Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied
Kirche geht nicht darin auf, System, Organisation, Unternehmen zu sein - Kirche ist Leib Christi, ihr Rückgrat ist nicht die eigene Muskelkraft, sondern allein die Gnade
Predigttext: 1.Korinther 12,12-14.26-27 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt. Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. (...). Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied!Exegetische und homiletische Hinführung
Die Leibmetapher in 1 Kor 12,12ff ist zentral für die paulinische Ekklesiologie (vgl. Röm 12,3-8) und erfährt eine bedeutende Wirkungsgeschichte und Weiterentwicklung sowohl in den Deuteropaulinen (vgl. Eph) als auch in der apokryphen Literatur (z.B. Interpretation der Erkenntnis [NHC XI 1]). Die Leibmetapher ist allgemein in der antiken Welt weit verbreitet und dient meist der Sicherung bestehender gesellschaftlicher Hierarchien. Im ersten Korintherbrief bleibt das Bild vom Leib eng auf die Situation in Korinth bezogen und hat eine paränetische Funktion, die nicht mit ekklesiologisch-spekulativen Ausdeutungen, wie sie später etwa im Epheserbrief erscheinen, gleichgesetzt werden darf. In der kleinasiatischen Hafenstadt gibt es keine einheitliche Linie, sondern mehrere konkurrierende Parteien (1,10ff), die sogar in Spannungen zueinander stehen. Paulus will die Gemeinde der Getauften als Einheit zusammenhalten, wobei er sich u.a. mit den unterschiedlichen Parteien kritisch auseinandersetzt. Eine weitere argumentative Strategie ist das Bild des Leibes, das im Mikrokontext des ersten Korintherbriefes dem Bild von den vielen Gaben und dem einen Geist (1 Kor 12,4-11) entspricht. Mit dieser Metapher will Paulus den Zusammenhalt der Gemeinde sichern: Ein Leib besteht aus vielen unterschiedlichen Gliedern. Dies wäre allein mit der Metapher vom Leib erreicht. Darauf beschränkt sich Paulus allerdings nicht, sondern bemüht zugleich eine christologische Begründung, indem er den Leib als Leib Christi bestimmt, an dem der Mensch durch die Taufe teilhat. Die Abgrenzung der Perikope ist sinnvoll: 12,27 greift auf 12,12 zurück und dient zugleich als Scharniervers, weil die korinthischen Adressaten direkt in den Blick kommen (2.Pers.Pl). Die ausgelassenen Verse 12,15ff dienen der Ausgestaltung der Leibmetapher. Die folgenden Verse 12,28ff thematisieren die verschiedenen Gemeindeämter. In der Predigt möchte ich den paulinischen Kirchenbegriff unter vier Aspekten entfalten: 1. Ein Leib zeichnet sich durch die Spannung von Vielfalt und Einheit aus: Nur in ihrer Verschiedenheit bilden die einzelnen Glieder den einen, heilen Leib. 2. Der Leib hat eine Seele. Leib Christi ist ein geistgewirkter Organismus. 3. Der Leib Christi funktioniert nach bestimmten (Stoffwechsel-)Gesetzen: Sympathie und Solidarität, und zwar nach unten und nach oben. 4. Christliche Solidarität ist näher zu bestimmen als Solidarität aus Gnade und unterscheidet sich so von anderen Arten von Solidarität wie z.B. einer Zwecksolidarität, die dem reinen Selbsterhaltungstrieb einer Organisation dient. Zur Lektüre: Ernst Käsemann, Was meint Solidarität nach 1 Korinther 12,12-27?, in: Ders., In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners, Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass, 2005, 231-241.- Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 11,17-14,40), EKK VII/3, 1999 (z.St.).Predigt
Liebe Gemeinde!
„Auf einmal gerät das ganze System in den Blick…“
Immer dann, wenn etwas Liebgewonnenes kränkelt, schaut man plötzlich genauer hin. Das Herz leidet mit, der Verstand sucht nach Lösungen, die Hände packen zu. Man setzt sich mit Leib und Seele für diese eine Sache ein, die kraftlos zu werden droht. Immer dann, wenn etwas nicht mehr ganz selbstverständlich läuft, sondern plötzlich ins Stocken gerät, zieht das Nichtfunktionierende das ganze Augenmerk auf sich.
