Kraftquelle(n)
Müde und erschöpft bauen wir oft mit letzter Kraft an unseren eigenen Rettungssystemen, ohne zu ahnen, wie nahe die Kraftquelle wirklich ist
Predigttext: Jesaja 40, 26–31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
26 Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.Exegetisch-homiletische Erwägungen
Die historische Situation des Deuterojesajabuches ist kurz umschrieben: Das Volk Israel lebt im Exil in Babylon, es weiß nicht mehr weiter, es ist müde, kraftlos und ohne Hoffnung. Das Volk scheint am Ende. In dieser historischen von Perspektivlosigkeit geprägten Situation ist die Verkündigung des Deuterojesaja festzumachen. Nach der theologischen Einführung des unbekannten Propheten (V. 1f) und seiner Legitimation (V.3-11) versucht er in einem fiktiven Streitgespräch (V.12-31) Gott zu rechtfertigen. Unter den Exegeten herrscht Uneinigkeit, ob die Abgrenzung des Textes in der vorliegenden Form schlüssig ist. Karl Elliger hält V.26 für den Abschluss der Argumentationskette von V.18–26. Claus Westermann ordnet den Predigttext in eine größere, literarisch komponierte Einheit ein (V.12–31), für ihn steht V.26 als Übergang zum folgenden. Wie die formgeschichtliche Entscheidung auch aussieht, ergeben sich folgende Fragen: Wie mächtig ist denn der Gott Israels, wenn er sein Volk im Exil in Babylon lässt? Wie steht es um das Bekenntnis zum Handeln Gottes in der Geschichte? Ist er noch der, der Leben gibt und der der Ursprung des Lebens ist? Oder ist der Gott Israels den babylonischen Supergottheiten unterlegen? In V.26 begegnen Begriffe aus der Schöpfungs-Terminologie und der militärischen Vorstellungswelt: Jahwe lässt das Heer der Gestirne vollzählig mit starker Kraft aufmarschieren. Es ist genau die Kraft, mit der Gott seine Herrschermacht über die Gestirne ausübt und sein Volk aus Ägypten befreit. Jesaja möchte hier den Zusammenhang von Schöpfungs- und Geschichtsmacht deutlich machen. Der Prophet ruft den Menschen zu: Hebt die Augen auf (V.26)! Doch das reicht offenbar nicht aus, um die depressive Stimmung der Exulanten aufzuhellen. Es bleiben die Fragen, wie der Lebensweg des Volkes Israel weitergehen wird. V.28b führt die Argumentation weiter: Der Schöpfergott hat seine Kraft nicht verloren; er wird weder müde noch matt. Für den unbekannten Propheten ist Gott aber nicht berechenbar, er entzieht sich aller ratio. Mit ihr kommt man nicht weiter. Vielmehr wird hier der Begriff der Er-fahrung eingeführt. Damit stellt der Prophet seine Hörer darauf ein, an ihre eigene Wahrnehmung zu denken. „Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?“ (V.28a). Er verweist auf die Geschichte des Volkes, die von der treuen Zuwendung Gottes zu Israel bestimmt ist. Wichtig sind Jesaja die Anfangserfahrungen, auf die immer wieder zurückgegriffen werden kann. Darum kann er den Menschen in ihrer ausweglosen Lage Trost vermitteln: Die, die sich sehnsüchtig nach Gott ausstrecken, „bekommen neue Kraft“ (V.31). Diejenigen, die sich an den Verheißungen Gottes orientieren, werden laufen und nicht müde. Im Glauben lernen die Menschen damals wie heute den hoffnungsvollen Satz: Bei Gott sind alle Dinge möglich. Deuterojesaja gibt seinem Volk Weg-erfahrungen mit. Wohin führt mein Weg? Was ist die Gewissheit und Zuversicht meines