Wieder-Holung

Biblische Geschichten in das eigene Leben hineinholen

Predigttext: Hebräer 11,8-10
Kirche / Ort: Christuskirche Karlsruhe
Datum: 17.02.2008
Kirchenjahr: Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)
Autor/in: Privatdozent Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele

Predigttext: Hebräer 11,8-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

(8) Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wußte nicht, wo er hinkäme. (9) Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. (10) Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.

Homiletische Bemerkungen

Der Reiz dieses Predigttextes liegt darin, daß er auf einen anderen biblischen Text verweist. Wer über Hebr 11,8-10 predigen will, der predigt im Grunde auch über die Abrahamsgeschichte Gen 12ff. Und noch mehr: Neben Abraham ruft der Autor des Hebräerbriefs eine Fülle von weiteren Zeugen aus der Bibel auf: Noah, Mose etc. Das heißt, in diesem Fall lohnt sich der Blick auf den weiteren Kontext des Kapitels im Hebräerbrief, um daraus Nutzen für die homiletische Gestaltung zu ziehen. Wir erzählen die biblischen Geschichten, wir wieder-holen sie, um die Menschen von heute in tröstender, liebender, barmherziger Weise darin einzuschreiben. Dieses geschieht in der folgenden Predigt so, daß ich 1. dieses Thema der „Wieder-holung“ biblischer Gestalten aufnehme. Dieses ist nicht Bestandteil der christlichen, sondern auch der jüdischen Auslegung. 2. Ich lege – wie es der Predigttext aus dem Hebräerbrief nahelegt – einen Schwerpunkt bei Abraham. 3. Ich konzentriere mich dabei auf das Thema Glauben, verstanden als Vertrauen und Wegbegleitung, um so die tröstlichen Aspekte des Hebräerbriefs herauszuarbeiten.

Lieder

„Ehre sei dir, Christe“ (EG 75) - „Bleib mit deiner Gnade bei uns“ (EG 789.7 Antiphon) - „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ (EG 79,1-2) - „Wir glauben Gott“ (EG184) – „Korn, das in die Erde“ (EG 98).

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Liebe Gemeinde!

Durch Nachahmung leben lernen

Wer leben lernen will, muß einen anderen nachahmen, wiederholen. Er muß weiterführen, was ein anderer begonnen hat. Kleinen Kindern muß man das nicht erst beibringen. Sie ahmen unwillkürlich ihre Eltern nach. Durch Nachahmung lernen sie sprechen. Durch Nachahmung nehmen sie Gewohnheiten an. Durch Nachahmung stellen sie sich immer mehr auf das Leben in der Welt ein. Lernen kann heißen: einen anderen Menschen nachahmen. Das gilt besonders für die Menschen der Bibel. Im christlichen und jüdischen Glauben hat man eine Fülle von Möglichkeiten entwickelt, biblische Geschichten wieder-zu-holen, hineinzuholen in das eigene Leben. Das fängt schon bei der Namensgebung an: Wer seinen Kindern einen biblischen Namen gibt, Johannes, Elias, Maria, Sara, Magdalena, der stellt die Lebensgeschichte des eigenen Kindes in den Horizont einer der biblischen Gestalten. Und mehr noch: In den Handlungen und Eigenschaften biblischer Menschen können wir uns heute wiedererkennen. Menschen können hineinschlüpfen in die Unerschrockenheit Johannes des Täufers, in die Managerfähigkeiten des ägyptisch-jüdischen Premierministers Josef, in die Segenssehnsucht des Stammvaters Jakob, in die Kinderwünsche von Sara, Elisabeth und Hanna, die alle als ältere Frauen sehr spät noch ein Kind bekamen.

