Kirche und ihre Diakonie

Gesegnetes Beten und Hören, gesegnetes Handeln

Predigttext: Apostelgeschichte 6,1-7
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 17.08.2008
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Apostelgeschichte 6,1-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, daß wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Gedanken zum Predigttext

Der exegetisch umstrittene und viel diskutierte Abschnitt Apostelgeschichte 6, 1 - 7 (vergleiche etwa E. Haenchen, KEK III, 16.Aufl., Göttingen 1977, und W. Schmithals, ZBK 3/2, Zürich 1982) spiegelt Konflikte in der Jerusalemer Urgemeinde und deren Ringen um konstruktive Lösungen. Der Evangelist Lukas gibt damit - zumal nach Apostelgeschichte 4, 32 - einen ernüchternden, gerade darin für uns heute aufschlussreichen, Einblick in die spannungsvolle Wirklichkeit der Anfänge der christlichen Kirche. Lukas deutet ihre Probleme der Gemeindeleitung angesichts verschiedener "konfessioneller" Gruppierungen in der Jerusalemer Urgemeinde an, z.B. der griechisch sprechenden Juden aus der Diaspora und der einheimischen "hebräischen" Juden (Vers 1). Aber er ermutigt auch zu einer konfliktbewältigenden Praxis arbeitsteiliger und dennoch auf Konsens in der Zusammengehörigkeit von Gebet/Spiritualität, Verkündigung des Wortes Gottes und diakonischem Handeln bedachter Organisation und Leitung der Gemeinde.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Damals wie heute?

“In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm…” (Vers 1) – Wie mag das mit der Kirche einmal angefangen haben? – Wer von uns hat sich diese Frage nicht schon gestellt und hätte nicht gern eine Antwort darauf! Wir sind uns als Christen gar nicht immer sicher ob wir unsere Kirche im Sinne Jesu gestalten, ob unsere Lebensausrichtung den Vorstellungen Jesu standhalten würden. Hatten es die Menschen mit ihrer „Zeitnähe“ nicht einfacher? Waren sie in ihrem Handeln, mit ihrer Vorstellung vom „Christsein“ nicht näher dran?

Viele Menschen, nicht nur die sogenannten “Kirchenfernen”, stoßen sich heutzutage an der Kirche, weil sie ihnen zu weit weg von ihrer Ursprünglichkeit, erscheint, und sehnen sich nach einer Gemeinde, die Gott nahe ist. Es kann hilfreich sein, sich auf die Anfänge zu besinnen, auf die ersten eigenen persönlichen Begegnungen mit der Kirche ebenso wie auf ihre geschichtlichen Ursprünge.

Wie ging es und geht es uns mit der Kirche, der wir heute angehören? Nehmen wir uns jetzt – jeder und jede für sich persönlich ein wenig Zeit, darüber nachzudenken! Würde ich selbst einen anderen Schwerpunkt setzen oder ihn von meiner Kirche wünschen.

(Orgelstrophe zu dem Lied EG 262, 1 “Sonne der Gerechtigkeit”)

Die Apostelgeschichte, aus der unser Predigttext stammt, gibt uns einen umfassenden Überblick über die Geschichte der ersten christlichen Gemeinden. Wir erfahren von der Geburtsstunde der Kirche an Pfingsten bis hin zur Reise des Apostels Paulus nach Rom. Der Evangelist Lukas lässt uns hineinblicken in die spannende Zeit des Lebens der Jerusalemer Urgemeinde. Von ihr berichtet Lukas in dem Zusammenhang, der unserem Predigttext vorausgeht: “Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele” (Apostelgeschichte 4, 32).

Traum einer Gemeinde

Wie stellen wir uns eine solche Gemeinde vor? Traumhaft! Muss es da nicht schön und friedlich, harmonisch und ohne Konflikte zugegangen sein? Bei uns finden wir so etwas nicht, dieser Vorstellung können wir nicht entsprechen. Wenn wir uns umschauen, sehen wir Unstimmigkeiten in der Kirche, in den Gemeinden unter den Menschen. Hier sind sich die Konfessionen nicht einig, dort gibt es Querelen zwischen einzelnen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Zielen und Interessen oder sogar Streit um die rechte Verkündigung und Gestaltung des kirchlichen Lebens. Da fragt es sich zudem: Wollen wir Konflikte überhaupt wahrhaben? Kehren wir sie nicht lieber unter den Teppich, weil wir glauben “ein Herz und eine Seele” sein zu müssen?

Wie war es damals? – Unser Predigttext gibt uns keineswegs Anlass, die Anfänge der christlichen Kirche zu idealisieren. Wir hören hier von Menschen, die in ihrer Gemeinde zusammenlebten und denen Schwierigkeiten durchaus nicht fremd waren. Ihr Gemeindeleben ist tatsächlich ein Spiegel für unser Gemeindeleben, für Kirchenleben im Jahr 2008.

Es gab in Jerusalem “griechische” und “hebräische” Juden, die zu Christen geworden waren. Unter ihnen kam es zu jenem Konflikt, den Lukas mit den wenigen Worten schildert: “In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung” (Apostelgeschichte 6, 1).

