Geschwisterliche Liebe

Glauben und Leben näher aneinanderrücken zu lassen, bleibt in unserer Kirche eine ständige Herausforderung

Predigttext: 1.Johannes 2,7-17
Kirche / Ort: Osterburken
Datum: 19.10.2008
Kirchenjahr: 22. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Ulrich Müller-Froß

Predigttext: 1.Johannes 2,7-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

7 Meine Lieben, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot, sondern das alte Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. 8 Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt. 9 Wer sagt, er sei im Licht und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. 10 Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. 11 Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet. 12 Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. 13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt das Bösen überwunden. 14 Ich habe euch Kindern geschrieben geschrieben, denn ihr kennt den Vater. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennt den, der von Anfang ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark und das Wort Gottes bleibt in euch; und ihr habt den Bösen überwunden. 15 Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. 16 Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust, und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. 17 Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.

Exegetische Überlegungen

Der Predigtext im Kontext der Agende Das Thema dieses Sonntags lautet „In Gottes Schuld“. Sowohl Evangelienlesung als auch der Text der sechsten Reihe 1.Joh 2,7-17 mahnen die Kongruenz von Glauben und Handeln an. Die Schwerpunkte bei der Evangelienlesung liegen auf der Vergebung, bei 1.Joh 2,2-17 auf der Liebe gemäß Joh 13,34; die Liebe in 1.Joh 2 sowie die Vergebung in Mt 18 in Entsprechung zur Liebe Gottes bzw. zur Vergebung Gottes. Wenn in der Agende als Bild oder Thema dieses Sonntags „in Gottes Schuld“ angegeben wird, dann dürfte diese unsere Schuld gegenüber Gott als Begründung unseres Entsprechungshandelns gegenüber dem Bruder, der Schwester anzunehmen sein. Der Predigttext in seiner vermutlichen Ursprungssituation Unser Predigttext scheint in die Situation einer Gemeindespaltung hinein geschrieben worden zu sein. Ein Teil der Gemeinde hat sich vom anderen Teil gelöst. Den Scheidenden wirft der Briefschreiber fehlende Bruderliebe/Geschwisterliebe vor. Klaus Wengst nimmt in seinem Kommentar an, dass die Scheidenden einen gnostischen Hintergrund hätten, in dem gelebter Glaube, und damit Bruderliebe/Geschwisterliebe in Entsprechung der Liebe Gottes zu uns, keine Rolle spiele. Mit dieser Textstelle versucht der Schreiber die Gemeindeglieder, die sich noch nicht von der Gemeinde getrennt haben, zum Bleiben zu bewegen. Darum verurteilt er die Scheidenden und versucht den Bleibenden „den Rücken zu stärken“ und sie zur Bruderliebe/Geschwisterliebe zu ermutigen. In unserer Perikope betont der Schreiber in der Anrede zunächst die von Gott empfangene Liebe ( Meine Lieben ), um dann das alte Gebot der Bruderliebe/Geschwisterliebe (Joh 13,34) als jetzt wieder aktuelles neues Gebot anzumahnen. Im Moment des Sprechens verdrängt so das Licht die Finsternis. Wer anderer Meinung ist und zwar Gott liebt, aber nicht seinen Bruder, seine Schwester, der ist in der Finsternis, tappt im Dunkeln und ist verblendet.. Wer hingegen wie die Angeschriebenen Gott und seinen Bruder, seine Schwester liebt, lebt im Licht .Durch ihn kommt niemand zu Fall. Im zweiten Abschnitt ab V 12. wird in dreifacher Hinsicht festgehalten und durch Verdoppe-lung sehr betont, dass die Empfänger dieses Briefes in der Liebe sind, Vergebung der Sünde empfangen und das Bösen überwunden haben. Deshalb sind sie imstande, der Welt mit ihren Lüsten zu widerstehen und in der Liebe des Vaters zu bleiben. Wer aber in dieser Liebe bleibt und den Willen des Vaters tut (Joh 13,34), der bleibt in Ewigkeit. Vom Text zum Predigteinfall und zur –gestaltung Gemeindespaltung als Problem kenne ich nicht, aber das Problem der Bruderliebe, des geschwisterlichen Umgangs miteinander. Das Thema ist brisant. Ich werde von Einfällen nahezu überschwemmt. Da ich eine Predigt für die Gemeinde anfertigen soll, muss ich alle Einfälle aus der Beziehung zu Kolleginnen oder Kollegen bzw. Vorgesetzten streichen. Diese gehen die Gemeinde nichts an. Stattdessen muss ich Beispiele aus dem Gemeindealltag finden. Anschauung oder auch nur Bemerkungen aus den Gemeinden, in denen ich gerade arbeite, verbietet der Takt. Zudem ist solches direkte Ansprechen von Gemeindeproblemen auf der Kanzel wenig bekömmlich. Solche Fragen sind besser im Gespräch zu klären. Da Fragen des Umgangs ein „ziemlich heißes Eisen“ sind, empfiehlt sich ein Beispiel aus der Literatur. Ein Solches habe ich leider nicht gefunden. Stattdessen erzähle ich eine Episode von vor dreißig Jahren in einer Gemeinde, die fast dreihundert Kilometer von meinem jetzigen Dienstort entfernt liegt. Mir hat in den letzten 5 Jahren niemand erzählt, dass er diesen Ort kennt, geschweige denn weiß, wo dieser Ort liegt. Ich kann darum davon ausgehen, dass die Personen, von denen ich berichte, anonym bleiben. Zudem habe ich die Geschichte noch verfremdet. Predigtaufgabe ist, gemäß 1.Joh 2 zur Bruderliebe/Schwesternliebe, zum geschwisterlichem Umgang miteinander zu ermuntern - und denen, die diesen Umgang schon pflegen, den Rücken zu stärken. Dass dabei ungeschwisterlicher Umgang auch benannt werden muss, ist bedauerlich, aber kaum zu vermeiden. Ich habe sonntäglich zwei Gottesdienste zu halten. Die Gottesdienstbesucher/innen der größeren Gemeinde sind überwiegend Spätaussiedler/innen, die sich zum Teil nur mit großer Mühe auf Deutsch verständigen können. Ich sollte darum entweder nur narrative Predigten halten oder wenigstens längere Erzählpassagen verwenden. Zudem muss alles sehr einfach, holzschnittartig und zugleich dicht sein. Beides verlangt die Geschwisterliebe von mir als Prediger. Literatur: Klaus Wengst, Der erste, zweite und dritte Brief des Johannes, Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, Bad 16, Würzburg 1978. -Hans–Hermann Hücking und Thomas Vogel zur Stelle in: Roessler (Hrsg) u.a. Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/08 Perikopenreihe VI/ Zweiter Halbband, z. St. - Thomas Barkowski, z. St., in: GPM 97, 2008/08.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Liebe und Geduld im Umgang miteinander

