Richtungswechsel
Wer sagt eigentlich, das geht nicht?
Predigttext: Apostelgeschichte 16,9-15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiß, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. 11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluß, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.Exegetische Vorbemerkungen
Nach vereitelten Reiseplänen an die kleinasiatische Westküste ergeht an Paulus im Traum die direkte göttliche Weisung, in Griechenland zu missionieren. Ein Mazedonier erscheint ihm und spricht als Repräsentant seines Volkes die Bitte aus: „Komm herüber und hilf uns“. Die Hilfe, die verlangt wird, ist die Rettung durch die Frohe Botschaft von Jesus Christus. Paulus setzt mit seinen Begleitern nach Europa über und kommt zunächst in die römische Koloniestadt Philippi. Dort trifft er an einer jüdischen Gebetsstätte die Lydierin Lydia. Lydia steht einem Hausstand aus lauter Frauen vor, dem womöglich männliche Sklaven zugehören, aber kein erwachsener freier Mann, denn dieser wäre sonst der Hausherr gewesen. Sie ist vermutlich reich und wirtschaftlich selbständig (Roloff). Sie feiert vor den Toren von Philippi mit Frauen einen Synagogengottesdienst, obwohl dies gegen das jüdische Recht ist, das die Mindestzahl von zehn Männern vorschreibt (L. Schottroff). Paulus bekehrt Lydia und tauft sie oder veranlaßt zumindest ihre Taufe. Sie ist die erste Christin in Europa. Mit Lydia läßt sich auch ihre ganze Hausgemeinschaft taufen. Danach bietet Lydia Paulus und seinen Begleitern Gastfreundschaft an. Es geht weniger um das biblische Gebot der Gastfreundschaft als vielmehr darum, ob das Haus der Lydia zur Keimzelle der Hausgemeinde in Philippi und Lydia die Gemeindeleiterin wird (vgl. Apg 16,40). Aber Paulus zaudert, das Angebot der Lydia anzunehmen. Das Zögern wird unterschiedlich interpretiert. Wendel meint: Paulus hat andere Erwartungen. Er hat im Traum einen mazedonischen Mann gesehen, den er zu Christus führen und mit ihm seine Missionsarbeit in Griechenland beginnen will. Die Begegnung mit der Lydierin Lydia erscheint ihm noch nicht als der von Gott geplante Start seiner griechischen Missionsarbeit. Er erwartet einen mazedonischen Mann und keine lydische Frau. Schottroff deutet den Vorgang anders: Die paulinische Ablehnung ist ein Ausdruck der Weigerung von christlichen Männern, Frauen, deren Taufe sie gerade selbst vorgenommen haben, die geschlechterunabhängigen Rechte aus der Taufe zuzubilligen. Paulus lehnt das Angebot ab, weil er Frauen Unzuverlässigkeit im Glauben unterstellt. Denkbar ist m.E. auch, dass sich bei Paulus beide Arten der Bedenken mischen. Lydia gibt aber nicht auf. Sie argumentiert vermutlich implizit oder explizit mit dem urchristlichen Taufbekenntnis, das wir aus Gal 3,28 kennen. Die Taufe bedeutet eine Gleichstellung von Mann und Frau im Glauben und ist das Siegel der Zuverlässigkeit und Treue. Lydia „nötigt“ Paulus und seine Begleiter, bei ihr einzukehren (Apg 16,15), so wie die Emmausjünger Jesus „nötigten“, bei ihnen einzukehren (Lk 24,29). Letztlich setzt Lydia ihre Vorstellungen durch, auch gegen die ursprüngliche Absicht der Männer, die sie bekehrt hatten. Sie wird die erste Gemeindeleiterin auf europäischem Boden.Literatur:
Jürgen Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1988, S. 239-248. - Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994, S. 165-167. - Ulrich Wendel, Priska, Junia & co, Gießen 2003, S. 65-74.Liebe Schwestern und Brüder!
