Lichtgestalten
Christsein heißt sich auf die Tagesseite und nicht auf die Nachtseite stellen
Predigttext: 1. Thessalonicher 5,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; 2 denn ihr selbst wißt genau, daß der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 3 Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. 4 Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß der Tag wie ein Dieb über euch komme. 5 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. 6 So laßt uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern laßt uns wachen und nüchtern sein.Exegetische Vorbemerkungen
Paulus hat den Thessalonicherbrief aus Korinth geschrieben und scheint das Ende der Zeit nicht in naher Zukunft erwartet zu haben, da er ja seine Mission fortsetzt. Die Frage nach dem Ende der Zeit kann als Anfrage aus Thessalonich verstanden werden, aber auch als logische Fortsetzung des vorausgehenden Textteils 4,13-18. Für Paulus scheint die Frage falsch gestellt zu sein; so mag sich erklären, wie es dazu kommt, dass Paulus in diesem Text mit Metaphern spielt, neue Bilder einsetzt, dann verwandelt oder durchbricht. Paulus zielt darauf ab, dass die Christen sich aus der Frage des kommenden Gerichts heraus ihres Lichtstatus’ als ihrer heilsgeschichtlichen Grundlage bewusst bleiben. Das erweist sich an dem Wechsel der Personalpronomina: Vers 2b-3 wird objektiv in der 3. Person formuliert, ab dem vierten Vers werden die Adressaten direkt angesprochen, um dann in Vers 5b mit der 1. Pers. Plural das Wir der Christen in den Vordergrund zu stellen, mit dem Paulus, den Gedankengang abschließend, die Thessalonicher mit einschließt. Das Bild des Diebes in der Nacht mutet ausgerechnet in diesem Zusammenhang von Licht und Finsternis anstößig an, weil ja mit dem Dieb Gottes eigenes Wirken gemeint ist und er als Verbrecher dargestellt wird. Da dieses Bildmotiv nicht in der vorneutestamentlichen Literatur nachweisbar ist, kann es sein, dass es auf Jesus selbst zurückgeht und darum von Paulus verwendet wird. Die Herkunft der Formel „Friede und Sicherheit“ wird unterschiedlich bestimmt. Ist sie eine Formel gnostischer Agitatoren? Wird hier prophetische Kritik an Falschpropheten (Jer 6,14; 8,11) aufgenommen, die in der Gemeinde aufgetreten sind? Wird hier aus dem politischen Jargon der Pax romana die Wendung pax et securitas ironisch aufgenommen, um zu zeigen, dass allein Gott sie geben kann? Literatur (Kommentare): Gerhard Friedrich: Der erste Brief an die Thessalonicher (NTD 8), 3.Aufl., Göttingen 1990. - Traugott Holtz: Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), 3.Aufl., Neukirchen 1998. - Günter Haufe: Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHK 12,1), Leipzig 1999.Predigt
Liebe Gemeinde!
Denkwürdiges Datum
Der heutige Sonntag mit dem Tagesdatum 9. November gibt zu denken. Denn drei für Deutschland schicksalhafte Ereignisse verbinden sich mit diesem Datum: die Novemberrevolution 1918, als nach dem Matrosenaufstand die konstitutionelle Monarchie in eine demokratisch-parlamentarische Demokratie umgewandelt wurde. An diesem Tag wurde die Republik ausgerufen. Die Reichspogromnacht 1938, in der allein 400 Juden umgebracht oder in den Tod getrieben wurden. Fast alle Synagogen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Etwa 30.000 Juden wurden sofort verhaftet. Dann 1989 die Öffnung der innerdeutschen Grenze. Damit war ein diktatorisches Kapitel deutscher Geschichte zu Ende: Die DDR begann sich aufzulösen, die Menschen nahmen sich ihre Freiheit zurück. Die deutsche Wiedervereinigung konnte in Angriff genommen werden.
