: „Es ist ja mein Volk, dem ich mein Recht und meine Wahrheit als gute Ordnung zum Leben gegeben habe.“

Jeremia bringt Gottes Klagen – ja sollte ich sagen: Gottes Tränen? – über sein Volk zu Gehör. Ob es wohl das Geschenk von Wahrheit, Recht und heilsamer Ordnung erkennen mag? Gottes Klage, Gottes Tränen, dringen durch die Zeiten hindurch auch zu uns, und sie werden eindringlich immer dann, wenn wir meinen, selbst Herr zu sein über die Würde des Menschen und selbst bestimmen zu können, was gut ist. Dann gilt es, Gottes Klage zu vernehmen und uns auf den rechten Weg bringen zu lassen: „Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8).

Amen.

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