Gott spricht zu Paulus im Traum
Wer sagt eigentlich, das geht nicht? So fragte sich Paulus, als er einen nächtlichen Traum hatte. Seine Reisepläne an die Westküste Kleinasiens, der heutigen Türkei, waren vereitelt worden. Er hatte verschiedene Pläne gefaßt und ausprobiert, aber ein Versuch nach dem anderen zerschlug sich. Die Apostelgeschichte betont: Es war Gott, der Paulus diese Pläne vereitelte. Wieso? Er hatte Wichtigeres mit ihm vor! Aber die Zeit war noch nicht reif, Paulus mußte warten. Eines Tages dann sah er im Traum einen Mann, dessen Tracht aussah, als käme er aus Mazedonien. Dieser lud ihn dringend in sein Land ein. Als Paulus aufwachte, wußte er in seinem Inneren: „Das ist es! Das hat Gott mit mir vor! Das ist meine Berufung!“ Umgehend machte er sich mit seinen Begleitern auf den Weg, um die Frohe Botschaft von Jesus nach Griechenland zu bringen. Ein weltgeschichtlich bedeutsames Datum: Zum ersten Mal betraten christliche Missionare den Boden Europas. Paulus überschritt eine Barriere, die bisher weder Petrus noch ein anderer Missionar angetastet hatte. Aufgrund eines Traumes. Wer sagt eigentlich, das geht nicht?
Liebe Gemeinde, an Paulus können wir lernen, dass es verschiedene Zeiten gibt, die man beachten sollte. Es gibt eine Zeit des Wartens. Eine Zeit der Ungewißheit. Eine Zeit des Suchens. Paulus hätte die Zeit der Suche einfach überspringen oder abkürzen können: Gottes Pläne hin, Gottes Pläne her! Er hätte kurzerhand an die Küste Kleinasiens reisen können, um dort zu predigen. Wer weiß, ob er dann je nach Europa gekommen wäre? Wer weiß, ob er dann nicht einer unter vielen Missionaren gewesen wäre, deren Namen wir heute nicht mehr kennen? Nun, Paulus hielt die Wartezeit aus. Mit einem Traum kam der Wendepunkt. Es brach die Zeit der Berufung an. Die Zeit des Aufbruchs. Dieser Aufbruch wurde zu unserem Segen, denn auf diese Weise kam die Frohe Botschaft zu uns nach Europa.
Seltsam, durch ein Traumgesicht sprach Gott zu Paulus. Wir sagen „Träume sind Schäume“. Aber Gott ist oft leise. Sein Wirken ist fast unbemerkt, auch heute noch. Es muß auch kein Traumgesicht sein. Er wirkt manchmal durch ein eher unbeabsichtigtes Wort, das mich stärkt. Durch einen Anruf, der mir Mut macht. Durch eine zärtliche Berührung, die mich wärmt. Gott spricht zu uns manchmal durch kleine Fingerzeige. Durch sachte Botschaften im Alltagsalphabet. Ein Zettel mit einem Gedicht, den ich zufällig in die Hand nehme. Oft habe ich ihn gelesen, und er sagte mir nichts. Diesmal aber spricht er zu mir. Er spricht zu mir das Wort, das ich gerade brauche. Oder: Manchmal nimmt ein Tag eine überraschende Wende. Plötzlich fügen sich Dinge in wunderbarer Weise. Oder ein Mensch wird mir zum richtigen Zeitpunkt geschickt. Oft genug kommt es auch nicht auf Höhe, auf Größe, auf Tempo, auf Fleiß, auf Lautstärke, auf Sehschärfe an. Vielmehr ist Zufall der entscheidende Faktor in unserem Leben. Es kommt nur darauf an, auf wen man den Zufall zurück führt. Ich glaube: Durch Zufälle hindurch wirkt Gott. Paulus ließ Gott die Freiheit, selbst den Verlauf seiner Tage zu bestimmen. Sollten wir das nicht auch tun?