Wie viel Licht und wie viel Nacht, wie viel Gutes und wie viel unsagbar Böses verbindet sich mit diesem 9. November! Wir wollen das versuchen zu reflektieren mit dem heutigen Predigttext aus dem Ersten Thessalonicherbrief im fünften Kapitel (Übersetzung nach der Zürcher Bibel 2007):
1 Über Zeiten und Fristen aber, liebe Brüder und Schwestern, braucht euch niemand zu belehren. 2 Ihr wisst ja selber genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. 3 Wenn die Leute sagen: Friede und Sicherheit, dann wird das Verderben so plötzlich über sie kommen wie die Wehen über die Schwangere, und es wird kein Entrinnen geben. 4 Ihr aber, liebe Brüder und Schwestern, lebt nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag überraschen könnte wie ein Dieb. 5 Ihr seid ja alle ‹Söhne und Töchter des Lichts› und ‹Söhne und Töchter des Tages›; wir gehören nicht der Nacht noch der Finsternis. 6 Lasst uns also nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein!
Was waren das für Menschen, die damals Gutes taten oder Böses? Lässt sich das so einfach sagen – hier die Bösen und dort die Guten? Hier ein böses Datum und hier ein gutes Datum? Bei Paulus sieht es jedenfalls für die Christen so aus: Ihr seid alle Söhne und Töchter des Lichts, ihr seid Söhne und Töchter des Tages. Kann daraus nur Gutes werden?
Menschenerfahrung
Wir kennen bestimmt Menschen, die eine ganz positive und freundliche Ausstrahlung haben. Egal, wann man sie trifft, sie sind immer gut aufgelegt, haben immer ein freundliches Wort auf den Lippen, ihr ganzes Wesen ist einfach positiv. Man traut ihnen nichts Schlechtes zu. Aber jeder, der etwas Menschenerfahrung hat, weiß, dass das nicht immer so sein kann. Auch solche Menschen mit einer derart positiven Ausstrahlung machen manchmal Fehler, sagen etwas Falsches, vielleicht sogar etwas Verletzendes. Niemand kann immer nur positiv sein und alles richtig machen. Das weiß auch Paulus – selbstverständlich! Er ist Realist genug – und er hat es oftmals formuliert –, um zu wissen, dass auch Söhne und Töchter des Lichts Worte sagen und Werke vollbringen, die eher in den dunklen Bereich gehören als an das helle Licht des Tages. Trotzdem sagt er nicht, die Christen in Thessalonich sollen Söhne und Töchter des Lichts, sie sollen Söhne und Töchter des Tages sein; nein, er formuliert es als Feststellung: Ihr seid. Ihr seid Söhne und Töchter des Lichts. Christen sind Söhne und Töchter des Tages. Das ist unsere Identität, die haben wir von Christus im Glauben erhalten.
Paulus hat das den Christen in Thessalonich gesagt, weil sie das Ende der Welt erwarteten. Man begann, über den Zeitpunkt zu spekulieren. Er hat das zurückgewiesen als etwas, um das nur Gott allein weiß. Es gibt immer wieder in der Geschichte Ereignisse von solch umwälzender Art, dass man entweder das Ende der Welt oder den Beginn einer neuen Welt damit verbunden hat. Wer mit wachen Augen den heraufziehenden Nationalsozialismus und die damit verbundenen Gräueltaten wahrgenommen hat, konnte schon an das Ende der Welt denken. Für allzu viele war es ja das Ende zumindest ihres eigenen Lebens. Wer noch heute die Bilder des Mauerfalls in Berlin im Fernsehen sieht, die überraschten und über die Maueröffnung fast ungläubigen Gesichter, kann die Freude noch heute spüren – es schien, als beginne eine neue, endliche eine gute und friedliche Welt.
An all diesen epochalen Wenden deutscher Geschichte waren auch Christen beteiligt. Waren sie nur als Lichtgestalten beteiligt? Haben sie immer auf der richtigen Seite, auf der Tagesseite und nicht auf der Nachtseite gestanden? Das ist leider nicht so gewesen. Gerade in der Beurteilung der Zeit des Nationalsozialismus haben die Rolle der Kirchen, die Einstellungen vieler prominenter Christen daran Zweifel aufkommen lassen. Die Auseinandersetzungen sind darüber bis heute nicht verstummt und vieles ist weder aufgeklärt, verstanden oder gar aufgearbeitet. Das Gleiche gilt auch für die Zeit der DDR: Haben die Christen in Ost und West, haben die Kirchen immer richtig reagiert?
