Verantwortung

Der Mensch kann seine Verantwortlichkeit leugnen, aber die Rede vom Gericht Gottes erinnert ihn daran, dass er sich nicht von den Folgen seiner Verantwortungslosigkeit dispensieren kann

Predigttext: 2.Korinther 5,1-10
Kirche / Ort: Köln
Datum: 16.11.2008
Kirchenjahr: Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Autor/in: Professor Dr. Berthold W. Köber

Predigttext: 2.Korinther 5,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. 2 Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, daß wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, 3 weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. 4 Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. 5 Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. 6 So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; 7 denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. 8 Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. 9 Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, daß wir ihm wohlgefallen. 10 Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Angeleitet durch unseren heutigen Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr wollen wir im besonderen den letzten Vers unseres Schriftwortes miteinander bedenken. Er lautet: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

Menschliches und göttliches Gericht

Eine für unser Zusammenleben in der Gesellschaft notwendige Einrichtung ist das Gericht. Es befindet über unsere vielfachen und komplexen Beziehungen zueinander und versucht, wo sie gestört sind, sie wieder zu-Recht-zu-bringen. Es stellt Schuld und Unschuld fest, ahndet Unrecht und versucht, das Recht wieder herzustellen. Es ist eine der ältesten menschlichen Einrichtungen überhaupt und aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft nicht wegzudenken. Mit dem Gericht haben wir aber nicht gerne zu tun, weder als Beklagte und schon gar nicht als Angeklagte, aber auch nicht unbedingt als Ankläger, denn als solche wurde uns unser Recht vorenthalten oder verletzt – und wir müssen darum kämpfen. Und das alles ist verbunden mit Aufregungen und Nerven, mit großem Aufwand an Zeit und Geld – und erweist sich trotzdem oft als vergebliche Mühe. Unangenehm ist es auch darum, mit dem Gericht zu tun zu haben, weil das mit Feststellen von Vergehen und Schuld und Unrecht verbunden ist, weil man Rede und Antwort stehen muss über das eigene Reden und Tun, weil man durchleuchtet und dadurch zumeist bloßgestellt wird. Das aber ist äußerst peinlich und beschämend, auch wenn sich dabei herausstellt, dass man zu Unrecht beschuldigt worden ist. Trotzdem ist es umso auffälliger, wie unheimlich viele Verfahren hier in Deutschland angestrengt werden, – als ob man geradezu Freude am Rechtsstreit hätte. Viele Leute laufen wegen jeder Kleinigkeit zum Kadi und klagen, und die Folge davon ist eine Überbelastung der Gerichte, lange, oft über Jahre sich hinziehende Verfahren und auch fragwürdige Urteile.

Von Gericht, von Anklage, von Schuldspruch und Freispruch, ist auch heute, am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, in unseren Schriftlesungen die Rede. Es handelt sich dabei aber um keine menschliche Instanz, sondern um das göttliche Gericht. Vor ihm haben sich alle Menschen zu verantworten. Diese Vorstellung ist uns aber fremd und alles andere als beliebt. Sie setzt voraus, dass wir sündig und schuldig sind, – und wer möchte das schon sein! Zu viel hat die Kirche in vergangenen Zeiten davon gesprochen, damit gedroht und den Menschen die Hölle heiß gemacht. Zu oft ist die Vorstellung vom Jüngsten Gericht instrumentalisiert worden, um Macht über die Glaubenden zu gewinnen, sie klein und gehorsam zu halten und sie für eigene Zwecke dienstbar zu machen.