Dieser Mechanismus gilt für viele Dinge. Wenn z.B. ein Organ krank wird, dann wird es plötzlich wichtig. Man möchte alles darüber wissen, googelt sich durch medizinische Internetseiten – seriöse und unseriöse –, um in Erfahrung zu bringen, wie es eigentlich funktioniert, was kaputt sein könnte, ja, was das eigentlich für ein Organ ist, das auf einmal im Zentrum des Interesses steht. „Ich wusste gar nicht, dass ich da einen Muskel habe!“ – sagte einmal ein Freund zu mir, nachdem er sich eine Zerrung zugezogen hatte. Oder wenn ein Mensch – immer zuverlässig, unscheinbar – plötzlich zusammenbricht, ausfällt und einknickt. Dann guckt man genauer hin. Man fragt sich, wie ihm eigentlich geht, wie es ihm ergangen ist in der letzten Zeit, mehr noch: wer er eigentlich ist, mit seinen Wünschen, Hoffungen und Ängsten. Das gilt auch für Organisationen und Systeme. Ich erinnere nur an den Bankencrash. Auf einmal gerät das ganze System der Finanzwirtschaft neu in den Blick, das zuvor als selbstverständlich hingenommen wurde und scheinbar wie von selbst lief. In Zeitungen, in Talkshows, im Bus fragt man nun plötzlich nach dem Funktionieren dieses Systems, mitunter sogar nach dem Recht und Wert des Kapitalismus.
Jener Mechanismus greift auch in der Kirche. Die kriselt ja nun auch seit einiger Zeit – Finanzknappheit, schmerzvolle Umstrukturierungen, Demographieprobleme, scheinbare Unpopularität der Institution trotz zunehmender Religiosität. Und die Verantwortlichen gucken seit einiger Zeit genauer hin und „suchen der Kirche Bestes“ (in Anlehnung an Jer 29,7, alttestamentliche Lesung): Was macht Kirche eigentlich aus? Woran krankt sie? Was sind ihre Entwicklungsmöglichkeiten? Strategiepapiere, Standortbestimmungen, Perspektivpapiere und Leitbilddiskussionen sind heute aus der kirchlichen Publikationslandschaft nicht mehr wegzudenken. Das war schon immer so, vor allem wenn es schwierig wurde. Ich lese aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther.
(Lesung des Predigttextes)
Vielfalt in der Einheit – Einheit in der Vielfalt
Die Kirche in der kleinasiatischen Hafenstadt Korinth war in einer Krise. Zu bunt das Gemisch der Gemeindemitglieder, zu unterschiedlich die Wertvorstellungen und Fähigkeiten. Es gab Schlaue, die Rationalisten, die ganz auf den Verstand setzten, und es gab Schwärmer, die Irrationalen, die ihre Intuition in den Vordergrund stellten. Kopfmenschen gegen Bauchmenschen. Paulus ist gezwungen zu sagen, was Kirche ist, damit sie nicht zerbricht. Das Bild, das Paulus wählt, ist eingängig, unmittelbar einleuchtend. Kirche ist ein Leib. Ein organisches Ganzes, das aus vielen einzelnen Gliedern besteht. Kopf und Bauch. Einheit des Leibes, Vielfalt der Glieder – das ist seine Formel. Auge, Mund, Ohren, Nase, Hände, Füße, Herz und Rückgrat. Lebendige Gemeinde. Und jedes Glied ist etwas ganz eigenes, ein kleines Wunder für sich.
Wir kennen das: Der eine kann gut anpacken, Tische decken und Kuchen backen. Der andere kann gut reden, trösten und werben. Und da ist der, der einen scharfen Blick hat, sieht, ob ein Bild schief hängt oder etwas schief läuft. Und da ist die mit dem offenen Herzen, die Wärme schenkt in jeder Begegnung, herzensgut und liebevoll. Oder da ist der mit dem kühlen Verstand, der gut rechnen und schreiben kann. Und der, der von Tür zu Tür läuft, den Gemeindebrief austrägt. Und schließlich der, der viel schlucken und verdauen kann, dem man seinen Ärger erzählt, weil er es verträgt. Hände. Mund. Augen. Herz. Verstand. Füße. Bauch. Zusammen eine runde Sache. Jedes Glied wird gebraucht. Amputiert sich ein Glied oder wird es von anderen amputiert, ist der Leib nicht mehr heil.