Dass es zu diesen immer wieder einmal auch sehr schmerzlichen Auseinandersetzungen kommt, liegt wohl daran, dass man es kaum fassen kann, dass auch Christen die Rassenideologie der Nazis vertreten haben. Dass es Christen waren, die nicht erkannt haben, dass die DDR ein diktatorischer Staat war, der atheistisch gesinnt war und vielen Menschen das Leben schwer gemacht hat, ja Biographien und Lebensläufe gebrochen hat. Auch wenn viele Christen dort ihren Glauben trotz Repressionen gelebt haben. Und wer weiß, vor welche Prüfungen wir noch gestellt werden. Selbst wenn sie nicht solche epochalen Auswirkungen haben, können sie doch für unser persönliches Leben manches Mal entscheidend sein.
Werden wir immer die richtigen, die lichtvollen Entscheidungen treffen? Sagen und tun wir immer das Richtige? Ist bei uns immer Tag und niemals Nacht? Wer das behaupten wollte, machte sich zuerst selbst etwas vor. Auch Christen treffen falsche Entscheidungen, stehen manchmal auf der falschen Seite. Christen sind Sünder wie alle anderen Menschen auch. Aber wir Christen wissen, dass wir durch Christus zu Söhnen und Töchtern des Lichts geworden sind, wir gehören auf die Tagseite und nicht auf die Nachtseite. Das ist unsere Identität, da liegt unsere Kraft, aus der heraus wir Entscheidungen treffen können, Gedanken entwickeln und unser Tun und Handeln steuern lassen.
Lichtseite
Wir sollen nicht schlafen wie die anderen, sagt Paulus, sondern wach und nüchtern sein. Wir können das, weil wir auf der Seite des Lichtes stehen. Wir müssen es nicht erst herstellen, Paulus sagt ja nicht, nun strengt euch mal ordentlich an, denn ihr seid ja schließlich Christen! Paulus argumentiert genau anders herum: Weil ihr Christen seid, weil ihr vom Licht her kommt, könnt ihr auch vom Licht her euer Tun und Denken leiten. Ihr müsst nicht etwas herstellen, was nicht ist, sondern ihr könnt von etwas ausgehen, was es gibt und was eure Lebensgrundlage ist. Darum schlaft nicht, sondern seid wachsam und nüchtern!
Das gilt für die Gegenwart und damit verbunden für die Zukunft. Ihr Söhne und Töchter des Lichts, des Tages: Seid wachsam und nüchtern! Schaut von eurem Glauben aus, von eurer Lichtseite aus auf die Geschehnisse im Staat, auf die Gesellschaft und auch auf die Kirche. Unser Licht wird gebraucht, überall dort, wo es dunkel zu werden beginnt: wo die alten und von uns als überwunden geglaubten Häupter des Neo-Nationalsozialismus sich wieder erheben, wo Menschen meinen, sich an Konsum und materiellen Dingen orientieren zu können, wo Jugendliche weniger äußerlich, aber vielmehr innerlich verwahrlosen, wo Menschen ins Abseits geschoben werden, weil ihre Meinung nicht vom Mainstream gedeckt wird. Wo Menschen heute von allen möglichen Images und Shows sich so etwas wie Wirklichkeit vormachen lassen und das, was wirklich und real ist, gar nicht mehr wahrnehmen. Viele leben in einer Scheinwelt und kommen mit der Realität nicht mehr zurecht.
Darum: Seid nüchtern und wacht! Ja, all diese beunruhigenden Geschehnisse der Vergangenheit und beunruhigenden Entwicklungen der Gegenwart wollen uns schlafen machen, damit wir nicht erkennen, wenn der Herr wie ein Dieb in der Nacht kommt. Wir sollen ihn übersehen, damit unser Licht nicht ihre Dunkelheit aufdeckt. Das gilt auch für die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit. Zu viele haben geschlafen und haben die Warnrufe Christi nicht gehört. Andere dagegen haben gehört: Wir wissen von Lichtgestalten, die noch in der tiefsten Nacht, selbst in Angesicht ihres eigenen Todes nicht aufhörten zu warnen und sich nicht einschüchtern ließen, das Böse zu verurteilen. Von ihrem Licht, von ihrer Glaubensüberzeugtheit, von diesen lichtvollen Wirkungen leben wir in Deutschland noch heute. Darum gilt es auch für uns: Seid nüchtern und wacht! Lebt aus dem Licht Christi!
Amen