Lebens? Manchmal lösen scheinbar kleine Unwegbarkeiten große Fragen aus. Der Blick der Frau in den Spiegel, wenn sie ihre Falten im Gesicht unübersehbar wahrnimmt. Das Kind, das zum ersten Mal allein in den Urlaub aufbricht. Die späte Begegnung mit einem Menschen, die das Leben hätte verändern können, wenn sie früher passiert wäre. Da stellen sich Lebensfrage, Sinnfrage und Gottesfrage. Das „Evangelium der unbekannten Propheten“, wie Hans-Joachim Kraus die Botschaft des Deutero- und Tritojesaja charakterisiert, bekommt hier lebens-bestimmende Bedeutung. Wo Fragen nach dem Leben und nach Gott gestellt werden, da wird das Wort des Propheten zur Wegweisung. Und zwar gerade dann, wenn die eigenen Kräfte zu schwinden drohen. Der Gottesdienst ist ein Ort solcher Erfahrung, ein Ort, an dem wir gelassen und geduldig Orientierungen hörbar und sagbar machen können. Hier denke ich an das Gedicht „Geduld“ von Marie Luise Kaschnitz: Geduld. Gelassenheit. O wem gelänge Es still in sich in dieser Zeit zu ruhn, Und wer vermöchte die Zusammenhänge Mit allem Grauen von sich abzutun? Zwar blüht das Land. Die reichen Zweige wehen, Doch Blut und Tränen tränken rings die Erde Und in der Tage stillem Kommen, Gehen Verfällt das Herz der tiefsten Ungebärde. Und ist des Leidens satt und will ein Ende Und schreit für Tausende nach einer Frist, Nach einem Zeichen, daß das Kreuz sich wende. Und weiß doch nicht, mit welchem Maß der Bogen Des Unheils über diese Welt gezogen Und welches Schicksal ihm bereitet ist. Lieder: „Christ lag in Todesbanden“ (EG 101) „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht“ (EG 111) „Nun lob, mein Seel, den Herren“ (EG 289) „Du meine Seele, singe“ (EG 302)Literatur
Joachim Begrich, Studien zu Deuterojesaja, München 19632. - Karl Elliger, Deuterojesaja 40,1–45,7 (BKAT XI/1), Neukirchen-Vluyn 1978. - Marie Luise Kaschnitz, Geduld, in: Benno von Wiese u. a. (Hg.), Deutsche Gedichte, Düsseldorf 1966, 679. - Hans-Joachim Kraus, Das Evangelium der unbekannten Propheten. Jesaja 40-66, Neukirchen-Vluyn 1990. - Gerhard von Rad, Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens, in: Ders., Gesammelte Schriften zum AT, München 19653, 136–147. - Hans Heinrich Schmid, Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. „Schöpfungstheologie“ als Gesamthorizont biblischer Theologie, in: ZThK 70/1973, 1–19. - Claus Westermann, Das Buch Jesaja, Kapitel 40–66 (ATD 19), Göttingen 19814.Liebe Gemeinde!
Haben Sie noch die Worte des unbekannten Propheten, den wir auch den zweiten Jesaja, Deuterojesaja, nennen, im Ohr? Oder ist ihnen vielleicht sogar mancher Satz noch im Ohr oder in der Erinnerung geblieben? Vielleicht ja auch ein Gedanke, der sich mit ihren Gedanken trifft, mit denen sie heute in diesen Gottesdienst gekommen sind? Bibeltexte sind Lebenstexte, sind Lebensmittel – Mittel zum Leben. Sie haben etwas mit uns und unserem Leben zu tun. Weil sie oft so lebensnah sind, sprechen sie uns besonders an. Da klagt vielleicht einer: Gott, meine Kraft reicht nicht aus. Ich weiß nicht mehr weiter, hänge den ganzen Tag durch, und du kümmerst dich nicht um mich. In welcher Welt lebst du eigentlich Gott? Und dann eine Art Wende, ein Hinweis darauf, dass Gott überall ist, ja er sogar der Schöpfer dieser Welt ist. Können wir so etwas überhaupt hören?
