Umkehr zum Leben
Krise als Chance
Predigttext: Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? 3 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben... 21 Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. 22 Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. 23 Meinst du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, daß er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? 24 Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Greueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben. (25 Und doch sagt ihr: »Der Herr handelt nicht recht.« So höret nun, ihr vom Hause Israel: Handle denn ich unrecht? Ist's nicht vielmehr so, daß ihr unrecht handelt?)... 30 Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. 31 Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.Vorbemerkungen
Ich verlese von dem Predigttext, der eine Zusammenstellung einzelner Abschnitte aus Hesekiel 18 darstellt, wiederum nur eine Auswahl von Versen, die einen m. E. sinnvollen Zusammenhang ergeben (in Abweichung von der Perikope lese ich V. 25 noch dazu): V.1-3.23.25.30.32b. Ich empfehle der Gemeinde, das ganze Kapitel zu Hause zu lesen. Eine kurze Information zur Frage: Was ist eigentlich ein Prophet? (Die Information könnte der Predigt vorangestellt oder im Zusammenhang eines Predigtnachgesprächs eingebracht werden). Propheten sind Botschafter Gottes, von Gott berufene Männer oder Frauen. Sie leben aufmerksam in ihrer Zeit, nehmen sensibel wahr, wenn Menschen auf Abwege geraten und rufen dann zum Umdenken und zur Veränderung auf. Gottes Wort und seine Gebote sind für sie verbindliche Richtschnur. Spätere Generationen bis hin zu den ersten christlichen Gemeinden nahmen die Worte und Bilder der prophetischen Botschaft auf und erfuhren durch sie eine Hilfe auf dem Weg mit Gott. Besonders halfen sie ihnen in schwierigen Lebenssituationen und gaben ihnen Mut für die „Seelenarbeit“, um ihre Krise zu bewältigen. Für die Propheten und Prophetinnen der Bibel gibt es immer noch etwas anderes als Resignation, nämlich eine Zukunft, die Gott schafft und in die wir Menschen mitverantwortlich hineingerufen sind. Zur Exegese von Hesekiel 18 verweise ich auf W. Zimmerli, BK XIII/1.Lieder
„Auf und machet die Herzen weit“ (EG 454), „Ich lobe meinen Gott“ (EG 272), „Von Gott will ich nicht lassen“ (EG 365), „Gott liebt diese Welt“ (EG 409).Predigt
Liebe Gemeinde!
Brennende Fragen
Der Prophet Hesekiel wendet sich mit diesen Worten an sein Volk Israel, wahrscheinlich noch vor der politischen und religiösen Katastrophe im Jahre 587 vor Christus. Er und ein Teil des Volkes waren schon einige Jahre vorher in babylonische Gefangenschaft geraten, weit weg von der Heimat (597 v.Chr). Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm, und die Gefangenschaft geht bald zu Ende, dachten die Einen. Bei den Anderen kamen zweifelnde Fragen auf: Müssen wir ausbaden, was unsere Vorfahren verkehrt gemacht haben? Ist das unser Schicksal, dass wir die Folgen des Fehlverhaltens anderer für immer tragen müssen? Kannten sie doch die Worte aus den Zehn Geboten, dass Gott „die Missetat der Väter heimsuchen wird bis in das dritte und vierte Glied“ (2. Mose 20,5).
Wo bleibt die Gerechtigkeit Gottes? Eine bis heute brennende Frage. Zweifel an Gott und seinen gerechten Wegen meldeten sich. In Israel gab es das Sprichwort: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“(V. 2).
Eigenverantwortlichkeit
Der Prophet Hesekiel begegnet mit seiner Botschaft diesen resignierenden Stimmen. Nein – so betont er – es ist nicht so, dass die Kinder auslöffeln müssen, was die Väter oder die Mütter ihnen eingebrockt haben, sondern: Jeder Mensch hat eine Verantwortung. Zur Eigenverantwortlichkeit ruft der Prophet die Resignierten und Zweifelnden auf. Die Krise ist Deine Chance. Gib also nicht alles verloren. Mach Dich nicht selbst kaputt. Überwinde allen lähmenden Fatalismus, dass alles nichts bringe und Du ja doch nichts ändern könntest. „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tod des Gottlosen, spricht Gott, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“(V. 23)
Du kannst etwas zum Guten verändern! Du kannst sogar bei Dir etwas verändern, an Dir arbeiten. Ich lege Dich nicht fest. Habe Mut, Verantwortung zu übernehmen! Das ist die dem Leben zugewandte und befreiende Botschaft des Propheten. Damals wie heute wird so der einzelne Mensch ganz persönlich angeredet. Ich bin gemeint, und ich soll nicht auf die anderen verweisen. Gott meint mich in meinem Heute, und mein Gestern soll mich nicht mehr hemmen. Heute ist die Tür zum Leben geöffnet.