Von Helder Camara stammt folgender Spruch: Sage Ja zu den Überraschungen, die deine Pläne durchkreuzen, deinem Tag eine ganz andere Richtung geben, ja vielleicht deinem Leben. Sie sind nicht zufällig.Laß den himmlischen Vater die Freiheit, selbst den Verlauf deiner Tag zu bestimmen.
Gott spricht zu Paulus durch eine Lydierin
Wer sagt eigentlich, das geht nicht? In Europa traf Paulus jemand, der ihn mit diesem Satz neu und ganz anders konfrontierte. Sein erster Weg führte nach Philippi. Eine Lydierin namens Lydia war die erste, die die Botschaft von Jesus annahm und sich taufen ließ. Die erste Christin in Europa. Sie ließ sich mit ihrer ganzen Hausgemeinschaft, die aus Frauen bestand, taufen. Nach der Taufe erging eine Einladung. Lydia bot Paulus und seinen Begleitern Gastfreundschaft an. Aber Paulus weigerte sich. Nicht etwa aus Bescheidenheit. Es ging zunächst um Essen, Unterkunft und Schutz für die Wanderprediger. Es ging aber auch um mehr: Das jeweils erste Haus war meist die Keimzelle der entstehenden Gemeinde am Ort. Der Hausvorstand wurde zum örtlichen Gemeindeleiter. Paulus zögert, weil er gänzlich andere Erwartungen hat. Im Traum sah er einen Mazedonier. Diesen Mann will er zu Jesus führen und mit ihm seine Arbeit in Griechenland beginnen. Für Paulus ist der Traum ein göttlicher Auftrag. Er erwartet einen mazedonischen Mann, aber nun steht eine lydische Frau vor ihm! Der Mann aus dem Traum soll eine Frau sein? Ist Gott so überraschend?
Paulus ist verblüfft und irritiert. Er wehrt ab. Vielleicht ist es für ihn auch ein Problem, dass eine Frau die Gemeinde leiten würde. Aber Lydia läßt nicht locker. Sie argumentiert mit ihrer Taufe. Vielleicht so (Gal 3,28): „Paulus, du sagtest: Durch die Taufe sind die trennenden Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen verschwunden. Alle sind ein neuer Mensch in Jesus geworden. Urteile selbst! Sollte ich untreu zu Jesus sei, nur weil ich eine Frau bin? Die Taufe besiegelt meine Treue!“ Lydia besitzt soviel Rückgrat, dass uns überliefert wird, dass sie Paulus regelrecht nötigt. Die erste Gemeindegründung in Griechenland in ihrem Haus – Wer sagt eigentlich, das geht nicht? Paulus gab nach und Lydia wurde die erste Gemeindeleiterin Europas.
Liebe Gemeinde, Paulus mag Vorurteile gegenüber Frauen gehabt haben. Er war indes bereit, seinen Standpunkt zu überprüfen. Auch seine männlich geprägten Vorstellungen über die göttliche Traumsendung zu einem Mazedonier war er bereit zu hinterfragen. Er hat dem himmlischen Vater die Freiheit gelassen, seine Pläne und Vorstellungen zu durchkreuzen. Lydia überzeugte Paulus mit dem Taufargument. Wie würde sie heute mit Papst Benedikt XVI. diskutieren, der Frauen verbietet Priesterinnen zu werden? Würde sie ihn mit dem Verweis auf die Taufe überzeugen können, dass Frauen in der Kirche dieselben Rechte zustehen wie Männern? Würde sie ihn wenigstens mit dem Verweis auf die Tradition überzeugen können: Immerhin wurde die erste Gemeinde in der Westkirche von einer Frau geleitet? Würde sie den Papst nötigen können, wie sie es bei Paulus zu unserem Segen tat?
Lydia macht ihren Weg
Wer sagt eigentlich, das geht nicht? Das war Lydias Lebensmotto. Lydia, eine Namenlose, eine Umgepflanzte. Eine Frau, die ihren Weg machte. Eine Frau, die sich in kein Schema pressen läßt.