Jedes Glied ist gleich wichtig. Erhebt sich ein Glied über andere oder verweigert sich ein Glied, ist der Mechanismus gestört. Kirche funktioniert nach dem Prinzip Gleichberechtigung, die jedoch nicht mit Gleichmacherei verwechselt werden darf. Jeder ist unwechselbar und damit unaustauschbar. Ein Leib nur aus Augen kann nicht schmecken und riechen, was er sieht, kann nicht darüber reden und singen, was seinen Blick gefangen hält. Allein ist das Auge nichts. Verstand ohne Hand kann die Welt nicht gestalten. Ein volles Herz ohne Mund erstickt an sich selbst. Jedes Glied braucht die anderen Glieder, um ganz, um heil zu sein. Ein gedeckter Tisch ohne offenes Ohr und ohne redenden Mund schlägt auf den Magen. Ein kunstvoll konzipierter Gemeindebrief, der nicht in die Häuser kommt, wird zu einer Ansammlung leerer Worte, gestapelt in einem Büro. Erst das Zusammenspiel ermöglicht Gelingen. Hände und Herz, Verstand und Füße. In Christus sind wir alle eins (vgl. auch Galater 3,28): die Frau, die den Kuchen backt, der Mann, der dem Bauausschuss vorsitzt, der Reiche, der abgibt, und der Arme, der in Empfang nimmt. Alle gehören zu diesem Organismus. Sie wirken zusammen. Das Auge sieht nicht für sich allein, sondern leitet die Reize weiter ins Gehirn, von wo wieder Signale zum Handeln oder Reden ausgehen. „Tätiges Füreinander der Glieder“ (Dietrich Bonhoeffer) – das ist Kirche als Leib Christi!
Geistgewirkter Organismus, nicht Organisation
Paulus spricht nicht nur von der Zusammensetzung des Leibes und dem Zusammenspiel der einzelnen Glieder. Er sagt auch: Kirche ist nicht nur Leib, sondern Leib Christi. Jeder Leib hat eine Seele. Auch bei Organisationen gibt es das. Da spricht man von einem bestimmten unternehmerischen Geist, einer Firmenphilosophie, von einem Leitbild, das die Corporate Identity bildet, einem Firmenlogo, das der Firma Erkennungs- und Wiedererkennungswert schenkt.
Unser Firmenlogo ist das Kreuz. „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied!“ Eine Firmenphilosophie, die nicht von dieser Welt ist. Kirche als Leib Christi ist nicht allein eine funktionierende Organisation, in der jeder wie ein Zahnrädchen im Getriebe seine Rolle spielt, sondern Kirche ist ein geistgewirkter Organismus. Vergisst man den Geist und trainiert nur den Körper, gerät das seelisch-leibliche Gleichgewicht aus dem Schritt. Dann würde vielleicht das Unternehmen EKD funktionieren, positive Bilanzen zeichnen und einen hohen Marktwert erzielen, aber um welchen Preis? Ausverkauf des Geistes kann sich Kirche nicht leisten. Kirche lebt aus und für Christus und nicht aus und für sich selbst. Aber: Vergisst man den Körper, dann kann der Geist sich nicht entfalten. Kirche braucht beides. Predigt und Strategiepapier. Frömmigkeit und unternehmerischen Sachverstand. Beides ist eine Einheit, aber nicht eins. Wo man mit der Predigt unternehmerisch kalkuliert, bleiben die Kassen leer. Wo mit man dem Strategiepapier predigt, stirbt der Geist.
Sympathie und Solidarität – Stoffwechselgesetze des Leibes Christi
Paulus sagt noch ein mehr. Jeder Organismus funktioniert nach bestimmten Regeln. Gruppendynamik folgt bestimmten Gesetzen. Der körperliche Stoffwechsel ist ein komplexer Prozess, für den bestimmte Wirkfolgen typisch sind. Auch der Leib Christi funktioniert nach ganz eigenen Gesetzen. Mit den Leidenden leiden, sich mit den Geehrten freuen (vgl. auch Röm 12,15). Emotionen, Leidenschaften mitfühlen und teilen. Das ist Sympathie im wörtlichsten Sinne. Daraus wächst Solidarität. Paulus legt zwar kein sozialpolitisches Konzept vor, aber doch einen Aufruf zur gemeindlichen Solidarität. Das entspricht der Psychosomatik des Leibes Christi. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,[35-]40).“
Die Solidarität, zu der Paulus mahnt, ist eine Solidarität nach unten und nach oben. Wenn ein Glied leidet, leiden alle. Die Bibel ist voll von der Solidarität mit den Armen und Leidenden. Auch im gemeinsamen Sozialwort des Rates der evangelischen Kirchen in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz bleibt die „Option für Arme, Schwache und Benachteiligte“ ein zentrales Element, das sich auch ganz praktisch auswirkt: in der Spende im Gottesdienst und in der Nachbarschaftsdiakonie, von der örtlichen Mittagstafel bis hin zu großen Spendenorganisationen wie „Brot für die Welt“.
