Ermutigung zum Leben
Jesus Christus kann uns aus allen unseren verkrampften Bemühungen um mehr Lebensqualität erlösen
Predigttext: Hebräer 2,10-18 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
10 Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, daß er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete. 11 Denn weil sie alle von einem kommen, beide, der heiligt und die geheiligt werden, darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, 12 und spricht: »Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen.« 13 Und wiederum: »Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen«; und wiederum: »Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir Gott gegeben hat.« 14 Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleichermaßen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, 15 und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mußten. 16 Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. 17 Daher mußte er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. 18 Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.Exegetische Überlegungen
Der Predigtabschnitt für den Gründonnerstag 2008 stammt aus dem „Brief an die Hebräer“ genannten Schreiben, das im neutestamentlichen Kanon nach den Johannesbriefen und vor Jakobus- und Judasbrief und der Offenbarung des Johannes steht, also ziemlich am Ende des neutestamentlichen Kanons. Offensichtlich fiel es schon immer schwer, dieses Schreiben in eine bestimmte Gruppe einzuordnen. Weder nach Verfasser noch nach Inhalt oder Stil will er sich einordnen lassen. Der Briefform widerspricht die fehlende Begrüßungseinleitung. Auch über den Verfasser und den Entstehungsort ist viel spekuliert worden. Der Hebräerbrief steht nach Form und Inhalt der hellenistischen Literatur und Geisteswelt näher als die übrigen Paulusbriefe. Der beherrschende Gedanke des „Wandernden Gottesvolkes“ zieht sich durch das Schreiben. Daneben finden sich Gedanken der Gnosis und viele alttestamentliche Schriftzitate, die mittels allegorischer und typologischer Exegese erklärt werden sollten. Timotheus (Hebr 13,23) ist noch am Leben. Er war als junger Mann zum Missionsgehilfen des Paulus geworden. So kann man annehmen, daß Verfasser und Leser der zweiten christlichen Generation angehören. Die Leiden, die die christlichen Gemeinden bedrohen, die die Christen in Angst und Schrecken versetzen und sie zum Abfallen vom christlichen Glauben bringen, lassen an die Regierungszeit Domitians (81-96 n.Chr.) denken. Die Abfassungszeit des Briefes liegt wohl zwischen 80 und 96 n.Chr. Dem Wesen nach ist dieses Schreiben eine Trost- und Mahnschrift an Christen, die um ihre Existenz bangen. Viele Worte aus dem Hebräerbrief sind in die Gemeindepraxis eingegangen (beliebte Sprüche zu Konfirmation und anderen Gelegenheiten). Es geht im gesamten Hebräerbrief, also auch in unserem Predigttext, um die Bedingungen der Erlösung von Angst, Schuld, Leiden, Sünde und Tod. Die Radikalität, mit der diese Grundbefindlichkeiten des Menschseins benannt werden, finden sich in allen biblischen Schriften, und damit hat der Hebräerbrief zu Recht seine Stellung im neutestamentlichen Kanon. Man fragt nicht erst heute, ob der, der helfen will und kann, auch alles selbst durchlitten haben muß. Jesus selbst wird schon am Kreuz mit dieser Aufforderung konfrontiert, doch herabzusteigen, wenn er Gott sei, wenn man an ihn glauben solle. „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.“(Mt 27,42) Aber auch das ist bis heute eine Frage, ob nicht wenigstens Mitgefühl notwendig ist, um die Not zu erkennen und aktiv zu werden (Barmherziger Samariter! Am Gründonnerstag werden der letzten Tage Jesu gedacht, meist wird auch Abendmahl in besonderer Form gefeiert. Jesus, der wahre Mensch, der genauso leidet und stirbt wie Menschen leiden und sterben, ist den Gemeinden ganz nah. Und besonders die Solidarität im Leiden und Sterben hat Menschen über die Jahrhunderte hin getröstet. Da ist der allmächtige Gott weit weg, nach dem gefragt wird, wenn es um Theodizee geht. Und offenbar hat der leidende Christus die Solidargemeinschaft der Christen mehr trösten können als der Pantokrator. In unseren Predigtversen ist Gott der, der seinen Sohn diesem menschlichen Schicksal aussetzt, damit er als erster dem Tod die Macht nähme und die Menschen erlöste von ihrer knechtischen Furcht vor diesem Tod. Er als Hoherpriester ist zugleich das Opfer. Damit ist der antike Opferkult erledigt, denn da ist der Priester niemals das Opfer. Diese antike Vorstellung gefällt allerdings bis heute. Opfer sind immer die anderen. Und Opfer müssen gebracht werden für alles mögliche. Aber nun liegen Schuld und Sühne, Leiden und Tod auf Christus, damit wir erlöst sind von den tödlichen Wunden, die sie uns schlagen. Am Gründonnerstag sollen die Verse aus dem Hebräerbrief einen tröstlichen Beginn der Anschauung des Leidens Christi ermöglichen, uns schon vorbereiten auf den Ostersonntag, eine Antwort auf die Warum-Frage geben: Damit wir erlöst werden von unserer Lebens- und Todesangst.Liebe Gemeinde!