Fragen des Umgangs der Menschen miteinander sind ein „ziemlich heißes Eisen“. Ich erzähle darum eine Geschichte, die schon lange, etwa dreißig Jahre, zurückliegt und in einer Gemeinde spielte, die ungefähr dreihundert Kilometer von unserer hießigen Gemeinde entfernt ist. Ich kann davon ausgehen, dass die Personen, von denen ich erzähle, hier niemandem bekannt sind. Zudem habe ich die Geschichte noch etwas verfremdet.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, erzählte ein Pfarrer (es könnte auch eine Pfarrerin sein). Jahrelang hatten wir schon keinen Organisten. Jede Woche begaben wir uns neu auf „Organistenjagd“ und mussten dankbar nehmen, was wir bekamen. Jetzt sagte mir eine Witwe bei einem der Besuche nach der Beerdigung: Ich muss mich ja jetzt nicht mehr um meinen Mann kümmern. Ich habe Zeit und zehn Jahre Klavierunterricht hinter mir. Ich könnte mir gut vorstellen, bei Ihnen in der Kirche ab und zu Orgel zu spielen. Dann hätte ich wieder eine Aufgabe, und mein Leben bekäme eine neue Richtung. – In der nächsten Kirchengemeinderatssitzung freuten wir uns gemeinsam und nahmen gern, sogar sehr gern, dieses Angebot an. Sie bekam einen Vertrag, einen Kirchenschlüssel, Choral- und Orgelbücher und einen Ausbildungsplatz beim Bezirkskantor. Dann begann sie. Es war uns klar, dass wir am Anfang Geduld aufbringen mussten. Aber darin waren wir schon geübt. Das machte uns nichts mehr aus. Also brachten wir Geduld auf, eines um das andere Mal. Aber noch einmal Unterricht zu nehmen und zu üben, war ihre Sache nicht. Nach einem halben Jahr rief der Kantor an und fragte, warum sie nicht käme. Jede Woche wartete er vergeblich auf sie in der Orgelstunde. Als sie nach einem weiteren halben Jahr immer noch nicht kam, vergab er den Platz an eine andere Person.

