Umstrittene Gerechtigkeit

Keine zaghafte Anfrage ist es, die Abraham an Gott richtet, vielmehr die Infragestellung Gottes und seiner Gerechtigkeit

Predigttext: 1.Mose 18,20-21.22b-33
Kirche / Ort: Spenge
Datum: 26.10.2008
Kirchenjahr: 23. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Brigitte Janssens

Predigttext: 1. Mose 18, 20-21.22b-33 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

(20) Und der HERR sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, daß ihre Sünden sehr schwer sind. (21) Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob's nicht so sei, damit ich's wisse. (22b) Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN (23) und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? (24) Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? (25) Das sei ferne von dir, daß du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so daß der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? (26) Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben. (27) Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin. (28) Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen? Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht verderben. (29) Und er fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen nichts tun um der vierzig willen. (30) Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, daß ich noch mehr rede. Man könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun. (31) Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen. (32) Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, daß ich nur noch einmal rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich will sie nicht verderben um der zehn willen. 33 Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort.

Der Predigttext im Kontext der Agende (I.) und aus exegetischer Sicht (II.)

I. Bereits der Blick in Bibel, Agende und Exegese lassen den Predigttext aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit unterschiedlichen Aussageschwerpunkten kennen lernen. „Abrahams Fürbitte für Sodom“ ist die Perikope in der biblischen Übersetzung nach Martin Luther überschrieben. Diese Sichtweise greift das Evangelische Gottesdienstbuch bei seiner Charakterisierung des 23. Sonntags nach Trinitatis auf und spitzt sie zu. Rolle und Aufgabe der Kirche in der Welt sind Grundgedanke des Sonntags, der bei dem vorgeschlagene PT einen besonderen Akzent erhält: „Unüberhörbar macht sie (sc. Die Fürbitte Abrahams) aber auch deutlich, worin die Aufgabe der Glaubenden insbesondere in solchen 'kritischen' (krisis = Gericht) Situationen besteht: stellvertretend für die 'Stadt' - wie immer sie heißen mag - einzutreten und mit Gott um ihre Rettung zu ringen“ heißt es in der Erläuterung zum Proprium des 23. Sonntags nach Trinitatis. II. Wie ein kritisches Korrektiv wirken demgegenüber die Ergebnisse der Exegese. Deutlich weist Claus Westermann in seinem Biblischen Kommentar daraufhin, dass es sich bei dem Gespräch zwischen Abraham und Gott weder um eine Fürbitte, geschweige denn um den Versuch eines Handelns und Feilschens mit Gott geht. Demgegenüber betont C. Westermann das Eingebundensein des in nachexilischer Zeit eingefügten Gesprächs in den Gesamtzusammenhang der Verheißungsgeschichte, der im Rahmen der Kapitel 17-19 hergestellt ist durch die drei Männer im Hain von Mamre, die Abraham und Sarah die Geburt Isaaks verheißen, die von Abraham bis nach Sodom begleitet werden und schließlich im Hause Lots in Sodom fast selbst zum Opfer der wütenden Städter werden. Der von Gott Gesegnete (Gen 17) erfährt Gottes Segen in seiner persönlichen Lebens- und Familiengeschichte und wird darüber hinaus zum Gesprächspartner Gottes auf Augenhöhe. Dem Gesegneten teilt Gott seinen Vernichtungsbeschluss mit, der von Vornherein feststeht und der als solcher – wie der Fortgang der Erzählung zeigt – auch nicht zurückgenommen wird. Mit dem Gesegneten lässt er sich jedoch ein auf ein Gespräch um die theologische Frage, wie an der Gerechtigkeit Gottes im Walten der Geschichte festgehalten werden kann, wenn sein Strafgericht Gerechte und Gottlose in gleicher Weise trifft. Mit den Gesprächspartner Gott und Abraham stehen einander zwei theologische Positionen gegenüber: die „göttliche“, welche die Gerechtigkeit Gottes einfordert und an ihr festhält und damit den Vernichtungsbeschluss bekräftigt, und die „menschliche“, die um der wenigen Gerechten willen die Vergebung (Vers 24) vorschlägt. Im offenen Ausgang des Gespräches, im Wissen um den Fortgang der Geschichte, erweist sich Abraham als der Gesegnete, dessen Frömmigkeit sich in der Bewahrung von Recht und Gerechtigkeit bewährt. Dass Sodom und Gommora vernichtet werden, jedoch Lot und seiner Familie Rettung widerfährt, erlaubt es, im Gesamtzusammenhang der Kapitel 17-19 die Predigt unter das grundlegende Thema der gesamten Abrahamsgeschichte zu stellen: Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein. (nach Gen 12, 2)