Zufall oder Kirchenpolitik?

Die griechischen Juden waren im Unterschied zu den hebräischen im Ausland geboren. Sie wollten im Alter in Jerusalem leben, um einmal in der Nähe der Heiligen Stadt zu sterben und dort ihr Grab zu bekommen. Viele Frauen überlebten ihre Männer. Witwen gehörten damals zu den Ärmsten, weil sie sozial nicht abgesichert und darum ganz auf gutwillige Unterstützung angewiesen waren. Die einheimischen Witwen schienen gut versorgt zu sein, die ausländischen hatten keine Verwandten am Ort, die für sie sorgten, wie es üblich war, und wurden übersehen. Vielleicht wurden sie sogar absichtlich übersehen und zurückgesetzt, um sie spüren zu lassen, dass sie ihnen, den “Einheimischen”, aufgrund ihrer Herkunft und ihres heidnischen Einflusses doch nicht ganz ebenbürtig waren.

Eine schlimme Erfahrung, sich übersehen, übergangen oder vernachlässigt zu fühlen. Wir können das nachempfinden. Je größer die Not, um so empfindlicher trifft es uns, wenn jemand achtlos an uns vorübergeht. Bedürftige Personen zu übersehen, nicht wichtig zu nehmen und sogar zurückzudrängen gilt als zutiefst unchristlich.

Entschuldigungen finden wir immer leicht, so verkehrt sind sie sogar meist gar nicht. Da könnten heute wie damals unterschiedliche Sprachen, verschiedene nationale oder religiöse Herkunft eine Rolle spielen. Manchmal sind es innergemeindliche Streitigkeiten, der Umgang mit gesellschaftlichen oder religiösen Traditionen, Meinungsverschiedenheiten, die Spannungen verursachen und zur Missachtung des anderen Menschen oder einer fremden Gruppe führen. Menschlich können wir darauf mit Resignation, Verbitterung, Klagen und zorniger Auflehnung reagieren, aber dabei auch leicht ungerecht und maßlos werden.

Das Gebot der Stunde

Lukas berichtet: Die griechischen, aus der Diaspora kommenden Juden fanden sich mit ihrer Situation nicht ab. Sie begehrten gegen die einheimischen Gemeindeglieder auf. Sie verlangten Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn. Sie wollten nicht außerhalb der Gemeinde stehen. Sie machten auf sich aufmerksam, indem sie laut und unüberhörbar protestierten.

Eindrucksvoll, wie die Apostel darauf reagierten: “Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.” (Vers 2)

Die anwachsende Gemeinde erkannte ihre neuen Aufgaben: die Ärmsten durften bei den Mahlzeiten nicht zu kurz kommen, schon gar nicht übersehen werden. Die Zwölf – gemeint sind die zwölf Apostel – erkannten “das Gebot der Stunde”. Die Organisation des “Tischdienstes”, der “Diakonie”, stand jetzt an. Dem “Dienst des Wortes”, der Verkündigung des Evangeliums, durfte etwas Entscheidendes nicht fehlen. Denn zum Wort Gottes gehört “das Brot der Liebe”. Der bekannte Ausspruch “Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…” ist allerdings bis heute einem gefährlichen Missverständnis ausgesetzt, als könnte das Brot zugunsten des Wortes Gottes vernachlässigt werden. Was war zu tun?

(Ich möchte die Gemeinde jetzt einladen, über Konflikte in der Gemeinde vor Ort und über mögliche Wege, sie konstruktiv zu lösen, nachzudenken: etwa über Initiativen für Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld, die Hilfe brauchen. – Orgelstrophe zu EG 670, 1 “Ein neuer Tag beginnt”, Regionalteil Baden, Elsass und Lothringen, Pfalz)

Ein ehrenvolles Amt

Die Apostel versuchten damals, das Problem gemeinsam zu lösen und beriefen eine Gemeindeversammlung ein. Alle konnten dort zu Wort kommen. Die Apostel unterbreiteten der Versammlung einen Vorschlag, um den unbefriedigenden Zustand zu beheben: “…seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.” (Vers 3)

Die Apostel empfahlen der Gemeindeversammlung, sich für die Armenpflege – heute sprechen wir umfassender von der “Diakonie” – nach geeigneten Personen umzusehen und diese zu wählen. Dabei legten sie ihre eigene Auffassung vor. Sie sprachen unmissverständlich aus, wo sie selbst ihren Platz und ihre Aufgabe in der Gemeinde sahen: beim Gebet und bei der Predigt des Wortes Gottes.

“Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.” (Vers 5 + 6)

Mit der Möglichkeit zu wählen, halfen die Apostel der Gemeinde, sich zu entfalten und sich den vielfältigen Herausforderungen zu stellen. Gewählt zu werden und dadurch Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, ist eine Ehre. Ein ehrenvolles Amt, ein Ehrenamt beginnt – verbunden mit einem unverwechselbaren Namen. Die Gewählten können bei ihrem Namen gerufen werden, sind ansprechbar. Kommunikation wird möglich. Sie ist notwendig für die Einigkeit der Gemeinde Jesu Christi.