Hilfe aus der Krise
Aber geht es uns, liebe Gemeinde, manchmal nicht auch so, dass wir fragen: Warum musste ich so Schweres erleben – eine Krankheit, Ungerechtigkeit, Benachteiligung, Neid, Scheitern von Lebensplänen, Mobbing oder Entzweiung? Solche Lebenssituationen verbinden sich mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und mit dem Zweifel, ob Gott denn recht handelt. „Ihr sagt: ‚Der HERR/Gott handelt nicht recht‘“, hält der Prophet seinem Volk vor (V. 25.29). Hesekiel würde uns heute sagen: Seht diese Krisen nicht als Endpunkt. Ihr habt die Möglichkeit, jeder und jede einzelne von euch, in schwierigen Zeiten eure Herzen nicht verwirren zu lassen und auch nach Irrwegen umkehren zu können. Dazu bedarf es des Weges, manchmal in der Stille, manchmal in der Gemeinschaft und mit der Hilfe anderer.
Umkehren, sich verändern ist schwer, auch unmöglich, wenn ich mich nur um mich selbst drehe, in mich selbst versponnen bin. Nehme ich Menschen und das Geschehen um mich herum wahr, wirkt es in meine Beziehungen hinein, öffnet neue Horizonte.
Gott setzt dem Schicksal Grenzen
Es stimmt in gewisser Hinsicht: Wir sind unseren Lebensschicksalen ausgeliefert, durch die Gene z.B. oder die Zeit, in die wir hineingeboren sind, aber – dies ist die ermutigende Botschaft des Propheten – Gott setzt diesem Schicksal Grenzen. Gott traut uns Besinnung zu, Umkehr und das Wahrnehmen von Eigenverantwortung in unserem Leben. Der Apostel Paulus sagt: „Gott selbst ist es, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen“. So werden wir durch Paulus daran erinnert, welches Vertrauen wir zu Gott haben dürfen. Ich möchte noch jemanden erwähnen: Der in diesem Monat bevorstehende Johannistag will uns an Johannes den Täufer erinnern, jenen Rufer in der Wüste, bekannt durch seinen radikalen Ruf zur Umkehr: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Matthäus 3,2). Auch Jesus, auf den Johannes hinwies, hat dessen Worte aufgegriffen und den Hörenden in seiner Predigt in Galilaea zugerufen: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße/denkt um/kehrt um und glaubt an das Evangelium” (Markus 1,15).
Der Wochenspruch (Lukas 19,10) sagt von Jesus, dem Menschensohn, dass er “gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist”. Jesu Suche, liebe Gemeinde, gilt dem Menschen, den andere als verloren sehen. Jesus sucht den Menschen, der andere oder sich selbst aufgibt und nichts mehr erwartet. Aber niemand und nichts ist unter den Augen Jesu verloren. Unter Jesu Augen sind wir im weiten Blickfeld Gottes. Das heutige Evangelium stellt uns anschaulich vor Augen, was es heißt, in Gottes Namen zu suchen: “…dieser mein Sohn/diese meine Tochter war verloren und ist gefunden worden” (Lukas 15,24). Umkehr zum Leben. Krise als Chance. Dies bedeutet, auch im Hinblick auf den Umkehrruf des Propheten Hesekiel (“Kehrt um, so werdet ihr leben!”): Es gibt in der schlimmsten persönlichen, familiären oder gesellschaftlichen Krise immer noch etwas Anderes: Hilfe aus Gottes Hand, die wiederum unser Herz, Mund und Hände öffnet und das uns von Gott zugedachte Leben spüren lässt.
Amen.