Homiletische Entscheidungen

Im Hinblick auf die Gemeinde Die Predigt schreibe ich in einer Zeit, in der stündlich neue Nachrichten über die Finanzkrise, geplante oder gescheiterte Rettungsaktionen zu hören und zu sehen sind. Das schon lange untergründig vorhandene Empfinden, mehr Opfer als Täter in einer globalisierten Welt der Wirtschaft und der Finanzen zu sein, die Frage, wem man eigentlich noch trauen kann und welche Einfluss- geschweige denn Handlungsmöglichkeiten der Einzelne überhaupt noch hat, drängen an die Oberfläche und werden spätestens in der Schalterhalle der Sparkasse auch laut ausgesprochen. Was in der Welt der Mächtigen und der Märkte passiert und für den Betrachter und zugleich Betroffenen zunehmend undurchschaubar ist, provoziert zunehmend auch ganz persönliche existentielle Ängste. Wer hört uns noch? Wer nimmt uns ernst? Was passiert mit uns? Wer sorgt für uns? – Das sind Fragen, die Hilflosigkeit und Misstrauen deutlich spürbar werden lassen genauso wie die Sehnsucht nach Klarheit, Orientierung, Fürsorge und Schutz. Im Hinblick auf die Exegese Da ist es Gott, in Gestalt der drei Männer in Mamre, als Gesprächspartner Abrahams, als die zwei Engel bei Lot in Sodom, dessen Reden und Tun sowohl Klammer als auch roter Faden der Predigt sein soll, was gegen eine Auslassung von V. 22a. spricht. Mit seiner Verheißung und seinem Bundesschluss verspricht Gott den Menschen seine Begleitung und Bewahrung über Generationen, selbst angesichts von Chaos und Untergang. Als Gesegnete sind sie seine Beauftragte, auch im Geschehen der Welt. Als dem Herrn der Weltgeschichte bleibt Gott weder das Schreien der Opfer noch das Tun der Täter verborgen. Im Gespräch mit Gott, auf Augenhöhe, verbinden sich göttliche Sicht und seine Gerechtigkeit mit menschlicher Sicht, dem Wunsch nach Vergebung. Der Gesegnete, der zum Segen werden soll, wird dies, indem er mit Gott im Gespräch bleibt. Am Ende findet sich Gott selbst in Sodom (vgl. hierzu K.-H. Bieritz, Gott geht nach Sodom, a.a.O., S.224). Gott bleibt sich selber und seiner Verheißung treu, indem er Sodom und Gomorra vernichtet und die Gerechten errettet. Damit erwächst aus allem Niedergang immer auch Neuanfang, aus allem Tod immer auch neues Leben. Im Hinblick auf Gelesenes und Gehörtes Das diffuse wie umfassende Gefühl der Bedrohtheit und des Ausgeliefertseins fand ich wieder auf einem Blatt des Kalenders „Literarischen Ostsee 2009“, auf dem eine Passage aus dem Kriminalroman „Falsche Flensburger“ des „1. Kriminalstadtschreibers“ des Nordens, Gunter Gerlach, abgedruckt ist. Die Rezitation des Rilke-Gedichts durch Otto Sander im unter „gehört“ angegebenen Rilke-Projekt hat mich angeregt und ermutigt, das Trotzdem der göttlichen Begleitung zu betonen, das aus dem Gespräch zwischen Gott und Mensch erwächst und sich in unseren Städten vollzieht, sodass am Ende immer wieder der Anfang steht: „…Noch einmal sei es euer Morgen, Götter. Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung. Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt an allen Bruchstelln unseres Misslingens…“ Gelesen Claus Westermann, Genesis, Biblischer Kommentar zum Alten Testament 2. TB, Neukirchen-Vluyn 1981.- Gerhard Theißen, Zorn als Lebenszeichen oder Abrahams Fürbitte für Sodom und Gomorrha, in: Ders: Lebenszeichen, Predigten und Meditationen, Gütersloh 1998.- Wilfried Engemann und Karl-Heinrich Bieritz zur Stelle in: Roessler (Hrsg) u.a. Predigtstudien für das Kirchenjahr 2007/08 Perikopenreihe VI/ Zweiter Halbband, S. 216ff.- Gunter Gerlach, Falsche Flensburger, Hamburg 2000, Zitat: S. 32.- Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Insel Verlag Frankfurt a.M. 1986. Jetzt wär es Zeit, dass Götter träten aus bewohnten Dingen… Und daß sie jede Wand in meinem Haus umschlügen. Neue Seite. Nur der Wind, den solches Blatt im Wenden würfe, reichte hin, die Luft, wie eine Scholle umzuschaufeln: ein neues Atemfeld. Oh, Götter, Götter! Ihr Oftgekommenen, Schläfer in allen Dingen, die heiter aufstehn, die sich an den Brunnen, die wir vermuten, Hals und Antlitz waschen und die ihr Ausgeruhtsein leicht hinzutun zu dem, was voll erscheint, unserm vollen Leben. Noch einmal sei es euer Morgen, Götter. Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung. Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt an allen Bruchstelln unseres Misslingens… Gehört Schönherz und Fleer, Rilke-Projekt I Bis an alle Sterne, daraus: Otto Sander, Die Welt steht auf mit euch Lieder: „Die Erde ist des Herrn“ (EG 667, 1-4 RT Rheinland Westfalen Lippe), „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ (EG 326, 1,3,5,7), „Laß uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun“ ( EG 658, 1-3 RT RWL), „Laß uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“ (EG 675, 1-5 RT RWL), „Laß mich, o Herr, in allen Dingen auf deinen Willen sehen“ (EG 414, 1-4), „Herr, wir bitten, komm und segne uns“ (EG 607, 1-4 RT RWL).