Exemplarische Bibelgeschichten

Davon lebt die ganze Bibel: Wir finden darin Menschen, Geschichten und Eigenschaften, in denen sich etwas spiegelt, was für einen Menschen typisch und charakteristisch ist. Deswegen ist es gut, diese Geschichten immer wieder zu erzählen, mit Ausschmückungen, Erweiterungen und eigener Phantasie. Und die Bibel lehrt uns: Die Lebenswege ganz unterschiedlicher und nicht zu vergleichender Menschen führen zu Gott, und oft genug liegen dabei für unüberwindlich gehaltene Hindernisse im Weg. Abraham glaubt nicht, daß er irgendwann im gelobten Land ankommt. Mose und Aaron verlassen sich nach ein paar Jahren Wüstenwanderung lieber auf das Goldene Kalb als auf den Gott der zehn Gebote. Der unbekannte Autor des Hebräerbriefs kennt dieses Hineinleben, das Wieder-Holen biblischer Geschichte im eigenen Leben. Er legt den Schwerpunkt auf den Glauben. Abraham, Noah, Isaak, Jakob, Josef, Mose – es ist das Entscheidende an ihrem Leben, daß sie Gott geglaubt haben. Sie sind Gott ohne Zögern nachgefolgt, als er sie rief. Und das war sicher nie eine einfache Entscheidung.

Das Leben wie ein schlechtes Theaterstück?

Der Schriftsteller Milan Kundera hat einmal gesagt: Das Leben ist wie ein schlechtes Theaterstück. Wir alle, die darin spielen, müssen improvisieren, denn wir haben keine Gelegenheit, vorher zu proben. Wir müssen gleich beim ersten Mal perfekt unsere Rolle spielen, denn nichts im Leben wiederholt sich. Der Schauspieler hat es gut: Bevor er in einem Theaterstück auftritt, kann er proben, sich vom Regisseur anleiten lassen. Er kann im Geiste alles durchgehen, damit er bei seinem Auftritt glaubwürdig und lebensnah wirkt. Im Leben haben wir diese Möglichkeit nicht. Es gilt die eiserne, nicht zu brechende Regel: Es muß alles beim ersten Mal klappen – oder es scheitert. Wiederholungen sind hier nicht gestattet.

Wer ein wenig älter geworden ist, gestattet sich oft an einem runden Geburtstag, dem Fünfzigsten, dem Sechzigsten, dem Siebzigsten, die Frage. Wenn ich nochmals jung wäre, was hätte ich dann anders gemacht? Welche Entscheidung hätte ich dann anders getroffen? In der Erinnerung kann ein älter gewordener Mensch eine Bilanz seines Lebens ziehen. Und vielleicht wird er, wenn er seine Entscheidungen und sein Geschick im Rückblick betrachtet, sagen: Ja, das würde ich nochmals so machen. Ich würde ein zweites Mal diese Frau oder diesen Mann heiraten. Ich würde ein zweites Mal diese Lehre oder dieses Studium anfangen. Ich würde ein zweites in diese Stadt oder in jenes Dorf ziehen. Je älter ein Mensch wird, desto mehr erkennt er auch: Vieles in meinem Leben ist gar nicht von meinen Entscheidungen abhängig. Wo ich geboren werde, wer mein Vater ist und meine Mutter, welche Muttersprache ich lerne, die sozialen Verhältnisse, in denen ich aufwachse, das entscheide ich als Kind nicht selbst, das wird über mich entschieden.