Unverhoffte Perspektiven
Unser Predigttext richtet sich an müde und kraftlose Menschen. Sie suchen Gott nicht dort, wo er zu finden wäre. Vielleicht kann dies an einer kleinen schwedischen Kindergeschichte deutlich werden: Petterson, ein alter Mann, und Findus, sein Kater, geraten nach einem winterlichen Ausflug auf dem Heimweg in einen fürchterlichen Schneesturm. Sie können die Hand vor ihren Augen nicht mehr sehen und auch nicht den Weg, auf dem sie nach Hause gehen wollen. Sie merken bald, dass sie sich hoffnungslos verlaufen haben. Es wird später und später, es dämmert, schließlich wird es dunkel. Waren sie am Anfang noch ausgelassen und heiter, so weicht die Heiterkeit jetzt der Verzweiflung. Sie wissen einfach nicht mehr weiter. Um nicht zu erfrieren, bauen sie ein Iglu, zünden ihre mitgebrachte Laterne an und kauern sich in der Kälte ganz dicht zusammen. Sie versuchen sich wach zu halten, denn das Einschlafen hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Irgendwann geht das Licht aus, und sie schlafen doch ein. Aber die Geschichte hat ein Happy-End. Um Mitternacht werden sie, fast schon erfroren, von einem Freund gefunden. Das Iglu hatten sie, ohne es zu wissen, in ihrem eigenen Garten errichtet, nur wenige Meter vom rettenden Haus entfernt. „Das, was ihr sucht, ist viel näher, als ihr dachtet.“ Ich glaube, viele können sich in dieser Geschichte wieder finden: Müde und erschöpft bauen wir oft mit letzter Kraft an unseren eigenen Rettungssystemen, ohne zu ahnen, wie nahe die Rettung wirklich ist.
Kraftquelle(n)
Mancher wird jetzt fragen: Habe ich denn die Kraft, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen oder meinem Leben einen Sinn zu geben? Viele haben es persönlich schon erlebt: die Kräfte, die zuerst unbegrenzt scheinen, nehmen ab und Müdigkeit überkommt uns. Wie können wir mit einer solchen Erfahrung fertig werden? Ein Schüler sagte mir einmal, als wir über Prophetentexte im Alten Testament sprachen: Entweder bin ich ein Genie, aber wer ist das schon, oder ich bin ein Versager, und Versager kann man sehr schnell werden. Und Schüler müssen leider ganz oft in der Schule erleben, dass sie als Versager hingestellt werden. Sie werden dann ganz schnell müde und matt und denken: Es hat ja doch keinen Sinn, sich anzustrengen, und ganz schnell kommt eine Null-Bock-Mentalität, auf oder sie bleiben, unselbständig und abhängig. Wer müde ist, hat keine Erwartung mehr an sich und andere. Was können wir tun, wenn der Traum in uns von einem freien und glücklichen Leben allmählich stirbt? Woher bekommen wir die Kraft, die uns davor bewahrt, uns einfach damit abzufinden?
Ich bin gewiss, nur wem diese Fragen aufgrund eigener Lebenserfahrung deutlich geworden sind, wird ermessen können, was an der Beantwortung der Frage nach dem Glauben abhängt. Wir denken hier manchmal vorschnell: Wenn es überhaupt einen Gott gibt, dann ist er selbst ein sehr müder und matter Gott, denn ich kann wenig von seiner Kraft spüren. Schon damals im alten Israel sagten die Leute zu Jesaja, dass sie nichts von seiner Macht und Kraft merkten. Gelingt es uns, im lauten Alltag dieser Welt die Botschaft zu hören, die uns vom Propheten Jesaja überliefert ist: Weißt du das nicht oder ist es dir etwa entgangen? Gott wird nicht müde und matt. Im Gegenteil: Er gibt den Müden Kraft und Stärke. Die auf Gott bauen, bekommen neue Kraft.
