Singen trotz Sorgen
Loblied in bedrängter Zeit
Predigttext: Offenbarung 15,2-4 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
2 Und ich sah, und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt; und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen 3 und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. 4 Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.Homiletische Vorbemerkungen
Die Predigt versucht, den Bogen zu schlagen vom Gotteslob der bedrängten kleinasiatischen Christengemeinden im 1. Jahrhundert nach Christus bis zur singenden Gemeinde in unsere Zeit. Dabei will sie verdeutlichen, wie seit 2000 Jahren Christinnen und Christen im Singen ihrer Hoffnung und ihrer Freude, aber auch ihrem Widerstand und ihrem Bekenntnis glaubend Ausdruck gegeben haben. Am Sonntag Kantate, dem Sonntag der Kirchenmusik, stimmt die Predigt die Hörerinnen und Hörer in die so reiche Welt des musikalischen Ausdrucks ein, in der wir uns als Menschen mit all unseren Gefühlslagen und Stimmungen wiederfinden können. Unsere Seele darf singend mitschwingen, empfänglich werden für die Freude und die Kraft, den Trost und die Ermutigung gesungenen Glaubens, die uns über die Räume und Zeiten hinweg christlich bindet und verbindet.Liebe Gemeinde!
Hoffnungslied einer verfolgten Gemeinde
„Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?“ – ein Lobruf, ein Lied zur Ehre Gottes, fast 2000 Jahre alt. Der Text ist uns erhalten geblieben in der Bibel, aber die Melodie dazu, die Musik, haben wir verloren. Ein Lied in großartiger Sprache, Gotteslob und Christuslob, jubelnd, aber nicht triumphierend oder überheblich. Das Lied des Mose, des Mannes Gottes, hören wir und zugleich das Lied des Lammes, Jesu Christi.
Dieser Lobruf steht im letzten Buch der Bibel, im Buch der Offenbarung, auf griechisch „Apokalypse“. Wenn wir modernen Menschen Apokalypse hören, dann denken wir unwillkürlich an Schreckensszenarien, Gräuel und Furchterregendes, endzeitliches Chaos. Aber dieses Lied aus der Apokalypse strahlt im Gegenteil Hoffnung aus. Es ist ein Lied voller Zuversicht – obwohl es mitten in einer Zeit der Verfolgung entstanden ist. Es ist das Lied einer bedrängten Gemeinde, entstanden mitten in der Zeit der staatlich organisierten Christenverfolgungen im 1. Jahrhundert nach Christus, in Kleinasien.
Es ist ein Loblied Gottes und zugleich ein Protestlied gegen Zwang und Gewalt und für Befreiung. Das Tier, von dem im Text die Rede ist, ist das Symbol für die übermächtige Gegenmacht, den römischen Staatsapparat, der die ersten Christen brutal unterdrückte und verfolgte. Die Zahl 666, die Zahl des Namens des Tieres, deutet aller Wahrscheinlichkeit nach verschlüsselt auf den Kaiser Nero hin. Weil die frühen Christen den Kaiserkult ablehnten und sich weigerten, den römischen Kaiser als Gott zu verehren, bekamen sie die brutale Macht der Behörden zu spüren. Mit den Römern war nicht zu spaßen! Das weiß man nicht erst seit Asterix und Obelix …
Wie kann man aber in einer solchen Situation der Bedrängnis Gott loben? Müsste den Christen damals nicht eher zum Heulen und Klagen zumute gewesen sein als zum Singen? Mich beeindruckt, dass die Gemeinde damals trotz Misshandlungen und Schwierigkeiten die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sie gegen die Angst angesungen hat, ihre Hymnen und Psalmen angestimmt hat trotz der und gegen die Gewalt von außen. Ich stelle mir die Szenerie von damals vor: Gottesdienste im Geheimen, unter freiem Himmel, abseits der Siedlungen, unter Schwierigkeiten heimlich verabredet; Gottesdienste mit gesungenem Gotteslob und Gebet, während überall auf den Marktplätzen der kleinasiatischen Städte zwangsweise den Bildern des Kaisers gehuldigt werden musste.