zurück zum Textanfang

Predigt

Liebe Gemeinde!

Sodom und Gomorra

“Auf einen Schlag ist Flensburg voller Verbrecher. Die beiden Männer im Anzug in der Mitte des Platzes sind bestimmt zwei raffinierte Wirtschaftsverbrecher. Die Leute auf der Treppe zur Kirche sehen aus wie Fahrraddiebe. Vor der Bäckerei stehen drei Frauen und verabreden, den Bäcker zu ermorden. Ein Betrunkener torkelt vorbei, bettelt um Kleingeld. Ein Trickdieb. Ich weiche ihm aus. Ich gehe zum Zeitungskiosk. Die Frau bückt sich unter die Theke nach ihrem Revolver. Ich habe Glück, sie kommt nur mit der Zeitung wieder hoch. Die Titelseite des Flensburger Tageblatts meldet: Mord in Flensburg. Totes Kind im Backofen. Ich blättere im Laufen um: Kripo fing Serieneinbrecher. Ich blättere weiter: Überfall in der Neustadt. Nächste Seite: Schüler würgt Neunjährige. Giftschlange in Gastwirtschaft. Ich werfe die Zeitung in den nächsten Papierkorb. Diese Stadt ist voller Verbrecher.“ – Derart ausgeliefert und gefährdet, bedroht und bedrängt fühlt sich die Jakob Vogelwart, Hauptfigur des Kriminalromans „Falsche Flensburger“ von Gunter Gerlach in einer Stadt in unserem Land, in unserer Zeit.