Leben als Wanderschaft – Erinnerung an Abraham

Im Hebräerbrief dagegen wird das Leben mit einer Wanderschaft verglichen. Wanderschaft klingt nach Kniebundhosen und Spazierstock, aber es ist etwas anderes gemeint: Wanderschaft ist Nomadenleben, heißt nicht seßhaft zu sein, heißt auf der Erde keine Heimat zu haben. Das Leben – und auch der Glaube – ist Aufbruch, Wanderschaft ins gelobte Land, ist Warten auf die Stadt Gottes. Der Glaubende wandert wie Abraham: weniger mit dem Spazierstock auf dem gut präparierten Wanderweg, sondern in der Wüste, wo es keine Wege gibt und keine Rastplätze. Abraham machte sich auf und ging auf eine solche Wanderschaft durch die Wüste. Und er wußte nicht, wohin Gott ihn leiten würde. Unbekanntes Gelände, indem ich mich nur mit Mühe orientieren kann, führt leicht zu Verzweiflung. Wer nicht weiß, wohin er gehen soll, der dreht sich allzu leicht im Kreis, oder er bleibt gar stehen. Aber in der Wüste stehenzubleiben, das heißt zu verdursten und zu verhungern. Der Hebräerbrief will Menschen trösten, die über ihrem Glauben verzweifelt waren. Und der unbekannte Autor tritt diesen Zweifeln entgegen, indem er schlicht und einfach sagt: Erinnert euch an Abraham.

Glaube, liebe Gemeinde, Glaube ist auch Erinnerung an diejenigen, die uns vorangegangen sind. Wer nicht weiß, wie er weiter gehen soll, wie er weiter glauben soll, der kann sich an die erinnern, die vor ihm geglaubt haben. Der Hebräerbrief will sagen: Bedenkt euer Leben im Licht der Geschichte Abrahams. Zieht Trost aus seinem Leben. Laßt euch von ihm aufmuntern, Mut machen und stärken.

Abraham – ein Mensch mit Stärken und Schwächen

Ich mag diese Abrahamsgeschichte aus mehreren Gründen: Abraham wird nicht als ein Held vorgestellt, nicht als ein Übermensch, nicht als Heiliger oder als frommes Vorbild. So wie ihn die Bibel in nüchternen Worten beschreibt, ist er ein Mann mit Stärken und Schwächen, glücklich verheiratet, leider zunächst kinderlos. Er ist nicht fromm, aber er zieht los, verläßt seine Heimat, als er von Gott dazu den Auftrag erhält. Abraham hat Mut, vertraut auf Gott, aber er macht keine großen Worte davon. Er klopft keine Sprüche. Diesem Vertrauen auf Gott, das den Abraham auszeichnet, eignet eine Selbstverständlichkeit, die den/die heutige/n Hörer/in beeindrucken muß. Dieses Vertrauen auf Gott nennt der Verfasser des Hebräerbriefs Glauben. Und es wird weiter gesagt: Schaut euch diesen Abraham an! Er muß durch die Wüste ziehen, durch Feindesland, er hat seine Heimat verlassen, er hätte mithin allen Grund zu verzweifeln, und dennoch läßt er sich in seinem Vertrauen nicht beirren. Er geht seinen Weg. Er ist ein Wanderer. Dreierlei zeichnet den Abraham aus: seine Geduld, sein Vertrauen auf Gott, und seine Hoffnung.

Jedes Leben läßt sich im Licht der Geschichte Abrahams betrachten

Liebe Gemeinde, Sie alle kommen mit verschiedenen, unterschiedlichen Lebensgeschichten in diesen Gottesdienst, der eine traurig, etwa weil er in den letzten Monaten einen lieben Menschen verloren hat, die andere fröhlich, weil sie eine gute Woche hinter sich hat. Läßt sich das alles im Licht der Geschichte Abrahams betrachten? Oder ist es nur schlechtes Theater, weil keine Zeit für eine Probe war, wie der genannte Schriftsteller meinte? Lebensgeschichte wird zum Teil durch eigene Entscheidungen bestimmt, zum Teil durch Zufälle, zum Teil durch andere Menschen, die für uns entscheiden, ohne daß wir darauf Einfluß nehmen können. Jedes Leben läßt sich im Licht der Geschichte Abrahams betrachten: Ob Trauer oder Freude, ob Unruhe oder Gelassenheit, ob Weinen oder Lachen, all dieses ist Teil der Wanderung, des Weges, auf dem Gott Sie, jeden einzelnen von Ihnen durchs Leben führt. Ist dieser Satz zu gewagt, zu hochmütig, zu enthusiastisch?