Es wäre ein Missverständnis zu meinen, die Christen damals wären naiv gewesen, hätten den Ernst der Lage nicht durchschaut. Nein, es waren Menschen, die trotz der äußeren Bedrängnis darauf vertrauten, dass Gott auch da ist, wo wir Menschen nur Dunkelheit sehen und Angst haben. Diese Christen damals, in Kleinasien, waren Menschen, die in der Mitte der Nacht schon den Anbruch eines neuen Tages sahen, weil Gott für sie Licht in all das Dunkel brachte, weil er sie ihre Situation in einem anderen Licht sehen ließ. Deshalb loben sie ihn mitten in der äußeren Bedrängnis, während andere über sie den Kopf geschüttelt und sie verhöhnt, verlacht oder sogar verraten haben. Trotz allem singen sie ihr Protestlied gegen die Angst. Sie singen hinein in eine noch nicht gegebene, aber erhoffte, freie Wirklichkeit. Die bedrängte Christengemeinde damals, in Kleinasien, richtet ihren Blick nach oben, in Richtung der himmlischen Welt, auf den Thron Gottes, seinen Thronsaal, durchsichtig wie Glas, wie ein gläsernes Meer. Sie richtet ihren Blick nach vorne, in eine heilvollere Zukunft, wo die Herrschaft Gottes überall und über allen aufgerichtet sein wird. Sie vertraut darauf, dass sich diese Herrschaft am Ende durchsetzen wird, auch gegen die politische Gewalt des gefürchteten Tieres. Bis dahin gilt es auszuharren und dem Bekenntnis treu zu bleiben. Bis dahin gilt es anzusingen gegen die Angst, im Vertrauen auf Gott, dessen Werke groß und wunderbar sind, und dessen Wege gerecht und wahrhaftig sind.
Singen als Ausdruck von Widerstand und Hoffnung
Singen als Ausdruck von Widerstand gegen äußeren Druck. Singen als Ausdruck der Hoffnung und Ermutigung – dafür gibt es zahlreiche weitere Beispiele in der Bibel, im Alten wie im Neuen Testament: da ist z.B. der Gesang der drei Männer im Feuerofen aus dem Danielbuch, die der assyrische Kaiser Nebukadnezar verbrennen lassen wollte, weil sie sein goldenes Bild nicht verehrt hatten. Ein anderes Beispiel ist das Singen der Apostel Paulus und Silas im Gefängnis in Philippi, die Füße mit Ketten gefesselt, vom Tod bedroht. Singen gegen die Angst, zur Ermutigung in Zeiten der Bedrängnis – es zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Kirchengeschichte: Ich denke an Dietrich Bonhoeffer, dessen Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“ in der Gestapo-Haft entstanden ist. Ich denke an den rheinischen Pfarrer Paul Schneider, den Prediger von Buchenwald, den auch Schläge und Bestrafungen nicht davon abhalten konnten, seine Mitgefangenen durch Gebete und Lieder im Namen Jesu zu trösten. Singen als Zeichen der Hoffnung, als Echo gläubigen Vertrauens, trotz äußerer Not, begegnet uns immer wieder in der Geschichte des Christentums. „In dir ist Freude, in allem Leide“ heißt eines der bekanntesten Gesangbuchlieder, das durch die Jahrhunderte hindurch viele Menschen getröstet hat.
Musik als Spiegel unserer menschlichen Gefühle
Ein Lied als Ausdruck der Hoffnung, Musik als Mittel gegen die Angst – eine tiefgehende, fast archaische Erfahrung. Manche Töne und Melodien dringen tief in unsere Seele ein. Sie haben die Fähigkeit, unser Innerstes zu erreichen. Musik kann uns Ruhe und Frieden, aber auch Freude und Heiterkeit vermitteln, uns in Schwung und Bewegung bringen. Die Musik kann ein Spiegel unserer menschlichen Gefühle sein: In sie können wir all unsere Stimmungen legen; und sie vermag alle Schattierungen unserer menschlichen Befindlichkeiten auszudrücken. Sicher haben Sie persönlich, liebe Gottesdienstbesucher/innen, ihre eigenen Lieblingslieder und Stücke, die sie in Verbindung bringen mit ganz bestimmten Stimmungen und Situationen ihres Lebens. Melodien und Rhythmen, die ihre Seele berühren, Lieder und Musikstücke, geistliche oder weltliche Musik, Klassik oder Rock- und Popmusik, Kinder- oder Kirchenlieder, die etwas in ihnen zum Schwingen bringen, in ihnen freudige oder auch wehmütige Gefühle und Erinnerungen auslösen und die sie darum immer wieder hören. Es ist ein Geschenk, dass es die Musik in ihren unterschiedlichen Gestalten gibt, so verschieden, wie die Menschen sind, so bunt, wie das Leben ist: Musik, die uns entspannen und fröhlich sein lässt, genauso wie Musik, die uns aufrichtet in schwerer Zeit.
