Frei von Zwängen

Der Kredit, den wir bei Gott haben, wird durch keinen Aktienkursverfall gemindert

Predigttext: Prediger/Kohelet 3,1-14
Kirche / Ort: Heddesheim
Datum: 02.11.2008
Kirchenjahr: 24. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Herbert Anzinger

Predigttext: Prediger/Kohelet 3,1-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. 11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. 12 Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. 13 Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. 14 Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Man merkt: Es geht dem Ende zu. Die Predigttexte am Ende des Kirchenjahres kreisen um Tod und Leben, um individuelle Verantwortlichkeit und Weltgericht, um Hoffnung auf Auferstehung und das neue Jerusalem. Der 24. Sonntag nach Trinitatis stellt die Eingangstür zu dieser letzten Wegstrecke dar. Die für diesen Sonntag neben Koh 3 ausgewählten Perikopen (Kol 1,9-20 und Mt 9,18-26) und sein Motto „Der Überwinder des Todes“ legen es nahe, eine Christus-Predigt zu halten. Diesem Skopus lässt sich allerdings der Text aus Koh 3 nicht so ohne weiteres ein- oder gar unterordnen. Er ist unter den alttestamentlichen Autoren der große Skeptiker, der Fragen formuliert, die uns noch heute umtreiben, und der vor allem deshalb geradezu postmodern wirkt, weil er gesteht, keine Antwort auf diese Fragen zu haben. Das macht seine Texte irritierend interessant, aber zugleich homiletisch schwierig, wenn es denn in einer Predigt darum gehen soll, Evangelium aufscheinen zu lassen. Die Möglichkeit, den Text des „Predigers“ als dunkle Hintergrundfolie vorzuführen, vor der die Christusbotschaft besonders hell zum Leuchten gebracht werden kann, verbietet sich, weil darin ein altbekanntes und obsolet gewordenes Klischee des Verhältnisses der beiden Testamente zueinander wiederbelebt wird, also antijüdische Vorurteile und Ressentiments eher bestärkt als abgebaut werden. Gibt es dazu eine Alternative? Wenn wir davon ausgehen, dass das Christuszeugnis nicht isoliert von seinen alttestamentlichen Wurzeln verstanden werden kann und darf, dann wäre es jedenfalls einen Versuch wert, nach einem Vorschein des Evangeliums im Text dieses nüchtern beobachtenden Weisheitslehrers zu suchen. Allerdings wird dieser Versuch dadurch erschwert, dass die Deutung einiger Sätze der in Rede stehenden Passage exegetisch höchst umstritten ist. Unser Predigttext entstammt dem Traktat eines unbekannten Autors, der wahrscheinlich in der Mitte oder gegen Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts gelebt hat. Immer wieder umkreist Kohelet seine aus Beobachtung und Erfahrung abgeleitete These, dass alles flüchtig und nichtig sei. Die Meditation über die Zeit (Koh 3,1-9) eröffnet eine Reihe von Reflexionen über das „unverfügbare Glück als höchstes Gut“ (so Th. Krüger: Kohelet, BK XIX Sonderband, Neukirchen 2000). Diese Reflexionen reichen von Koh 3,10 – 4,12. Warum die Predigtperikope vor Koh 3,15 abgeschnitten wurde, hat sich mir nicht erschlossen; in der Regel wird eine Zäsur nach Koh 3,15 angesetzt. V. 1 stellt die These vor: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ Das heißt: Für alles, was geschieht, gibt es vorgegebene Gelegenheiten. „Zeit“ und „Stunde“ stehen hier weniger für die Zeitdauer oder den chronologischen Ablauf, sondern vielmehr für den kairos, der so oder anders realisiert werden kann. Zugleich markieren diese vorgegebenen Möglichkeiten auch die Grenzen menschlichen Handelns. Der Mensch ist insofern „gefangen in der Zeit“ (so überschreibt A. Lauha: Kohelet. BK XIX, Neukirchen 1978, 61ff, unseren Abschnitt). V. 2-8: Diese These wird nun anhand einer Reihe von sieben Doppel-Antithesen konkretisiert, in denen menschliche Handlungsweisen einander gegenübergestellt werden. Eröffnet wird die Reihe durch eine Antithese, die nicht menschliches Handeln, sondern das Widerfahrnis von Geburt und Tod zum Inhalt hat. Trotz mancher Unsicherheiten in der Deutung einzelner Stellen ist die Absicht des Autors klar: Er will zeigen, dass menschliche Existenz sich in Gegensätzen vollzieht. Der Mensch kann nur entweder lieben oder hassen, weinen oder lachen. Diese Vorstellung „von der fallenden Zeit, derzufolge alles menschliche Tun und Lassen ‚seine Zeit’ hat“ (G. von Rad: Weisheit in Israel, Neukirchen 1970, 337), gibt es auch in der älteren Weisheit Israels, zu der Kohelet auf Konfrontationskurs geht, wie sich an der Deutung zeigt, die er diesem Sachverhalt gibt. V. 9-14: Anders als die ältere Weisheit Israels leitet er daraus nämlich nicht die Forderung ab, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun, sondern er konstatiert im Gegenteil die Vergeblichkeit allen menschlichen Bemühens (V. 9). Dahinter steht die Vorstellung, dass Gott die Welt in ihrer ursprünglichen Schöpfung „schön gemacht hat“, dass der Mensch aber ihren Sinn nicht ergründen kann. Darauf reagiert Kohelet freilich nicht mit Resignation, sondern mit Gelassenheit. Er beschönigt nichts, sondern beschreibt die Situation menschlicher Existenz nüchtern und schonungslos. Ist nicht diese ehrliche Wahrnehmung der conditio humana der erste Schritt auf dem Weg zur Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf die göttliche Gnade? Luther jedenfalls hat eine Brücke zu schlagen versucht von Kohelet zur Bergpredigt und ihrer Warnung vor der Sorge (Mt 6,25-34; vgl. dazu Luthers Vorrede zu Kohelet WA.DB 10/2, 106). Die Predigt versucht diesen Gedanken am Ende stark zu machen und sie bezieht das Lied „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (im Badischen Regionalteil EG 644) in die Predigt mit ein.