Gott führt jeden von uns durchs Leben

Ich glaube daran und ich vertraue darauf, daß Gott jeden von uns durchs Leben führt wie den Abraham. Das muß einem Menschen nicht in jedem Moment seines Lebens bewußt sein; doch gerade darum ist so wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, vor allem dann, wenn die Lebenswanderung ins Stocken gerät oder wenn sie durch eine Wüste führt oder wenn einem das Gehen auf dieser Wanderung schwer wird.

Es gibt viele Gründe dafür, Mut und Hoffnung auf der Lebenswanderung zu verlieren: Krankheit gehört dazu, der Tod eines nahen Verwandten, Ungewißheit, Verzweiflung, Ängste, Mißtrauen. Es gibt viele Gründe dafür, Gott zu fragen und zu klagen: Wieso muß ich gerade dies durchmachen? Wieso muß gerade ich diese Prüfung bestehen? Und es ist wichtig, Gott diese Fragen zu stellen, ihm ohne Wehleidigkeit, aber auch ohne Furcht zu klagen. Beim Beten vernachlässigen wir das Klagen zu häufig. Unsere Gebetssprache legt viel zu häufig einen merkwürdigen Ton demütiger Höflichkeit Gott gegenüber an den Tag. Diesen Ton kann ich in der Bibel – denken Sie an die Psalmen – so gar nicht finden. Dieser Ton demütiger Höflichkeit verrät noch etwas von dem falschen Gottesbild, das Gott als einen allmächtigen Diktator zeichnet, mit dem man sich tunlichst gut zu stellen habe. Der Gott, auf den Abraham vertraut, ist aber alles andere als ein allmächtiger Diktator, er ist der menschenfreundliche Gott der Liebe, der das Leben der Menschen will und nicht ihren Tod.

Wir brauchen sichtbare Zeichen der Hoffnung

Abraham läßt sich auch auf den Durststrecken seiner Lebenswanderung nicht von seinem Vertrauen auf Gott abbringen. Er hofft, so sagt es der Verfasser des Hebräerbriefs, auf die kommende Stadt Gottes. Wir brauchen sichtbare Zeichen der Hoffnung, Wegmarken, die erkennen lassen, daß wir auf dem Weg, den wir gehen, nicht verlassen sind. Jede Kirche in der Stadt, jede Glocke, die um die Mittagszeit ertönt, ist so ein unvollkommenes Zeichen der Hoffnung, ein Abbild der kommenden Gottesstadt, deren Errichtung noch aussteht. Kirchengebäude verweisen unvollkommen auf Gottes Reich, sind nicht Gottes Reich selbst. Beides darf nicht miteinander verwechselt werden. Die Baumeister und Architekten von Kirchen sind Menschen, Abraham aber wartet – wie wir alle noch heute – auf die Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott selbst ist.

Auf den Spuren Abrahams

Wir hören auf die Bibel, weil dieses Buch voll ist von Geschichten, in denen sich Menschen auf der Wanderschaft ihres Lebens Gott anvertrauten. Eine der ältesten Geschichten ist die von Abraham; die wichtigste ist die von Jesus Christus. Sie ist so wichtig, weil wir in ihr die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen kennenlernen. Wir sehen an ihr, wie Gott das Leid und die Trauer in Freude verwandelt. Darum: Wer heute durchs Leben geht, – auf Wanderschaft würde der Verfasser des Hebräerbriefs sagen, wer heute durchs Leben wandert, der geht auch auf den Spuren Abrahams, der Gott vertraute und auf die heilige Stadt wartete, der geht auch auf den Spuren Jesu Christi. Wir erinnern uns an ihn, weil er uns in seinem Leiden vorausging. Wir hoffen auf ihn, weil er uns in seiner Auferstehung voranging. Und der Friede Gottes, welcher jede Lebenswanderschaft bestimmt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

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