Musik „macht“ etwas mit uns, berührt, bewegt uns: sie kann uns trösten, uns Freude schenken und uns sogar zum Lachen bringen. So schrieb der Komponist Robert Schumann einmal über seine musikalische Arbeit: „Ich habe beim Komponieren gelacht und geweint“. Die Musik hat ihre eigene Grammatik, ihre eigene Sprache, mit oder auch ganz ohne Worte. Sie kann unsere Stimmung beeinflussen, sie spricht uns ganzheitlich an – nicht nur unseren Kopf, sondern auch unser Herz und unsere Gefühle. Sie bringt unsere emotionalen Tiefenschichten zum Klingen, sie weist uns in den Bereich des Unsagbaren, der mit Worten allein nicht eingeholt werden kann. Musik ist etwas Faszinierendes, Wunderbares. Selbst zu singen und Musik zu machen schenkt uns ein Gefühl der Ganzheit und der Einheit mit anderen und mit uns selbst; und es kann in unserer Seele ein Fenster nach oben öffnen, uns empfänglich machen für die Freude und den Trost aus einer anderen Welt, der belebt und aufrichtet, was niedergedrückt war.
Quelle von Ermutigung und Trost
Die Christen in den ersten Gemeinden in Kleinasien, damals im 1. Jahrhundert, haben gesungen gegen die Angst. Aus den alten Glaubensworten und ihren Melodien ist ihnen neue Kraft und Hoffnung zugeflossen, sie konnten wieder frischen Mut schöpfen. Sie haben ihr Loblied auf Gott angestimmt, trotz aller äußeren Bedrängnis, der sie ausgesetzt waren. Sie haben sich singend Gottes Taten der Vergangenheit vergegenwärtigt und sich damit Mut für die Zukunft zugesungen. – Singen zur Ehre Gottes, Singen als Ausdruck der Hoffnung und Ermutigung, singend Vertrauen gewinnen in Gottes Gerechtigkeit, mit der er inmitten aller Widrigkeiten des Lebens und der Welt helfend und tragend für uns, als seine Menschen, am Werke ist. Das ist, was unser Predigttext aus Apk 15 benennt und bekennt: „Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.“
Lob Gottes und Leiden, Singen trotz Sorgen – vielleicht passt das auf den ersten Blick nicht zusammen. Aber auf den zweiten Blick gibt es doch eine Verbindung zwischen beidem. Gesungenes Lob Gottes wird zur Quelle der Hoffnung und Kraft, zur Quelle des Trostes und der Ermutigung, zur Quelle der Freude und Stärkung – auch und gerade in Zeiten äußerer oder innerer Not. Seit 2000 Jahren machen Christinnen und Christen diese Erfahrung. Und ihre Lieder, ihre Musik ist auf uns gekommen, um auch heute eine Quelle der Zuversicht zu sein. So auch ein Lied mit einem Text der verfolgten Böhmischen Brüder aus dem 16. Jahrhundert, das Eingang in unser Gesangbuch gefunden hat und bis heute nichts von seiner geistlich-ermutigenden Kraft eingebüßt hat. In seine Musik und seine Worte wollen wir nun einstimmen, uns anstecken lassen von der Freude und dem Trost gesungenen Glaubens im Wochenlied (EG 243,1+6):
„Lob Gott getrost mit Singen, frohlock, du christlich Schar!
Dir soll es nicht misslingen, Gott hilft dir immerdar.
Ob du gleich hier musst tragen viel Widerwärtigkeit,
sollst du doch nicht verzagen;
er hilft aus allem Leid.
Gott solln wir fröhlich loben, der sich aus großer Gnad,
durch seine milden Gaben uns kundgegeben hat.
Er wird uns auch erhalten in Lieb und Einigkeit
und unser freundlich walten hier und in Ewigkeit.“
Amen