Hinter jeder Ecke und in jedem Menschen lauert das Verbrechen. Umgeben von Tätern wächst die Angst, im nächsten Moment Opfer zu sein, ohne dass er dazu einen Anlass gegeben hätte, und ohne dass es da einen gäbe, der ihn schützt, der ihm hilft. Und mag die Übertreibung, das übertriebene Misstrauen beim Lesen dieser Zeilen durchaus spürbar sein, so findet es sich bei der Lektüre der Tageszeitung ohne Übertreibung und ganz wirklich doch wieder – bei uns, in unserer Stadt, bei uns, in unserer Welt. Seit Wochen sind wir stündlich konfrontiert mit neuen Nachrichten über die Finanzkrise, geplante oder gescheiterte Rettungsaktionen. Das schon lange untergründig vorhandene Empfinden mehr Opfer als Täter in einer globalisierten Welt der Wirtschaft und der Finanzen zu sein, die Frage, wem man eigentlich noch trauen kann und welche Einfluss- geschweige denn Handlungsmöglichkeiten der Einzelne überhaupt noch hat, drängen an die Oberfläche und werden spätestens in der Schalterhalle der Sparkasse auch laut ausgesprochen. Was in der Welt der Mächtigen und der Märkte passiert und für den Betrachter und zugleich Betroffenen zunehmend undurchschaubar ist, provoziert zunehmend auch ganz persönliche existentielle Ängste. Wer hört uns noch? Wer nimmt uns ernst? Was passiert mit uns? Wer sorgt für uns?

Sind unsere Städte, ist unsre Welt dem Untergang geweiht wie einst Sodom und Gomorra? Wohlhabend waren sie, reich an Bodenschätzen und durch Handel. Doch Wohlergehen hieß nicht Wohlleben in Sodom und Gomorra: Kriminalität bestimmte den Alltag. Brutalität und Aggression prägten das Klima. Gewalttätige Übergriffe gegen Schwächere oder Fremde waren keine Seltenheit. Wer hört das Schreien der Opfer? Wer sieht das Leiden der Bedrückten? Wer versteht das Weinen der Verzweifelten? Wer bietet dem Unheil Einhalt, und wer zieht die Täter zur Rechenschaft? Wer sorgt dafür, dass wieder Gerechtigkeit einzieht und Friede entsteht? – So fragen die Städter, und sie rufen die Götter. Und vielleicht hätten die Städter die Götter so gerufen wie der bekannte Schauspieler Otto Sander in der Rezitation eines unbekannten Gedichtes von Rainer Maria Rilke, in dem die Welt den Aufstand probt – „Die Welt steht auf“:

Oh Götter, Götter!
Jetzt wär es Zeit, dass Götter träten aus
bewohnten Dingen…
Und daß sie jede Wand in meinem Haus
umschlügen. Neue Seite. Nur der Wind,
den solches Blatt im Wenden würfe, reichte hin,
die Luft, wie eine Scholle umzuschaufeln:
ein neues Atemfeld. Oh, Götter, Götter!

Gesegnet

Und die Götter – sie sind nicht taub, sie erscheinen – doch nicht sogleich in Sodom. In Gestalt dreier Männer besucht Gott zunächst den alten Abraham und seine Frau Sara im Hain von Mamre. Das Gebot der Gastfreundschaft auch gegenüber Unbekannten ist Abraham selbstverständliche und freudige Pflicht. Ein reichhaltiges Abendessen wird den fremden Gästen vorgesetzt. Erst beim Abschied von den drei Männern erkennt Abraham in ihren Worten die Verheißung des einen Gottes, der mit ihm seinen unverbrüchlichen Bund geschlossen hatte: „Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“( 1. Mose 12, 2-3) Welch großartige Verheißung! Welch große Hoffnung! Welch spannungsvolle und spannungsreiche Aufgabe für die Zukunft!

Noch ein wenig verwirrt, in den drei Männern Gott erneut begegnet zu sein, seiner Verheißung jedoch vergewissert, begleitet Abraham seine Gäste zur Stadt, nach Sodom. Und auch hier ist Gott bereits gewesen, auch hierher, in die Stadt voller Verbrechen, hat er sich rufen lassen und das „Geschrei über Sodom und Gomorra gehört, dass ihre Sünden sehr schwer sind“ (1.Mose 18, 20). Unvermittelt treten die drei Männer in den Hintergrund, und Gott als der Eine richtet erneut das Wort an Abraham, unterrichtet ihn von seinem Vernichtungsbeschluss.