Die Gemeinde lernte damit zu leben, dass einige Notenwerte verkürzt oder verlängert wurden, dass man bei manchen Liedern etwas länger brauchte, um die Melodie wieder zu erkennen, wenn überhaupt; dass es manchmal schwierig war, mitzusingen; dass die Liturgie Sonderwege einschlug und man beim Nachspiel um seiner selbst willen, besser möglichst schnell, die Kirche verließ.

Mit ihr darüber zu reden ging nicht. Wer dies versuchte, merkte schnell, dass dies nicht bekömmlich war. So ertrug die Gemeinde diese Organistin mit sehr viel Liebe und Geduld. Sie meuterte nicht, sie schimpfte nicht, sie lästerten nicht, sie redeten nicht hinten herum. Sie ertrug alles, sie glaubte alles, sie hoffte alles, sie duldete alles, wie es so schön in 1.Korinther 13 heißt. Im Nachhinein wird mir erst bewusst, dass diese Gottesdienstgemeinde ein Beispiel für Bruderliebe/Geschwisterliebe abgegeben hat. Die Bereitschaft, ihr immer wieder alles Mögliche nachzusehen, nicht nur sieben Mal, sondern sieben mal siebzig Mal, und noch mehr, die Bereitschaft, diese Frau in ihrer ganzen Schwierigkeit zu akzeptieren und zu nehmen, wie sie war, dieses Stück praktizierter Geschwisterlichkeit ist schon aller Bewunderung wert. Hut ab vor einer solchen Gemeinde!

Die Gemeinde hat praktiziert, wozu uns der Johannesbrief heute anhalten möchte: Anderen Vergebung zu gewähren, weil Gott uns selbst vergeben hat. Den Nächsten/dieNächste zu lieben, weil jede/jeder sich in Christus von Gott geliebt weiß. Den eigenen Unmut über die Organistin zu bekämpfen, die es ganz offensichtlich nicht nötig gehabt hatte, sich ordentlich vorzubreiten. Nicht zu schimpfen, weil sie Geld bekam. Nicht die Kündigung zu verlangen, weil gesehen wurde, dass diese Frau dieses Amt nach dem Verlust ihres Mannes brauchte, um sich eine neue Identität ohne Mann aufzubauen. Das ist, was den jungen Männern geschrieben wurde, wenn es heißt: „Ihr seid stark und das Wort Gottes bleibt bei euch und ihr habt den Bösen überwunden.

Prioritäten

Wenn wir Gottesdienst als kommerzielle Veranstaltung hätten aufziehen müssen, dann wären wir genötigt worden, ihr zu kündigen. Als Straßenmusikerin wäre sie vermutlich verhungert. Die Gemeinde hat sich in dieser Beziehung nicht mit der Welt gleich gestellt, sondern sie hat andere Prioritäten gesetzt – sie handelte unter dem Gesichtspunkt der geschwisterlichen Liebe. So hat sie, um andere Worte im Johannesbrief aufzunehmen, die Finsternis ein Stück weit vertrieben, dass das Licht, in dem sie selbst stand, zunahm.

