Mit den Bedürftigen auf Augenhöhe

Zielbestimmung für den Auftrag von Kirche und Gemeinde heute

Predigttext: Lukas 13,22-27(28-30)
Kirche / Ort: 07381 Pössneck (Thüringen)
Datum: 21.11.2007
Kirchenjahr: Buß und Bettag
Autor/in: Pfarrer Jörg Reichmann

Predigttext: Lukas 13,22-30 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

22 Und er ging durch Städte und Dörfer und lehrte und nahm seinen Weg nach Jerusalem. 23 Es sprach aber einer zu ihm: Herr, meinst du, daß nur wenige selig werden? Er aber sprach zu ihnen: 24 Ringt darum, daß ihr durch die enge Pforte hineingeht; denn viele, das sage ich euch, werden danach trachten, wie sie hineinkommen, und werden's nicht können. 25 Wenn der Hausherr aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat, und ihr anfangt, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen und zu sagen: Herr, tu uns auf!, dann wird er antworten und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? 26 Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf unsern Straßen hast du gelehrt. 27 Und er wird zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? Weicht alle von mir, ihr Übeltäter! 28 Da wird Heulen und Zähneklappern sein, wenn ihr sehen werdet Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinausgestoßen. 29 Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. 30 Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein.

Einstimmung zum Text

Der Buß- und Bettag ist schon einige Jahre kein gesetzlicher Feiertag mehr, und kaum noch jemand außerhalb der evangelischen Kirche kann sich an ihn erinnern. Gestrichen für die Pflegeversicherung, deren Kassen dennoch permanent leer sein sollen, verschwand er in der Versenkung, und ich möchte behaupten, dass auch nicht wenige evangelische Christen sagen würden, wenn an ihn erinnert wird: „Ach ja, da war doch was!“ Findet überhaupt ein Gottesdienst zum Tage statt, dann in den Abendstunden, sicher oft auch als Abschlussgottesdienst der Friedensdekade. Für die Pfarrerinnen und Pfarrer, die zum Kirchenjahresende „Jahreshauptsaison“ haben, macht dieser abgeschaffte Feiertag zusätzliche Mühe bei oft sehr kleinen Besucherzahlen der Veranstaltungen. Diese Gedanken sind zu berücksichtigen, bevor die Predigerin/ der Prediger sich dem Text nähert, der allerdings durch Lebendigkeit und Spannung überrascht. Lukas stellt in unserem Abschnitt um das Symbol der engen und später sogar verschlossenen Tür herum eine Szenerie auf, die der Frage nach dem Zugang zu Gottes neuer Welt eine Dramatik verleiht, die sie im Leben der Gemeinde heute gemeinhin nicht hat. Die Frage nach den „Letzten Dingen“, wie sie im Text ernsthaft gestellt wird, habe ich in meiner bisherigen zwanzigjährigen Berufspraxis nicht einmal aus der Gemeinde gehört, und es fällt vor allem in allerletzter Zeit recht schwer, den Menschen davon zu erzählen. Denn einschneidende Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Gemeinden sind zu verkraften. Die Gemeinden werden immer älter und immer kleiner, allerorten wird Personal abgebaut, die Kirchenleitungen geben, soweit sie nicht mit sich selbst beschäftigt sind, Durchhalteparolen oder euphemistische Sprüchlein heraus. Wer denkt da noch an Gottes neue Welt? Als ferne Vision ist sie zu Recht in den Hintergrund getreten, da dieser der süßliche Geruch einer nicht ernst gemeinten Vertröstung anhaftet, als die sie lange Zeit auch missbraucht worden ist. Als Zielbestimmung für den Auftrag von Kirche und Gemeinde heute allerdings bekommt die Rede vom Reich Gottes mit dem Hintergrund der klaren Parteinahme des Lukas für die Armen und Benachteiligten in der Gesellschaft eine ganz eigene Dynamik, die den Text mit seinem Spitzensatz in Vers 30 nicht nur für den Buß- und Bettag prädestiniert.

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Liebe Schwestern und Brüder,

in der Ruhe dieses Abends Tages möchte ich Sie einmal ganz persönlich fragen: „Was ist für Sie der Himmel auf Erden?“ Ja, Sie haben richtig gehört: der Himmel auf Erden. Der Ort, mit dem Sie wunderschöne Erinnerungen verbinden, zu dem es Sie in Ihren Träumen immer wieder hinzieht? Ihr Fluchtpunkt, auf den Ihre Sehnsucht zuläuft? Ich nehme an, dass ganz persönliche Bilder in Ihnen aufsteigen – ein schöner Strand, ein weiter Blick vom hohen Berg oder ein fröhliches Fest im Kreis von lieben Menschen oder was sonst auch immer jetzt vor Ihnen steht. Der Himmel steht förmlich vor Ihnen, und Ihr Verstand und Ihre Erfahrung sagen Ihnen im gleichen Moment: Tausend Hindernisse stehen im Weg. Der Zugang ist nur schwer oder überhaupt nicht möglich.