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Predigt

Ich weiß nicht, wie es Euch angesichts der aktuellen Finanzkrise ergeht. Zwar habe ich keine Aktienpakete, die über Nacht nur noch die Hälfte wert sind, ich bin also kein direkt Betroffener. Aber die verunsicherte Frage, was das nun für unsere Wirtschaft bedeuten wird, ob Arbeitsplätze gefährdet sind oder genauer: wie viele wohl gefährdet sein mögen, und was da sonst noch alles auf uns zukommen könnte, – diese Frage lässt mich nicht kalt. Gerade hatten wir noch die Hoffnung, dass der Bundeshaushalt irgendwann in den kommenden Jahren ohne Neuverschuldung auskommen, und unsere Volkswirtschaft die Kosten der Vereinigung endlich schultern würde, – da kommen Tag für Tag immer neue Katastrophenmeldungen. Die angekündigte Kurzarbeit bei BMW und Daimler-Benz wird erst der Anfang sein. Man muss das nüchtern sehen und versuchen, sich darauf einstellen. Im Grunde bestätigt sich in den aktuellen Ereignissen etwas, was Christen immer schon wussten: Das Leben ist nicht ohne Risiko, erst recht dann, wenn man sich den politischen und ökonomischen Gesetzen und Mechanismen dieser Welt ausliefert. Ein Christ wusste mit Psalm 31,16 immer schon: Meine Zeit steht in Gottes Händen.

(Lied „Meine Zeit steht in deinen Händen“, EG 644,1 Refrain – Strophe 1 – Refrain)

Sorgen quälen uns. Sorgen um die Gesundheit. Sorgen um den Arbeitsplatz. Sorgen um die Kinder. Sorgen um die Zukunft. Wir fühlen uns wie Getriebene, als Sklaven unseres Terminkalenders. Und manchmal – und nicht nur in Zeiten der Krise – befällt uns das Gefühl von Sinnlosigkeit. Warum mache ich das eigentlich alles? Warum lasse ich mich so unter Druck setzen? Oder setze mich selber unter Druck? Ich weiß nicht, ob es Euch tröstet, wenn ich sage, solche Gedanken gab es auch schon vor mehr als 2000 Jahren. Ein unbekannter Autor, der im Text einmal „Versammlungsleiter“ genannt wird, was Luther mit „Prediger“ übersetzt, hat in der Mitte des 3. Jahrhunderts vor Christus über die Zeit nachgedacht und folgende Meditation zu Papier gebracht.

