Gottgewollter Geheimnisverrat

„Wir glauben an Gottes Treue: Er hat sein Volk Israel erwählt und hält an ihm fest“

Predigttext: Römer 11,25-32
Kirche / Ort: Stadtkirche Karlsruhe
Datum: 27.07.2008
Kirchenjahr: 10. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Dieter Splinter

Predigttext: Römer 11, 25-32 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; 26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): „Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“ 28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Exegetische Bemerkungen

Die Kapitel 9-11 bilden innerhalb des Römerbriefes eine Einheit. In der Lutherbibel sind sie überschrieben mit: GOTTES WEG MIT ISRAEL. Man könnte sie auch mit „Gottes Weg mit Juden und Christen“ überschreiben. Jedenfalls spielen diese drei Kapitel seit ca. drei Jahrzehnten in der Verhältnisbestimmung der Christen zu den Juden eine zentrale Rolle. Im Wesentlichen lassen sich dabei in der exegetischen Diskussion – und in den daraus resultierenden kirchlichen Verlautbarungen wie etwa der der Badischen Landessynode von 1984 zum Verhältnis von Christen und Juden - drei Übereinstimmungen ausmachen: 1. Die Liebesgeschichte Gottes mit seinem auserwählten jüdischen Volk geht weiter. Gott steht zu seinen Verheißungen: „Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen.“ (Römer 11,29) Gott hält seinen Bund, den er mit Abraham, Isaak und Jakob geschlossen hat. 2. Christlicher Dünkel ist darum nicht angebracht. Die in der Nachfolge Jesu stehen, können und dürfen sich über die Juden, die bei ihrem Glauben bleiben, nicht erhaben fühlen. Gleichwohl gibt es eine Konkurrenz der Überzeugungen. 3. „... so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist“ gibt es darum, so schmerzlich, traurig und anstößig das ist, zwei Wege zum Heil – den der Juden und den der Christen. Der christliche Glaube zielt zunächst auf die ab, die keine Juden sind. Der jüdische Glauben wird deshalb bleiben bis alle, die keine Juden sind, zum christlichen Glauben gefunden haben und das eine Volk Gottes, dass dann, davon ist Paulus überzeugt, aus Juden und ehemaligen Heiden, die Christen geworden sind, bestehen wird, den Messias bekennt. Für Paulus kann dieser Messias nur Jesus von Nazareth sein. Bis es allerdings soweit ist, gilt es die Tragik, die in diesen getrennten Wegen liegt, auszuhalten. Das geht letztlich nur im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, die nach der festen Überzeugung Paulus' hinter Gottes geheimnisvollen Unergründlichkeit liegt: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ (Römer 11,32)

Homiletische Situation

Fast täglich können wir Nachrichten über den israelisch-palästinensischen Konflikt sehen, hören oder lesen. Friedensbemühungen scheitern immer wieder. Zugleich wird seit der Fernsehserie „Holocaust“ Ende der 70er Jahre die Judenvernichtung in unterschiedlichen filmischen Aufbereitungen per Fernsehen in die Wohnstuben gesendet – so häufig, dass viele sie schon gar nicht mehr wahrnehmen wollen. Die Haltung zum Judentum ist hierzulande durch diese mediale Berichterstattung und Geschichtsdeutung so im besten Fall als ambivalent einzustufen – auch unter vielen bekennenden Christen. Ferner wird man feststellen müssen, dass mit dem Islam spätestens seit dem Beginn von dessen Zeitrechnung im Jahr 622 n.Chr. eine weitere „Konkurrenz der Überzeugung“ zu jener von Juden und Christen hinzu gekommen ist. Diese Konkurrenz spielt in den israelisch-palästinensischen Konflikt hinein – und auch bei uns eine Rolle. Auch wenn die Confessio Augustana in ihrem ersten Artikel den Islam eindeutig als Ketzerei verwirft, weil er die Trinitätslehre ablehnt, kann man sich ja in theologischer Hinsicht fragen, warum denn Gott noch, um mit Paulus zu sprechen, mit dem Islam zu einer weiteren „Verstockung“ gegriffen oder es zumindest dazu hat kommen lassen. Hier sind meines Erachtens im Verhältnis der Religionen die Ausführungen des Paulus, der im Blick auf die Juden zu Beginn von Kapitel 9 des Römerbriefes davon spricht, „dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe“, weitaus hilfreicher als alle vorschnellen und darum letztlich wenig reflektierten Toleranzforderungen einerseits und alle unter Umständen sogar gewalttätige Abgrenzungen andererseits. Natürlich wird man in der Predigt nicht auch noch auf das Verhältnis zum Islam eingehen können, man sollte es aber im Auge behalten. Zuletzt sei darauf verwiesen, dass die homiletische Situation in der Evang. Stadtkirche in Karlsruhe insofern eine besondere ist, weil diese Kirche von der Öffentlichkeit besonders beachtet wird. Der Landesbischof der Badischen Landeskirche predigt hier einmal im Monat und vor allem hat in dieser Kirche seit vielen Jahren eine City-Kirchen-Arbeit ihren Platz, die sich u.a. mit Ausstellungen an die städtische Öffentlichkeit wendet. Gerade findet in der Krypta der Stadtkirche wieder eine Ausstellung statt. Unter dem Titel „Diesseits – Jenseits“ wird eine Bodeninstallation der vietnamesischen Künstlerin Dao Droste gezeigt. Obgleich es der Künstlerin mit ihrer Arbeit um die Erfahrungen an der Grenze zwischen Leben und Tod geht, ist die Arbeit auch für andere Interpretationen offen. Das wird deutlich, wenn man das Gegensatzpaar „Diesseits – Jenseits“ mit dem Predigttext in Verbindung bringt. Mit dem Gottesdienst am 27. Juli findet die genannte Ausstellung ihren Abschluss. Aufnahmen der Bodeninstallation können unter der Rubrik „Ausstellungen“ unter www.stadtkirche-karlsruhe.de betrachtet werden.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Die Traurigkeit des Paulus