Die Tür zum Himmel ist schmal, irgendwie ist immer jemand vor Ihnen da und plötzlich geht da gar nichts mehr. Enttäuschung, Resignation macht sich breit. Der Himmel auf Erden bleibt ein Traum. Ich möchte Sie bitten: Behalten Sie Ihr Bild vom Himmel auf Erden im Gedächtnis, wenn Sie nun unseren Predigttext aus dem Lukasevangelium hören.

Lesung des Predigttextes

Lukas erzählt nicht vom Himmel auf Erden, sondern von Gottes neuer Welt. Alle wollen hinein, keiner will zurück bleiben. Verwundert und kopfschüttelnd stehen wir am Rand der Szene. Den persönlichen Himmel auf Erden erreichen ja, aber mit aller Kraft versuchen, in Gottes neue Welt zu kommen? Warum sollten wir? Geht es uns nicht ganz gut hier? Sollten wir uns wirklich auf diese Ungewissheit einlassen, aufgeben, was wir sicher haben, auf etwas vertrauen, was sich nicht berechnen oder kaufen lässt? Eine Zumutung! Wenn schon der Himmel auf Erden in der Regel unerreichbar bleibt, was brauchen wir dann den Himmel von Gottes neuer Welt? Wir haben mit der Regelung unseres Alltags genug zu tun. Wir wollen uns nicht vertrösten lassen auf irgendwann und schon gar nicht auf eine Ewigkeit, deren Existenz wir noch nicht einmal beweisen können! Und selbst die Kirche spricht nicht mehr oft von einer neuen Welt Gottes, seitdem die Sorgen um den Fortbestand der immer älter und kleiner werdenden Gemeinden die Beschäftigung mit sich selbst erzwingt.

Wir leben heute, hier und jetzt. Da ist nichts von Gottes neuer Welt zu sehen. Wirklich? Ein Stau an einer Tür. Menschen drängeln, wollen eingelassen werden. Mir steht sofort das Bild der Tafel unserer Stadt vor Augen. Menschen drängeln sich kurz vor der Öffnungszeit dicht vor der engen Tür. Es werden immer mehr, vielen von ihnen sieht man ihre Bedürftigkeit an. Hinter der Tür erwartet sie ein bescheidener Himmel auf Erden. Genug und gut zurechtgemachtes zum Essen, das sie sich leisten können. Nur nicht zu spät kommen, dabei sein, wenn die Tafel öffnet, das lohnt sich. Die Mitarbeiterinnen bemühen sich, alles gerecht zu verteilen: Da ist es, das Stück Himmel, die andere Welt: Der Ort, an dem es gerecht zugeht, ohne Vorurteile, wo die reingelassen und bedient werden, die es wirklich nötig haben.

Und die Frauen hinterm Ladentisch, die diese Aufgabe ehrenamtlich übernommen haben, sagen nicht: „Die sind doch selber schuld! Die sind doch nur zu faul zum Arbeiten! Jetzt kriegen die auch noch das Essen nachgeworfen!“ Sondern sie stehen mit den Bedürftigen auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch. Eben wie im Himmel, möchte ich sagen, ohne pathetisch zu werden, denn ihr Engagement ist nicht hoch genug einzuschätzen, wenn ich den Text des Lukas ernst nehme. Eine Arbeit für ein klein wenig Gerechtigkeit in unserer ungerechten Welt öffnet wie eine Tür bessere Lebensmöglichkeiten für die Letzten in der Gesellschaft. Lukas sagt, dass Jesus gesagt hat: diese Letzten werden die Ersten sein –in Gottes neuer Welt.

Wo sind wir als Kirche und Gemeinde? Starren wir wie gebannt auf bessere Zeiten in der Vergangenheit, als noch die Kirchen voll und die Menschen gottesfürchtig waren, und versinken in Selbstmitleid oder rütteln wir endlich an der Tür zu Gottes gerechter Welt? Die Letzten werden die Ersten sein, das ist kein flotter Spruch für freche Vordrängler an der Theaterkasse, das hat Jesus ernst gemeint. Die Tür steht symbolisch für einen neuen Anfang, wenn wir erkennen, wohin Gott uns führen will, die Aufgabe sehen, die uns gestellt ist. Wir müssen dazu das Rad nicht noch einmal erfinden. Lesen wir die Bibel, lernen wir von unseren Mitchristen in den armen Ländern dieser Welt, die uns weit voraus sind, und bitten wir um Gottes guten Geist, der uns hin und wieder ein Stück Himmel in greifbare Nähe rückt.

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