Eine Namenlose: Sie wurde einfach nach ihrer Heimat benannt: „die Lydierin“. Es klang so, wie wenn man heute eine Frau einfach „die Polin“ nennt. Eine Umgepflanzte: Sie kam aus der Stadt Thyatira in Kleinasien. Die Stadt war berühmt für ihre Purpurindustrie. Nun lebte sie im Nordosten Griechenlands. In Philippi, fern der Heimat. Ob sie allein übergesiedelt war? Ob sie mit Mann aus ihrer Heimat fortzog, und er dann starb? Wir wissen es nicht.
Eine Frau, die ihren Weg machte: Sie war wohlhabend und unabhängig. Ihr Handel mit den Luxusstoffen aus Purpur war ein einträgliches Geschäft. Sie hatte ein Haus voller Frauen um sich geschart. Eine bergende Gemeinschaft fern der Heimat hatte sie sich aufgebaut.
Eine Frau, die sich in kein Schema pressen läßt: Sie hatte die jüdische Glaubensweise übernommen. Eine vollgültige Jüdin wurde sie nicht, denn sie war als Nichtjüdin geboren. In der römischen Koloniestadt Philippi lebten nicht viele jüdische Männer. Als Paulus Lydia an der jüdischen Gebetsstätte trifft, beten dort nur Frauen. Nach jüdischem Recht braucht es zehn Männer, um einen Gottesdienst feiern zu können. Selbst wenn alle Frauen Philippis zum Gottesdienst kämen, aber nur neun Männer, so müßte der Gottesdienst ausfallen. So sieht es das jüdische Gesetz vor. Lydia kümmert sich aber um solche Vorschriften nicht. Selbständig feiert sie Gottesdienst. Ohne Männer. Wer sagt eigentlich, das geht nicht? Lydia verhält sich nicht so, wie eine Frau sich damals zu verhalten hatte.
Auch Paulus nötigt sie geradezu, in ihrem Haus die erste christliche Gemeinde zu gründen. Wir wissen, dass Paulus ein energischer Mann war. Selbst diesem Paulus gegenüber setzt sie ihre Vorstellungen durch. Die erste Gemeindeleiterin Europas eine Frau – Wer sagt eigentlich, das geht nicht?
Und heute? Welche Frau traut sich wie Lydia, zu ihrem eigenen Können zu stehen? Welche Frau läßt sich nicht in Schemata pressen? Welche Frau geht ihren eigenen Weg? Welche Frau nimmt ihr Leben mutig in die Hand? Ich gestehe, dass die Kirchen da viel Schuld auf sich geladen haben. Lange Zeit wurde von den Kanzeln gepredigt, dass Frauen demütig sein, sich beugen und immer bereitwillig zurückstecken sollten. Selbstsicheren Frauen wurden Schuldkomplexe eingeimpft. Viel Leid wurde da Frauen angetan! Lydia und die Mütter im Glauben wurden vergessen. Erst langsam werden sie wiederentdeckt.
Die Suche nach einer Neuorientierung spiegelt das folgende Gebet von einer Gruppe schwedischer Frauen wider:
Christus, ich bekenne vor dir, dass ich keinen Glauben an meine eigenen Möglichkeiten gehabt habe. Dass ich in Gedanken, Worten und Taten Verachtung für mich und für mein Können gezeigt habe. Ich habe mich selbst nicht gleichviel geliebt wie die anderen, nicht mein Körper, nicht mein Aussehen, nicht meine Talente, nicht meine Art zu sein. Ich habe andere mein Leben steuern lassen. Ich bekenne, dass ich nicht gewagt habe zu zeigen, wie tüchtig ich bin, nicht gewagt habe, so tüchtig zu sein, wie ich es wirklich sein kann. Gott, richte mich auf, gib mir Glauben an mich selbst und Liebe zu mir selbst.
Lydia, die erste Christin und Gemeindeleiterin Europas. Sie setzte ihr Vertrauen auf den Gott, der immer wieder neu und überraschend ist. In diesem Vertrauen wurzelte ihre Frage: Wer sagt eigentlich, das geht nicht?
Amen.