Diese Geschichte hat aber noch andere Beteiligte und damit andere „Hinsichten“. Da war zunächst der Kirchengemeinderat. Wir wollten selbstredend auch im Sinne der Geschwisterliebe entscheiden. Aber wem gegenüber war unsere Solidarität gefordert? Der Organistin gegenüber oder der Gemeinde, welche die Organistin bezahlte und Anspruch auf eine leidlich ordentliche Gottesdienstbegleitung hatte? Zum Glück wurde der Kirchengemeinderat nie vor diese Entscheidung gestellt. Aber wie hätte das Gremium entscheiden sollen, wenn sich die Gottesdienstgemeinde mehrheitlich gegen die Organistin entschieden hätte? Zur Organistin: Auch sie ist Mitglied der Gemeinde und ist von Gott geliebt – und darum ebenso wie andere Gemeindeglieder aufgefordert, geschwisterlichen Umgang zu pflegen. Aber daran fehlte es. Sie hätte entweder mehr üben müssen oder ihr Amt abgeben und sagen: “Ich kann dieses Amt nicht ausüben“. Stattdessen hat sie Anstoß erregt und die Geschwisterlichkeit ihrer Mitchristinnen und Mitchristen kräftig strapaziert. Es ging soweit, dass an einem Neujahrsgottesdienst jemand bei den Neujahrsglückwünschen ausdrücklich den Wunsch nach einem anderen Organisten/ einer anderen Organistin hinzufügte. Wie viele ihretwegen nicht mehr kamen, entzieht sich meiner Kenntnis.

“Das ist für die Kirche, da kommt es nicht so darauf an“

Nun kann man von keinem Menschen verlangen, dass er dauernd ordentliche Leistungen bringt. Jeder und jede hat schon einmal einen schlechten Tag, an dem alles daneben geht. Manchmal hindern die vielen Termine daran, sich gut vorzubereiten; oder man steckt in einer Krise, die die Konzentration raubt. Dafür hat man fast überall Verständnis, besonders und gerade in einer Kirchengemeinde. Selbstverständlich ist Rücksicht auf die Schwachen angebracht. Aber all diese Gründe lagen in dem geschilderten Fall nicht vor. Lag es an der inneren Einstellung, etwa in dem Sinn: „Das ist für die Kirche, da kommt es nicht so darauf an“? Einerseits ehrt es die Kirche, wenn es bei ihr stressfreier und großzügiger zugeht. Eine solche Haltung macht das Arbeiten in der Kirche angenehm. Andererseits stellt sich die Frage nach wahrer Geschwisterlichkeit, wie sie der Schreiber des Johannesbriefes anmahnt? Mangelnde Geschwisterliebe stellt er in der Gemeinde fest, Glaube und Leben klaffen auseinander.

Hoher Anspruch

Einer meiner Ausbilder pflegte zu sagen: „Wir lassen uns gern von dem Lied „Weil ich Jesu Schäflein bin“ trösten; aber wenn der gute Hirte unsere Wolle oder gar unser Fleisch will, sind wir nicht mehr so begeistert“. Diese Haltung verstehe ich gut. Nehmen ist wahrlich angenehmer als Geben. Man muss sich manchmal schon einen Ruck geben und sich überwinden, dass Glauben und Leben näher aneinanderrücken. Dieser Anspruch ist hoch. Aber man kann ihm genügen. Es geht. Ich habe vorhin das schöne Beispiel von der Gemeinde erzählt, die einer Organistin alles nachgesehen hat, nicht murrte, sondern sie akzeptierte, wie sie war. Die Mehrzahl der Organisten/ der Organistinnen, mit denen ich zu tun hatte, zeigten eine andere Arbeitshaltung. Meine Ohren haben viel schönes Orgelspiel gehört. Ich habe viele tüchtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, hauptamtliche und ehrenamtliche, erlebt, deren Arbeit ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Gemeinde zeigte.

Wir können das Gebot der Geschwisterliebe erfüllen. Denn wir sind, wie es im Predigttext heißt, diejenigen, denen die Anrede „Meine Lieben“ gilt. Die Rede ist nicht von der Liebe des Briefschreibers, sondern von der Liebe Gottes zu uns. Gott bringt uns soviel Hochschätzung entgegen, dass wir es nicht nötig haben, andere gering zu schätzen. Vielmehr sind wir im Stande, sie ebenfalls hochzuschätzen, in der Art, wie wir reden und wie wir handeln.

Amen

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