Augen zu und durch?
Die Stimmung am Gründonnerstag ist gedämpft. Nicht nur die Paramente sind lila. Gedanken des Abschieds gehen durch den Sinn. Alle Abschiede im Leben sind kleine Tode, die man stirbt, sozusagen als Übung auf den letzten großen Abschied, den Tod. Und Jesus hat seine Freunde/innen vorbereiten wollen. Leider konnten sie es nicht in der ganzen Tragweite verstehen. Und mir geht’s da heute ähnlich wie den Jüngern/innen damals. Ich kann es auch erst begreifen, wenn mich das Schicksal ereilt, trotz aller theoretischen Vorbreitungen darauf. Auch das Nachdenken über den Tod bleibt ja Theorie, denn „solange ich denke, bin ich (noch da)“, sterbe nicht. Aber ich suche Trost, wenn mich wehe Vorahnungen überfallen, wenn ich merke, wo Angst, Sünde, Schuld und Leid das menschliche Miteinander zerstört haben.
Um diesen Trost geht’s in dem Brief an die Hebräer, Christen am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, die offensichtlich ähnliche Probleme der Angstbewältigung hatten, wie wir Menschen im 21. Jahrhundert. Tod, Teufel, Furcht, Gewalt sind Begriffe, die auch uns heute nicht unbekannt sind. Und dass die Furcht und Angst vor dem Tod Menschen die ganze Lebenskraft aussaugen kann, ist ja bekannt. Und dass wir den „Mut zum Sein“ (P. Tillich) brauchen auch. Bloß, woher sollen wir diesen Mut zum Leben nehmen, wenn der Tod doch so unübersehbar überall in unser Leben hineingreift? Augen zu und durch, hilft da nicht weiter.
Mit dem Schreiber in die richtige Richtung blicken
Der Schreiber des Hebräerbriefes geht einen anderen Weg: Augen auf und in die richtige Richtung geblickt! Da ist nämlich der eine zu sehen, der uns Menschen seine Geschwister genannt hat, der unsern Lebensweg gegangen ist, mit allem, was das Leben so bringt, bis hin zum Abschied und Tod. Jesus Christus heißt der eine. Er hat alles so exemplarisch erlitten und die Furcht vor dem Tod überwunden, daß bis heute Menschen im Anblick seines Kreuzes erlöst werden von der bedrückenden Lebens- und Todesangst und –furcht.
Die Jesusgeschichte endet ja nicht mit Abschied und Tod, sondern sie geht weiter, übersteigt unser menschliches Denken und Erfahrungen. Wir Christen nennen es Auferstehung. Gott bekennt sich zu diesem schwachen gequälten Hingerichteten. Das hat vielen Generationen durch die Jahrhunderte die Hoffnung erhalten, daß nichts sinnlos ist, daß der Gott Israels und der Christen keiner ist, der nur die Starken, Mächtigen, Potenten liebt und ansieht, sondern daß der Leidende, Sterbende der ist, zu dem er steht, dass dann die Christen ihn sogar Gottes Sohn genannt haben. Gottes Bekenntnis zu diesem leidenden Jesus ist zu Ostern erfolgt. Und sicher leuchtet schon zu Gründonnerstag und Karfreitag der Osterschein herüber. Wir wissen ja, wie die Jesusgeschichte weitergegangen ist. Wir wären die Allerärmsten, in unserer Hoffnung betrogen und ohne jeden Trost, wäre der Karfreitag das Ende, wie schon Paulus sehr klug bemerkte.
Erlösung aus unseren verkrampften Bemühungen
Auch das letzte Abendmahl und die Karfreitagsgottesdienste so zu imitieren, wie es die Jünger/innen beim ersten Mal gefeiert haben, geht nicht, denn die ganze Christenheit gäbe es gar nicht ohne Ostern. Deshalb hat auch der Schreiber des Hebräerbriefes recht, wenn er sagt: Worin Christus selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er denen helfen, die versucht werden, weil er der erste Überwinder war, der erste Hohepriester, der sich selber opferte, für den niemand anderes sich als Opfer bieten mußte, der auch bis heute keine Opfer fordert. Jesus Christus kann uns so erlösen aus allen unseren verkrampften Bemühungen um mehr Lebensqualität und –quantität.
Dass gerade diese Erlösung vielen Menschen durch das Sterben Jesu besonders nahe ist, ist das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, wie es auch im Krippenkind Jesu aufleuchtet. Krippe und Kreuz – wen das nicht ergreift, der hat`s noch weit bis zur Erlösung.
Amen