Jüngstes Gericht

Die Vorstellung vom Jüngsten Gericht scheint mit dem heutigen Menschenverständnis unvereinbar. Der heutige Mensch versteht sich als in seinem Wesen als gut, vielleicht mit kleineren Fehlern und Schwächen, aber die sind verzeihlich. Der heutige Mensch versteht sich als autonom und lehnt höhere Instanzen, vor denen er sich zu verantworten und zu rechtfertigen hätte, deshalb ab. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind ihm heilig. Die Vorstellung vom Jüngsten Gericht scheint auch mit dem heutigen Gottesverständnis, sofern überhaupt noch an Gott geglaubt wird, unvereinbar. Gott ist die Liebe. Er nimmt den Menschen an und sagt Ja zu ihm, so wie er ist. Jesus Christus ist Bruder und vielleicht Heiland. Aber Gott oder gar Jesus Christus als Richter – das wird von vielen als eine unzeitgemäße Vorstellung abgelehnt. Wir haben zuvor bekannt: “…von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.” Wir haben damit unsere Schwierigkeiten. Was fangen wir angesichts unseres heutigen Menschen- und Gottesverständnisses mit einer solchen Glaubensaussage an? Die Rede vom Jüngsten Gericht ist ein Bild. Jesus hat sehr oft in Bildern gesprochen. Auch wir versuchen, Gedanken, die schwerer in Worte zu fassen sind, im Bild auszudrücken, damit wir besser verstanden werden. Das Bild ist nicht die Wirklichkeit. Aber es steht für die Sache und hat deshalb Wahrheitsgehalt. Jesus redet auch vom Jüngsten Gericht in einem Bild. Es ist uns unmöglich, vorzustellen, dass sich das Jüngste Gericht tatsächlich auch so abspielen wird, wie wir es in der heutigen Schriftlesung (Matthäus 25,31-46) gehört haben. Aber es hat Wahrheitsgehalt. Diesen wollen wir versuchen, zu ergründen.

Ver-Antwortung

Wir bekennen, dass wir von Gott geschaffen und sein Ebenbild sind. Was besagt das? Gott hat uns durch sein Wort geschaffen. Wir sind von Gott angeredet. In diesem Angesprochen-werden durch Gott besteht unser eigentliches Menschsein. Dieses Angesprochenwerden von Gott ist konstitutiv für unser Personsein. Auf diese Anrede antworten wir. Darin besteht unsere Bestimmung. Der Mensch ist also angeredetes und antwortendes Wesen. Das verwirklicht sich immer aufs neue, wenn wir uns gegenseitig anreden. Der bedeutende Religionsphilosoph Martin Buber ist es, der in diesem Sinn von der konstitutiven Bedeutung des “Du” für das Ich, für das Personsein des Menschen, spricht. Im Angesprochenwerden durch ein Du erfahre ich mich als Person, als Ich. Unsere Existenz vor Gott und dadurch auch vor einander ist also eine dialogische Existenz, wie der Mensch ein dialogisches Wesen ist. Antwort hängt aber zusammen mit Ver-Antwortung. Verantwortung ist wesentlich Antwort geben. Die Antwort, zu der wir als Menschen von Gott geschaffen und angeredet sind, hat eine ganz konkrete Zielrichtung. Gott hat dem Menschen alles, seine ganze Schöpfung anvertraut. Für sie soll der Mensch Sorge tragen, sie hegen und pflegen, wie es Gott selbst tut. Dadurch wird der Mensch Gottes Stellvertreter. Das ist die höchste Würde, die dem Menschen zuteilgeworden ist. Als solcher greift er gestaltend in die Schöpfung ein; er wirkt selbst schöpferisch und bekommt Anteil an Gottes schöpferischem und bewahrendem Handeln. Dieses macht den wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Lebewesen aus. Wie geht nun der Mensch damit um? Was macht er daraus? Was machen wir mit unserem Leben, mit dem unserer Nächsten? Mit den Nachbarn, den Kollegen, den Untergebenen, den Übergeordneten? Was machen wir mit den Pflanzen, den Tieren, der Schöpfung insgesamt, der Welt? Nicht zufällig ist die erste Frage Gottes an den Menschen, die gerade diese Verantwortung anspricht: “Wo ist dein Bruder Abel?” Und Kain? Er leugnet mit unerhörter Frechheit seine Verantwortung: “Soll ich denn den Hirten hüten?” Aber Kain hat seinen Bruder vorher erschlagen. Deswegen ruft ihn Gott zur Verantwortung. Das ist der Sinn des Gerichtes Gottes.