Doch das Mitleiden mit den Schwachen ist nur die eine Seite. Paulus schreibt auch: „Und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit“. Solidarität nach unten ist da vielleicht einfacher. Mitleid ist leicht erregt. Der Hang zum Helfersyndrom hilft beim Helfen. Man bleibt in der überlegenen Position. Solidarität nach oben ist schwieriger. Hier klingt das Thema der Neiddebatte an, die heute sehr präsent erscheint. Kann ich mich wirklich immer mit den Erfolgreichen freuen? Möchte ich nicht lieber selbst an ihrer Stelle sein? Hochaktuelle Fragen, die zugleich uralt sind. Die frühchristliche Schrift „Interpretation der Erkenntnis“ greift das Leibbild des Paulus auf und führt es genau an diesem Punkt weiter. Die einzelnen Glieder sollen nicht aufeinander neidisch sein; „sie können nicht alle gänzlich zum Fuß werden oder gänzlich zum Auge oder zur Hand; vielmehr sind sie (allein) tot (17,18ff).“ Deswegen ermahnt der Autor der Schrift: „Klage dein Haupt nicht an, weil es dich nicht bestimmt hat als ein Auge sondern als einen Finger (18,28ff)“.
Solidarität aus Gnade
Solidarität an sich ist begründungsoffen. Da gibt es die systemische Solidarität. „Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied.“ Damit das System funktioniert und sich selbst erhält, braucht auch das schwächste Glied eine gewisse Stärke.
Und da gibt es die „Solidarität der Zöllner“ (Ernst Käsemann), die sich am gegenseitigen Geben und Nehmen ausrichtet und am Geschäft orientiert ist. Wer nur nimmt, fliegt raus.
Und da gibt es das euphorische Wir-Gefühl, event-orientiert, ein emotionaler Rausch, dem dann schnell der Kater der Vereinsamung folgen kann.
Und da gibt es das solidarische Zweckbündnis, Solidarität als Krisenmanagement, wenn es von außen eng wird. Solidarität hat viele Facetten.
Christliche Solidarität gründet auf Gnade. Gott wurde durch Jesus Christus mit uns solidarisch. Er litt mit uns, er litt für uns. Durch seine Auferstehung erlangen auch wir das ewige Leben. Dies kommt in der Taufe, der Eingliederung in den Leib Christi, zum Ausdruck: In der Taufe sterben wir mit Christus und werden mit ihm auferstehen in Herrlichkeit (Römer 6). Wir sind hineingenommen in Gottes Solidarität der Gnade und werden so zum Glied im Leib Christi. Das macht uns frei, untereinander solidarisch zu sein – und nicht, weil wir meinen, unsere Solidarität sei eine Investition in das eigene Wohlergehen im Sinne gegenseitiger Selbstverpflichtungen – „wie ich dir so du mir“ -; nicht, weil wir meinen, dass wir nur vereint als Organisation irgendwie über die Runden kommen; nicht, weil wir meinen, solidarisch sein zu müssen, weil Gott sonst seine Solidarität mit uns aufkündigt und wir nicht in den Himmel kommen.
Kirche geht nicht darin auf, System, Organisation, Unternehmen zu sein. Diese Rechnung geht nicht auf, weil sie nicht mit dem Überschuss der Gnade rechnet. Wir können solidarisch sein, weil wir Gottes solidarische Gnade erfahren. Kirche ist Leib Christi. Das Rückgrat dieses Leibes ist nicht die eigene Muskelkraft, sondern allein die Gnade: „Christi Leib, für dich gegeben. Nimm und iss!“ Das lässt uns aufrecht gehen. Da muss ich mich vor dem Mächtigen nicht bücken, da muss ich mein Haupt nicht über den Geringen erheben, sondern kann jedem gerade ins Gesicht sehen – und dann bin ich frei, mit den Leidenden zu leiden, mit den Geehrten mich zu freuen und der „Kirche Bestes zu suchen“.
Amen.