Die Apostel beteten und legten die Hände auf die sieben Armenpfleger. Mit diesem öffentlichen Segensritual brachte die Gemeinde zum Ausdruck: Alle Aufgaben in der Gemeinde sind vor Gott gleichwertig. Es gibt vor Gott keine “niederen” und “höheren” Dienste, wenn sie nur immer seinen Geschöpfen und der ganzen Schöpfung zugute kommen. Das Wort Gottes predigen und sehen, was dem Nächsten fehlt, beides gehört zusammen. Wenn wir diese Aufgaben miteinander teilen, wird niemand überlastet. Gut zu wissen, wenn ein Christ immer im Dienst ist und der andere darum auch einmal frei nehmen kann. Wie geschäftig geht es zuweilen in unserer Kirche zu! Da Menschen, welche so viel Verantwortung spüren, dass sie wegen Überlastung oft so erschöpft sind, dass sie sich dem einzelnen Menschen, der Hilfe Braucht, kaum noch zuwenden können. Das sind Konflikte, wie sie bestimmt auch in der Urgemeinde erlebt wurden.

Erkennen, was “Brot der Liebe“ ist

Mit seiner Schilderung der spannungsvollen Wirklichkeit der ersten christlichen Gemeinde zu Jerusalem und den Überlegungen, die Probleme zu lösen, ermutigt der Evangelist Lukas auch uns heute, bei Schwierigkeiten gemeinsam mit Herz und Verstand Lösungen zu suchen, die uns weiterbringen auf dem Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Freilich brauchen wir dazu auch Geduld und Mut. Es fällt uns schwer, mit Konflikten zu leben und Schwierigkeiten gemeinsam anzugehen – ohne Ausgrenzung und in Freiheit für alle. “Ein Herz und eine Seele” sind wir in der Gemeinde, wenn wir Konflikte ansprechen, Fehler eingestehen und gemeinsam nach Lösungen suchen, ohne einander besiegen zu wollen. Die Liebe Gottes verbindet uns alle.

Der Evangelist ruft uns heute wie damals die wesentlichen Merkmale der Kirche in Erinnerung: das Hören auf das Wort Gottes, der praktische Dienst der Nächstenliebe und die Pflege der Gemeinschaft. Gottes Wort öffnet uns die Augen für den Menschen neben mir. In der unvoreingenommenen Begegnung mit dem Menschen, der anders ist, weitet sich mein Blickfeld. “Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem…” (Vers 7), heißt es am Schluss unseres Predigttextes. Das Wort Gottes lief seither unaufhaltsam durch die Welt. Das Christentum, die Kirche, gewannen Raum unter den Menschen und Völkern. Christen werden jedoch bis heute schuldig, wo sie an der vielgestaltigen Not achtlos vorübergehen. Immer noch stehen die Bilder des Elends und des Hungers vor unseren Augen, Bilder von Hass und Feindschaft.

Erkennen, was heute nötig ist zu tun – dazu sind wir täglich aufgerufen. Das Gebet um die Kraft des Heiligen Geistes möchte uns dabei helfen, das Evangelium von Jesus Christus weiterzutragen – hörbar im gesprochenen oder gesungenen Wort der Verkündigung, spürbar in der Praxis der Diakonie, des gelebten Glaubens – und beides als das Brot der Liebe miteinander zu teilen. Das Brot der Liebe weist auf Ihn, Jesus, der auch heute noch seine Gemeinde sammelt, wenn er spricht: Ich bin das Brot des Lebens. Jesus ist Konflikten nicht ausgewichen und hat niemanden, mit dem er es schwer hatte, ausgegrenzt. Jesus hat dafür gebetet, “damit sie alle eins seien”(Johannes 17, 21).

Um “lebendige Gemeinde” zu sein und der Botschaft Jesu zu entsprechen, müssen wir wirklich nicht von irgendeinem Idealbild ausgehen. Wir dürfen vielmehr auf dem aufbauen, was – sei es auch noch so bescheiden – vorhanden ist. Dabei brauchen wir die Kirche als Institution und Organisation nicht verdächtigen. Eine Gemeinschaft kommt ohne Formen der Gestaltung und Leitung nicht aus. Das lehren uns die Anfänge der Kirche, wie sie uns der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte schildert. Wichtig ist: die Gaben jedes einzelnen immer wieder neu zu entdecken, ihnen in der Gemeinde zur Entfaltung zu verhelfen und im Sinne des heutigen Sonntagsevangeliums miteinander achtsam umzugehen. Gott segne unser Hören auf sein Wort, Gott segne unser Gebet und lasse uns unsere persönliche Aufgaben, unseren Platz in seiner Gemeinde finden und in seiner geliebten Welt, für die auch noch heute gilt, was damals die junge Kirche erfahren durfte: Das Wort Gottes breitete sich aus, die Gemeinde, die sich an Jesus Christus orientierte, wuchs, und viele fanden zum Glauben.

Amen.

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