Mancher ist jetzt beim Wort „Kraft“ ganz Ohr. Neue Kraft bekommen… Wie geht denn das, wo ich so müde und matt bin, wo es mir im Augenblick so schlecht geht, weil ich Stress in der Schule oder mit meinen Eltern habe, weil ich vielleicht meinen Arbeitsplatz verloren habe oder weil ganz plötzlich ein lieber Mensch gestorben ist? Was heißt, wie es Martin Luther übersetzt hat, „auf den Herrn harren“? Heißt das etwa, dass ich nun mit einem starren Gesicht durchs Leben gehe oder mit den Händen im Schoß dasitze, um irgendwann auf die Wunder Gottes zu hoffen? Sollen wir darauf warten, dass sich irgendwann einmal im Leben ein Tor auftut und ein Wunder passiert? Jugendliche sind bei solchen Überlegungen besonders misstrauisch, wenn Erwachsene ihnen Gott wie einen Wundermann anpreisen wollen. Gerade Jugendliche fragen kritisch: Wo ist denn Gott, wenn Kinder in unserem Land umgebracht werden oder nichts mehr zu essen haben? Wo ist denn Gott, wenn Kinder in den Krieg geschickt werden?
Menschen haben mit dem Namen Gottes durch viele Generationen hindurch die wunderbare Kraft des Glaubens bezeugt, die uns aus unserer Lethargie herausholt und aus Unbeteiligten Beteiligte macht, die ihr Leben mit eigener Anstrengung verstehen und bewältigen. Für mich ist darum Gott die Kraft, wahrhaftig mit mir selbst umzugehen. Und Gott ist für mich die Kraft, hoffnungsvoll und voller Zuversicht mit anderen umzugehen. Beides gehört zusammen, um nicht müde und matt zu werden.
Sich annehmen, Gemeinschaft suchen
Was heißt das? Durch Jesaja und viele andere Propheten und vor allem durch die Botschaft Jesu hat Gott uns wissen lassen, dass er uns liebt, so wie wir sind, mit all unseren Schwächen und Grenzen. Weil Gott uns in seiner Liebe so angenommen hat, können wir uns auch selbst mit unseren Grenzen und Schwächen annehmen. Da brauche ich mehr der Zauberer zu sein, für den ich mich manchmal halte. Da kann ich meine Schwächen offen aussprechen und meine eigenen Grenzen anerkennen. Gott ist die Kraft, wahrhaftig mit mir selbst umzugehen. Dies ist der erste Schritt, um nicht der großen Müdigkeit und Mattheit im Leben zu verfallen.
Weiter heißt das: Durch die alttestamentlichen Propheten und durch Jesus Christus hat Gott uns deutlich gemacht, dass wir in die Gemeinschaft mit anderen Menschen hineingestellt sind. In dieser Gemeinschaft lernen wir, die Angst voreinander abzubauen und Vertrauen zueinander zu gewinnen. Gott ist die Kraft, die uns Mut macht, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen unser Leben in seiner Begrenztheit ohne Überschätzung unserer eigenen Kräfte, aber mit Ausdauer und Freude zu verwirklichen. Nur in dieser Gemeinschaft kann es gelingen, nicht müde und matt zu werden.
Hoffnung
Oder in dem wunderschönen Bild des Propheten gesprochen: Wenn wir Menschen unsere Hoffnung auf Gott setzen, wenn seine Kraft unter uns wirkt, dann bekommen wir gleichsam Flügel, dass wir auffahren wie ein Adler. Fliegen wie ein Adler, ein alter Menschheitstraum. Bei allen Völkern ist der Adler ein Symbol für das, was wir Menschen ersehnen, um den Sinn und die Schönheit des Lebens zu entdecken. Wir möchten hoch in der Luft unsere Kreise ziehen. Hier haben wir den Blick für das, was wichtig ist, hier können wir überblicken, worauf es ankommt, wo wir frei und stark sein können. In der Bibel ist der Adler zum Sinnbild für die Fürsorge und Liebe Gottes geworden, der Stärke und Kraft, die er uns schenkt. So dürfen wir durch diese Zeit nach Ostern gehen im Vertrauen auf die Zusage der Treue Gottes zu uns Menschen: Wer Gott vertraut, dem lässt er gleichsam Flügel wachsen wie Adlern.
Amen