(Lesung des Predigttextes Prediger/Kohelet 3,1-8)

Diese sieben Doppelgegensatzpaare beginnen mit der den beiden Ereignissen, die kein Mensch selber in der Hand hat: seine Geburt und seinen Tod, und sie enden mit zwei konträren sozial folgenreichen Verhältnissen: mit Streit und Frieden. Und dazwischen setzen sie Banales neben Zentrales im Leben eines Menschen. Für alles, was Menschen widerfährt und was sie selber tun oder lassen, gibt es eine Zeit, eine Gelegenheit, eine Möglichkeit zu Handeln. Das ganze Leben besteht aus nicht anderem als Weinen und Lachen, Suchen und Verlieren, Einpflanzen und Ausreißen. Das ist so ganz ohne Wertung einfach hingestellt. Als wäre es gleich gültig. Der Autor kann das, weil er noch einen Schritt weiter geht und fragt: Was hat man davon? – Was hat man davon? – Nichts. Er wertet nicht, weil er das Ganze für sinnlos hält. „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.“ Eine ziemlich ernüchternde Aussage. Was soll das eigentlich alles, was man so landläufig „Leben“ nennt? Wer so fragt, lässt sich so leicht nichts vormachen. Sein Urteil ist unbestechlich. Das könnte uns sogar imponieren. Entspricht diese Sicht nicht auch oft genug unserem eigenen Lebensgefühl? „Es gibt Tage, die bleiben ohne Sinn. Hilflos seh ich, wie die Zeit verrinnt. Stunden, Tage, Jahre gehen hin, und ich frag, wo sie geblieben sind.“

(Lied „Meine Zeit…“, EG 644,2 Refrain – Strophe 3 – Refrain)

„Meine Zeit steht in deinen Händen“, so haben wir mit dem Psalmisten gesungen. Aber wie soll das denn gehen, wenn wir aus dem Fluss der Zeit nicht heraustreten können? Wäre es nicht ehrlicher zuzugeben, dass wir aus diesem Mühlrad nicht herauskommen, dass wir diesem Gefängnis nicht entfliehen können? Lesen wir, was unser antiker und doch so postmodern wirkender „Prediger“ dazu zu sagen hat:

(Lesung des Predigttextes: Prediger/Kohelet 3,10-14)

Ja, er bleibt dabei: Es ist alles nichts. Das gibt es nichts schönzureden. Die Zeit rinnt uns unter den Händen weg. Die Arbeit ist nichts anderes als Plage, nichts anderes als Maloche. Vielleicht gibt es ja einen Sinn in dem allem, sagt er. Ich will gar nicht bestreiten, dass Gottes Schöpfung ursprünglich schön war. Aber schau dir die Welt doch an. Kannst du darin den Sinn erkennen, den Gott in alles gelegt hat? Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben: Nein, ergründen lässt sich dieser verborgenen Sinn nicht. Letztlich bleibt alles sinnlos, vergeblich und nichtig. Der Skeptiker in uns wird dem wohl weitgehend zustimmen. Aber was folgt daraus nun für das konkrete Leben? Sollen wir uns den Strick nehmen? Oder sollen wir unser Leben leben ohne Rücksicht auf Verluste? Für die meisten Zeitgenossen scheint dies die einzig mögliche Alternative zu sein. Nicht für unseren „Prediger“. Er empfiehlt einen dritten Weg: „Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.“ Holla, das hattet Ihr nicht erwartet. Haben wir das recht verstanden: Wir sollen das Leben genießen? Also angesichts der Undurchsichtigkeit des Lebens weder in Depression verfallen noch rücksichtslos unser Leben leben, sondern das, was wir an Gutem und Schönem erleben, genießen, ohne nach dem tieferen Sinn zu fragen? Wir sollen das Leben, wie es kommt, einfach aus Gottes Hand nehmen? Aber das würde doch auch bedeuten, dass wir frei werden von den Zwängen, denen wir uns immer wieder aufs Neue ausliefern.

(Lied „Meine Zeit…“, EG 644,2 Refrain – Strophe 2 – Refrain)

Das Leben genießen, auch wenn sich uns sein Sinn nicht erschließt, das bedeutet natürlich auch, die Sorge um die Zukunft in Gottes Hand zu legen. Hat Jesus uns in der Bergpredigt nicht dazu ermutigt, nicht zu sorgen? Wollte er nicht, dass wir uns ein Beispiel nehmen an den Lilien auf dem Felde, die nicht spinnen und doch prächtig gekleidet sind, und an den Vögeln unter dem Himmel, die nicht säen und ernten und doch von Gott ernährt werden (Mt 6,25-34)? Es kommt also weder auf unseren Durchblick noch auf unsere Leistung an. Sondern darauf, dass wir uns Schritt für Schritt von Gott führen lassen und das Leben genießen, das Gott uns schenkt. „Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes“, weiß auch schon der Weisheitslehrer aus dem alten Israel, dem wir unseren Predigttext verdanken. Auch der Glaube, auch das Vertrauen in Gottes Führung ist ein Geschenk Gottes. Für unsere gegenwärtige durch Bankencrashs geprägte Situation bedeutet dies: Der Kredit, den wir bei Gott haben, wird durch keinen Aktienkursverfall gemindert.

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