Paulus verrät ein Geheimnis. Er tut sich selber schwer damit. Er kann es in der Tat kaum begreifen. Da ist der Jude Jesus, der Christus, zu seinem Volk gekommen, um die Frohe Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden. Doch ein Teil, ja der größte Teil des jüdischen Volkes hat diese Botschaft Jesu nicht angenommen. Da haben ihre Vorfahren gebannt gewartet und gehofft, dass der Messias, der Erlöser kommt und das jüdische Volk neuen Zeiten entgegen führt. Zeiten des Friedens und der neuen Nähe Gottes. Aber ein Teil, ja der größte Teil der Juden weigert sich in Jesus den erwarteten Erlöser zu sehen. Paulus ringt darum zu verstehen, warum viele aus dem Volk, aus dem er stammt, dies tun.

Bevor Paulus in unserem Text verrät, warum dem so ist, macht er an anderer Stelle aus seinen Gefühlen keinen Hehl: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass im meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch…“.

Paulus leidet. Der Glaube an Christus trennt ihn vom Volk und vom Glauben seiner Herkunft. Er wünscht sich, es wäre anders. Doch seine Bindung an den gekreuzigten und auferstandenen Christus ist so stark, dass die Trennung unvermeidlich ist. Trennungen sind in der Regel mit Schmerzen verbunden. Eine Trennung macht traurig, vor allem, wenn man denen, die man verlässt, viel verdankt, wenn jene ganz besondere Menschen sind. Die Juden sind es. Ihnen gehören „die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen“. Ihnen gehören auch die Väter im Glauben, ihnen gehören Abraham, Isaak und Jakob. Und doch ist Paulus und mit ihm die Christenheit einen anderen Weg gegangen. „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ … das Feld muss er behalten.“ Bekenntnisse verbinden die einen. Zugleich trennen und unterscheiden sie sich deshalb aber auch von den anderen, die dieses Bekenntnis nicht teilen. „Wir Christen bekennen uns zu Jesus, der ein Jude war, als dem für alle gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Herrn, dem Heiland der Welt. Mit Schmerz und Trauer stellen wir fest, dass uns dieses Bekenntnis vom Glauben des jüdischen Volkes trennt.“ So hat es 1984 die Badische Landessynode in einer Erklärung zum Verhältnis von Juden und Christen festgestellt. Die Trauer über diese Trennung ist für Paulus jedoch zugleich die richtige Basis für dieses Verhältnis.

Die Trauer schätzt den Wert des anderen, ohne sich anzubiedern oder sich gar gewaltsam abzugrenzen. Das Miteinander der Religionen sähe anders aus, würde diese Trauer nicht so oft vergessen – oder von Unverständnis oder Wut verdrängt. Die Traurigkeit über die Trennung hingegen kann dem anderen Fähigkeiten, Verdienste und Gaben lassen. Sie muss sie ihm nicht nehmen. Darum heißt es in der schon erwähnten Erklärung unserer Kirche: „Wir glauben an Gottes Treue: Er hat sein Volk Israel erwählt und hält an ihm fest. Darum müssen wir der Auffassung widersprechen, dass Israel von Gott verworfen sei. Die Erwählung Israels wird auch nicht durch die Erwählung der Kirche aus Juden und Heiden aufgehoben.“

Das Geheimnis und seine Folgen

Eben dieses Geheimnis verrät Paulus. Die Erwählung der Juden, ihr Weg zum Heil bleibt bestehen „so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist“ … „Denn Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen.“ Das mag vielen im Blick auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern wenig gefallen. In diesem Konflikt ist zu oft zu wenig an Heil, dafür aber umso mehr an Unheil zu erkennen. Dennoch werden wir als Christen, wenn wir Paulus ernst nehmen, daran festzuhalten haben, dass Gott seinen Bund mit Israel nicht aufgekündigt hat. Manche hierzulande hätten das immer noch gerne. In der Vergangenheit waren Aufkündigung und Ausgrenzung immer wieder ein tödliches Programm. Da wurde nur die Andersartigkeit des jüdischen Glaubens und der jüdischen Art gesehen. Paulus nennt diese Andersartigkeit durchaus beim Namen: „Im Blick auf das Evangelium sind die Juden zwar Feinde um euretwillen“. Er fügt dann aber hinzu: „aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.“ „Feinde um euretwillen“ und „Geliebte um der Väter willen“. Kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch bestimmt für Paulus das Verhältnis zu den Juden.