Als eine ganz wesentliche und unentbehrliche Hilfe, um Verantwortung wahrnehmen zu können, hat Gott dem Menschen die Vernunft gegeben. Was aber tut der Mensch? Er setzt die Vernunft und damit sich selbst absolut. Und die Folgen? Die Erfahrung lehrt ein Doppeltes. Zum einen: Es gibt keine allgemeine, eine allen Menschen gemeinsame gleiche Vernunft. Was mir vernünftig erscheint, muss es nicht auch für die anderen sein, und umgekehrt. Vernunft ist also relativ. Und zum anderen: Vernunft ist manipulierbar, – von uns selbst, von der Gesellschaft, von anderen Mächten. Und so fängt es dann an: Mit den kleinen Unwahrheiten gegenüber dem anderen, die man ohne weiteres meint, verantworten zu können. Die kleinen Betrügereien an der Kaufhauskasse. Und weiter geht es mit dem Mobbing im Betrieb, um den Konkurrenten oder den unsympathischen Mitarbeiter loszuwerden. Die Preistreiberei, wie wir sie erleben. Die Korruption nicht weniger Politiker. Bilanzfälschungen in Millionenhöhe. Rechtsbeugung ganz groß. Sogenannte Gewinnoptimierung – durch Massenentlassungen. Und Abfindungen in achtstelliger Höhe. Die Wahllügen und Verschleierungen… Eine unendliche Liste. Eine höhere Instanz über sich zu wissen, würde das alles erschweren oder ganz unmöglich machen, die Durchsetzung der eigenen Interessen ganz gewaltig stören, die Freude am „Erfolg“ vermiesen… Daher wird Gott als Richter abgeschafft. Und damit auch die Verantwortung vor ihm. Von den Geboten wird nicht mehr gesprochen. Die Bibel hat keine Autorität mehr. Lebt es sich ohne Gott nicht viel bequemer und leichter und einfacher? Und so wird schließlich Gott selbst abgeschafft. Was aber ist an dessen Stelle gerückt? Die Verantwortung vor dem Gesetz und der Rechtsordnung? Sich nicht erwischen lassen, ist für nicht wenige zum Prinzip geworden. Oder Verantwortung vor der Gesellschaft, vor dem Nächsten? Wer ist dieses Phantom überhaupt? Unser Grundgesetz macht zu seinem grundlegenden Prinzip die Verantwortung vor Gott. Manche unserer auf Grund dieses Gesetzes gewählte Regierungsmitglieder lassen sich nicht mehr auf Gott vereidigen. Drückt sich darin aus, dass sie ihr Amt nicht mehr in Verantwortung vor Gott wahrnehmen? Der Egoismus, die Maßlosigkeit und die Lieblosigkeit in unserer Gesellschaft haben ihren Grund in der Verantwortungslosigkeit vor Gott, die nichts anderes ist als Gottlosigkeit. Und je gottloser eine Gesellschaft, umso gnadenloser ist sie.

Die Rede vom Gericht Gottes besagt, dass es diese letzte Verantwortlichkeit des Menschen gibt. Es spielt dabei nicht die geringste Rolle, ob der Mensch das wahrhaben will oder es konsequent und vehement leugnet. Von ihr kann er sich nicht dispensieren, da er als Mensch zur Verantwortlichkeit bestimmt ist. Das haben auch Menschen erkannt, die nicht unbedingt vom christlichen Glauben her denken, wie etwa der bekannte Philosoph Hans Jonas. Er hat gerade die Verantwortlichkeit des Menschen zum Prinzip seines Menschenverständnisses gemacht. Nur das Wahrnehmen dieser Verantwortung, sagt Jonas, ermöglicht das Überleben unseres Planeten angesichts der vom Menschen entfesselten Kräfte der Technik und seines Allmachtstrebens. