“Lass ihn durchschlupfen”
Das letzte Wort hat Gott
Predigttext: Offenbarung 3, 1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(1) Und dem Engel der Gemeinde in "Sardes" schreibe: Das sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. (2) Werde wach und stärke das andre, das sterben will, denn ich habe deine Werke nicht als vollkommen befunden vor meinem Gott. (3) So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde (4) Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind's wert. ( 5) Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. (6) Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Der Predigttext ist eines der sieben Sendschreiben an die Gemeinden in Kleinasien, wohl um das Jahr 100 n. Chr. in der Verfolgungssituation der christlichen Gemeinde verfasst. Sardes, ehemals eine reiche und prachtvolle Stadt, gilt als "lebendige Gemeinde", ruht sich aber wohl zu sehr auf ihrem Ruf aus. Interessant, dass in der Stadt, in der Textilhandel eines der Hauptgeschäfte war, die Rede von den "weißen Kleidern" ist. In der Gemeinde haben wir einen theologischen Gesprächskreis, mit dem ich den Predigttext "besprochen" habe. Viele Ideen, Anstöße und Gedanken aus dieser Runde sind nun in meine Predigt eingeflossen. Auch ausgehend aus dieser Runde habe ich Entscheidungen getroffen, was nun in der Predigt eine tragende Rolle spielen soll und den Schwerpunkt auf das "Wachsam sein" und den anklingenden Gerichtsgedanken am Ende unseres Predigttextes gelegt.Liebe Gemeinde!
So langsam geht es auf die Zielgerade. Die etlichen Kurven und Etappen durch überfüllte Kaufhäuser mit uns ständig begleitender Weihnachtsmusik haben wir bald geschafft. Die leuchtenden Sonderangebote, die uns immer mehr Geld aus den Taschen ziehen wollen – wir haben sie bald alle gekauft. Die knallroten, fassadenkletternden Weihnachtsmänner haben bald ihr Ziel erreicht. Manche von uns waren schon auf diversen Weihnachtsfeiern oder haben diese noch vor sich, die letzten Geschenke werden gekauft und die Planungen für den Heiligen Abend nehmen so langsam aber sicher Gestalt an.
Advent – die Zeit der Besinnung, des Innehaltens – die Zeit der Buße!? Nein, dafür ist jetzt kein Platz. Später vielleicht. Aber bitte nicht vor Weihnachten. Aus allen süßen Träumen um das Weihnachtsfest werden wir unverhofft durch den heutigen Predigttext gerissen. Er ist – wie auch schon am vergangenen Sonntag – ein so genanntes »Sendschreiben«. Um das Jahr 100 nach Christus hat der Seher Johannes eine Vision. In dieser Vision erscheint ihm Christus, der ihm diktiert, was er an insgesamt sieben Gemeinden in Kleinasien schreiben soll. Wir hören das Sendschreiben für die Gemeinde in Sardes:
(Lesung des Predigttextes)
Ein vernichtendes Urteil, das über die Gemeinde in Sardes gesprochen wird. Äußerlich gibt sich die Gemeinde lebendig und intakt, aber innerlich stimmt einiges nicht. Innerlich ist sie krank und in desolatem Zustand.
Die Diagnose: Ein Absterben bei vermeintlicher Lebendigkeit
Die Gemeinde in Sardes scheint sich auf ihrem Ruf auszuruhen. In der Provinz Asia war sie bekannt als eine so genannte »lebendige Gemeinde«. Menschen kamen zum Glauben an den auferstandenen Jesus Christus und trotz Verfolgungssituation wuchs die Gemeinde. Aber das ist schon einige Jahre her. Ebenso einige Zeit, einige hundert Jahre, ist es her, dass Sardes eine berühmte, prunkvolle Stadt war. Sie war das Zentrum des Königreiches Lydiens und kein Geringerer als der für sein Reichtum sprichwörtlich gewordene Krösus machte Sardes zu einer reichen und wohlhabenden Stadt. Aber das war einmal.
Die Realität sieht anders aus: Sardes ist ein Trümmerhaufen. Äußerlich wie innerlich. Ein Erdbeben zerstört die Stadt 17 nach Christus äußerlich. Und innerlich zerstört sich die Gemeinde selbst. Ein hartes Urteil: »Man sagt, Du bist eine lebendige Gemeinde. Aber in Wirklichkeit bist Du tot.« Das Urteil über Sardes ist gefällt. Aber wie sieht es mit uns aus? Können wir uns zurücklehnen und sagen: »Naja, das war halt das Urteil über Sardes. Was geht’s mich an?« Es wäre doch zumindest einmal der Versuch wert zu sagen: » Man sagt, Du bist eine lebendige Gemeinde, Leutershausen. Aber in Wirklichkeit bist Du tot.«
Da müssen wir erst einmal schlucken und es von uns weisen. Denn schließlich läuft es bei uns doch ganz gut: wir haben viele Gruppen und Kreise, unsere Gottesdienste werden überdurchschnittlich gut besucht, wenn man die Statistiken des kirchlichen Reformpapiers »Kirche der Freiheit« zu Grunde legt, in der Zeitung liest man hier und da etwas über das kirchliche Leben, wir unterstützen Kinderheime in Brasilien und Nigeria, haben von den Kleinsten in der Krabbelgruppe bis zu den Ältesten im Seniorenkreis irgendwie alle mit an Bord und überhaupt: es läuft. Es läuft. Es läuft…
Doch gerade hier hinein platzt dieses Sendschreiben an die Gemeinde in Leutershausen: Jesus will nicht, dass es in seiner Gemeinde »einfach nur so läuft«, dass wir die Dinge aus Routine tun, sondern er will, dass seine Gemeinde lebt, dass sie sich von ihm anstecken lässt, dass sie neues Leben von ihm empfängt. Natürlich kann ich nicht, kann niemand darüber urteilen, was aus Routine geschieht und was nicht. Aber ich glaube, dass uns Gott, den wir als den Gott des Lebens feiern und verehren, darauf aufmerksam machen möchte, die Dinge aus Leidenschaft heraus zu tun. Das Gegenteil von Routine ist Leidenschaft. Und darauf kommt es Jesus an. In Sardes genauso wie in Leutershausen.
Die Therapie: Wach auf!
Gerade keine Schlaftabletten, sondern Wachmacher – das ist es, was die Gemeinde benötigt. Denn schlafen bedeutet, Gott und sein Wirken vergessen über all den Sorgen und der Routine, die unser Leben bestimmt. Immun zu werden gegen Gottes überraschendes und manchmal so ganz anderes Eingreifen in unseren Alltag und Gemeindeleben. Dies können wir aber nur erleben, wenn wir wachsam sind. Wenn wir aufmerksam durch das Leben gehen, wenn wir offen sind für Gottes Reden und sein Handeln in dieser Welt, an uns. Wenn wir sagen: »Wirke Du, Herr!«
Wach sollen wir sein, um Buße zu tun und umzukehren
Die Gemeinde in Sardes wird aufgefordert, Buße zu tun. Hier wird deutlich, was die Adventszeit eigentlich sein möchte: eine Zeit der Umkehr, der Neuorientierung, der Besinnung auf das Wesentliche im Leben. Und das nicht einmal, sondern täglich, so wie Luther es auch in seinem kleinen Katechismus (IV. Hauptstück, »Zum vierten«) im Zusammenhang mit der Taufe schreibt:
»Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.«
Das heißt auch, dass wir uns als Christen, als Gemeinde immer wieder hinterfragen müssen. Selbstgerechtigkeit und Selbstverliebtheit haben hier nichts zu suchen. Aber ich weiß: das ist schwierig. Es ist verlockend, sich auf dem schon Erreichten auszuruhen. Buße. Umkehr. Das sind Worte, die ganz unterschiedliche Bilder in uns entstehen lassen: Wir sehen Johannes den Täufer, wie er am Jordan mit einem Kamelhaarmantel bekleidet das jüdische Volk zur Umkehr, zur Buße ruft. »Tut Buße. Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!« Buße. Umkehr. Worte, die vielleicht dem einen oder der anderen auch gar nicht mehr so verständlich sind. Gewissermaßen sind sie auch aus der Mode gekommen. Dabei hat ein jeder und eine jede von uns Umkehr nötig. Es vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht schuldig machen an unseren Mitmenschen und an Gott. Aber wohin mit dieser Schuld, diesem Versagen? Wir würden verrückt werden, müssten wir es mit uns herumtragen. In einem Lied von Manfred Siebald heißt es:
» Jesus, bei Dir darf ich mich geben, wie ich bin. Ich muß nicht mehr als ehrlich sein vor Dir. Ich muß nichts vor Dir verbergen, der mich schon so lange kennt. Du siehst, was mich zu Dir zieht und auch was mich von Dir noch trennt. Und so leg ich Licht und Schatten meines Lebens vor Dich hin, denn bei Dir darf ich mich geben, wie ich bin.«
Wach sollen wir sein, um andere zu stärken
Wachsam zu sein heißt nicht nur umzukehren, sondern auch Augen und Ohren offen zu halten für unsere Mitmenschen. In unserem Predigttext heißt es, »das übrige, das sterben will, zu stärken.« Als Christen, als diejenige, die wir hier im Gottesdienst zusammen sind haben wir eine Aufgabe: Zeugen zu sein für die Liebe Gottes. Und wann, wenn nicht in dieser Weihnachtszeit hätten wir besseren Grund dazu. Sagen wir es doch in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen – wo auch immer: wir feiern Weihnachten, weil Gott Mensch wurde. Viele Menschen wollen Gott sein, aber nur ein Gott will Mensch sein. Weil die Liebe Gottes zu uns Menschen kam und immer wieder neu kommt – darum und aus keinem anderen Grund feiern wir Weihnachten.
Vielleicht fällt Ihnen/Euch in den kommenden Tagen jemand ein, der ein Wort der Ermutigung oder des Trostes benötigt. Dann warten Sie / dann wartet nicht lange und gehen Sie hin zu diesem Menschen und stärken sie ihn. Oder es kommt uns jemand in den Sinn, für den wir beten könnten. Dann tun wir es. Auch dadurch stärken wir den anderen. Manchmal sind die ersten Schritte die schwierigsten – aber auch die einfachsten. Niemand hindert uns daran, von uns weg auf unsere Mitmenschen zu schauen und den Bedürftigen zu sehen. Aber manchmal stehen wir uns selbst im Weg. So wie Jesus der Gemeinde in Sardes es sagen will, so sagt er es auch uns: Seid mutig und stark. Geht auf diejenigen zu, die Stärkung und Ermutigung benötigen.
Wach sollen wir sein – um Jesus empfangen zu können
Es ist schon eigenartig: Wohl zu keinem anderen Fest im Kirchenjahr wird so liebevoll und herzzerreißend über Jesus gesprochen: das »Kindlein in der Krippe«, das »Christuskind« oder das »Baby Jesus« – es hat ja auch Charme, wie Gott in diesem zerbrechlichen Wesen Mensch wird. Dabei ist dieses kleine, zarte Kindlein in der Krippe ebenso der Herr der Herren, der König aller Könige und Richter dieser Welt. Wach sollen wir sein. Nicht nur um Jesus an Weihnachten empfangen zu können, sondern auch dann, wenn er am Ende dieser Weltgeschichte wiederkommen wird. »Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.«. So bekennen wir es im Glaubensbekenntnis.
Gott verheißt denen, die überwinden, die ihm treu bleiben, die umkehren »weiße Kleider«. Für die Menschen in Sardes, wo die Textilbranche einen hohen Stellenwert hatte, war dieses Bild einleuchtend. Das weiße Kleid, das Hochzeitskleid für die, die eben nicht aus dem Buch des Lebens gestrichen werden, sondern in Ewigkeit bei Gott sein werden.
Als wir unter der Woche im Gesprächskreis »Im Leben unterwegs« über diesen Text sprachen, meinte jemand aus der Runde: »Sagen Sie mal, Herr Brunner, wird hier nicht auch das Gericht angesprochen mit dem Buch des Lebens und dem Bekennen vor dem Vater? Das ist doch gar nicht mehr »in« heutzutage, oder?« Und in der Tat ist hier vom Gericht Gottes die Rede – ob wir wollen oder nicht, »wir werden uns alle vor Christus als unserem Richter verantworten müssen.« (vgl. 2 Kor 5,10)
Ich finde, das ist ein beruhigender Gedanke. Denn am Ende unseres Lebens, am Ende unserer Geschichte stehen nicht menschliche Herrscher mit ihrer Willkür – sondern der gerechte und barmherzige Christus als Weltenherr und Weltenrichter. Die Macht aller menschlichen Richter wird dann ein Ende haben und es werden die zu ihrem Recht kommen, die es auf Erden nicht hatten: die Geringsten, die Bedürftigen, die Armen. Denn das letzte Wort hat Gott selbst. Wenn wir uns vor Christus als unserem Richter zu verantworten haben, dann haben wir das vor dem zu tun, der auf Golgatha das Gericht getragen hat. In einem Text, den man Martin Luther zuschreibt, wird deutlich, unter welchen Umständen wir gelassen in das Gericht gehen können:
Mir ist es bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit
unmöglich gewesen den Forderungen Gottes zu genügen.
Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen
dies täglich beweinte Zurückbleiben vergebe, so ist’s aus mit mir.
Ich muss verzweifeln. Aber das lass’ ich bleiben.
Wie Judas an den Baum mich hängen, das tu’ ich nicht.
Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi wie die Sünderin.
Ob ich auch noch schlechter bin als diese, ich halte meinen Herrn fest.
Dann spricht er zum Vater: Dieses Anhängsel muss auch durch.
Es hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten.
Vater, aber er hängt sich an mich. Was will’s! Ich starb auch für ihn.
Lass ihn durchschlupfen.
Das soll mein Glaube sein.
Amen.