An ihnen wird deutlich, was für alle gilt, die keine Christen sind. Sie lehnen Christus als Erlöser ab. An den Juden wird aber auch deutlich, dass alle, die gegenüber dem Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus taub sind, dennoch Menschen bleiben, denen Gottes Barmherzigkeit gilt: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“

Die Barmherzigkeit Gottes

Paulus verrät ein Geheimnis. In der Regel werden Geheimnisse gehütet. Wer sie verrät, gerät in Verruf. Bei Gott gelten diese menschlichen Maßstäbe allerdings nicht. Er will, dass sein Geheimnis unter die Leute kommt: „Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; so wird ganz Israel gerettet werden…“.

Wird der Predigttext als gottgewollter Geheimnisverrat verstanden, erschließt sich die Bodeninstallation der vietnamesischen Künstlerin Dao Droste neu. Diese Installation trägt den Titel „Diesseits-Jenseits“. Sie kann heute ein letztes Mal in der Krypta der Stadtkirche betrachtet werden. (Bildeinblendung)

Zu sehen sind Büsten aus Ton, die in Kreisen und Reihen angeordnet sind. Obgleich die Büsten auf den ersten Blick alle gleich aussehen, sind sie durch den Brennvorgang doch sehr verschieden. Keine ist wie die andere. In einer Kirche könnte man erwarten, dass jene Büsten, die in Reih’ und Glied aufgereiht sind, ihr Gesicht nach Osten ausrichten. So wie eben die Stadtkirche, wie so viele Kirchen, mit ihrem Chorraum nach Osten, nach Jerusalem ausgerichtet ist – zum Zeichen dafür, dass das Heil von dem dort für uns gekreuzigten, gestorbenen und auferstandenen Christus kommt. Doch dem ist nicht so. Die Gesichter haben sich abgewandt. „Verstockung … alle eingeschlossen in den Ungehorsam“. Andere Büsten wiederum bilden einen Kreis. Doch stehen die Kreise nicht in Verbindung miteinander. Verstockung auch hier, wie es scheint. Alle sind davon gezeichnet. Alle Büsten, so unterschiedlich sie sein mögen, haben ein Loch im Kopf. Und es sind immer sieben – in sechs Tagen schuf Gott die Welt und am siebten Tag ruhte er. Der Glaube, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, und das Geschenk des Sabbats, des wöchentlichen Ruhetages, verdanken wir den Juden.

Paulus hat Recht. Es liegt eine Tragik darin, dass wir Christen uns von den Juden trennen mussten. Wir verdanken ihnen viel. Was wäre aus der Welt geworden, wenn nicht nur ein Teil der Juden, sondern alle Christen geworden wären? Dem war und ist nicht so. Darüber ist Paulus traurig. Das ist das Diesseits des Konflikts zwischen Christen und Juden. Es liegt aber auch eine Verheißung darin, dass die Juden Juden geblieben sind. Sie zeigen, dass Gott treu ist. Sie zeigen, dass Gott zu seiner Erwählung steht. Sie zeigen, dass Gott auch denen, die Christus, den Erlöser, ablehnen, mit seinem Erbarmen begegnet. Das ist das Jenseits im Konflikt zwischen beiden Bekenntnissen. Wäre dieses Jenseits in der Vergangenheit präsenter gewesen, hätte sich im Diesseits viel Leid vermeiden lassen. Im Blick auf dieses Leid bekommen die Löcher im Kopf der jeweils sieben Büsten folgende Bedeutung: Wer Tragik und Trauer einer Trennung nicht aushalten kann, greift offenbar schnell zur Gewalt. Übrig bleibt die Frage, wer am Ende verstockter ist. Auch wir Christen hatten und haben das Erbarmen und die Barmherzigkeit Gottes dringend nötig.

Darum tun wir gut daran, uns die Gemeinsamkeiten von Juden und Christen, die es trotz allem Trennenden gibt, in Erinnerung zu rufen. Darum sei ein letztes Mal die Erklärung unserer Kirche von 1984 zum Verhältnis von Christen und Juden zitiert: „Wir bekennen mit den Juden Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Wir glauben mit den Juden, dass Gerechtigkeit und Liebe Weisungen Gottes für unser ganzes Leben sind. Wir hoffen mit den Juden auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und wollen mit ihnen in der Kraft dieser Hoffnung für Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt arbeiten.“

Amen.

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