(Lesung des Predigttextes)

Segnen

Zeugen eines eindringlichen Gespräches werden wir, zweier Gesprächspartner, die sich auf Augenhöhe begegnen, einander wahrnehmen und einander ernst nehmen, um der Gerechtigkeit Willen, um der Menschen willen, um unserer Städte willen und um unserer Welt willen. Zeugen eines eindringlichen Gespräches werden wir zwischen Gott und Mensch, zwischen Segnendem und zum Segen Beauftragten, zwischen zwei Streitern für die Gerechtigkeit Gottes und Gerechtigkeit gegenüber den Menschen, die gleichermaßen Täter und Opfer im Blick haben. Keine zaghafte Anfrage ist es, die Abraham an Gott richtet, vielmehr die Infragestellung Gottes und seiner Gerechtigkeit. Denn kann die Vernichtung der vielen Ungerechten, der vielen Täter, nicht auch Unschuldige, nicht auch Opfer, treffen? Und wäre das gerecht? Wäre dann Gott gerecht?

Ohne sich selbst untreu zu werden, müsste Gott nicht die 50, die 45, die 40, die 30, die 20, die 10 verschonen, in dem der allen, der ganzen Stadt, der ganzen Welt vergibt? Denn die sind doch unschuldig und haben die Strafe, den Tod nicht verdient! Davon ist Abraham als Gesegneter überzeugt. Und dies immer wieder zu betonen, gehört zu seinem Auftrag bei seinen Nachkommen, in unseren Städten, in unserer Welt. Um der Gerechtigkeit Willen gegenüber den Menschen und unter den Menschen hat er für Gottes Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Davon ist auch Gott als Segnender überzeugt. Kein weiteres und nochmaliges Nachfragen Abrahams wird ihm zuviel. Die Stadt soll gerettet werden, wenn sich auch nur 10 Gerechte darin befinden. Die Stadt kann aber auch nur gerettet werden, wenn 10 Gerechte sich darin befinden. Allein: Diese 10 gibt es nicht. War das Gespräch umsonst – ohne Ergebnis für Sodom und Gomorra, für die Menschen in unseren Städten, in unserer Welt? Denn wir alle wissen: Sodom und Gomorra gehen unter, verbrennen: die Städte und alle Menschen, die darin leben. Wirklich alle? Wird Gott am Ende mit dem Ende der Städte, mit dem Ende Menschen seiner Verheißung an Abraham untreu? Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein?

Neues Leben

Nein, Gott zieht sich auch bei dem niederschmetternden Ergebnis der Suche nach wenigstens 10 Gerechten nicht zurück. Unser Predigttext endet mit der Auskunft, dass Gott von Abraham weggeht, in der Gestalt der Männer – nun als 2 Engel – hineingeht in die Stadt, zu den Tätern. Sein Vernichtungsurteil steht, aber Gott bleibt dabei nicht stehen. Der Gott, der richtet, er will auch retten. Fast wird er im Hause des Lot selbst zum Opfer des wütenden und mordenden Mob, der den Fremden nach dem Leben trachtet. Doch er lebt und er leidet mit den Menschen in der Stadt, in unserer Welt. Dennoch erfährt die Stadt Gottes Gerechtigkeit und Gericht – allein Lot und seine Familie überleben. Der Gott, der nicht den Tod, sondern das Leben will, lässt neues Leben wachsen und weitergehen – um der Menschen Willen, um der Städte und um der Menschen willen.

Das Gespräch mit Abraham, das Gespräch zwischen Gott und Mensch auf Augenhöhe, zwischen Segnendem und Gesegnetem, hat Folgen – bis heute, weil der Gott, der treu ist – sich selbst und den Menschen – sich rufen lässt und selbst im Niedergang zum Neuanfang begabt. Wie Abraham können wir mit Gott reden um der Städte willen, um der Welt willen und um der Menschen willen wie Rainer Maria sein unbekanntes Gedicht enden lässt:

„Noch einmal sei es euer Morgen, Götter.
Wir wiederholen. Ihr allein seid Ursprung.
Die Welt steht auf mit euch, und Anfang glänzt
an allen Bruchstelln unseres Misslingens…“

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.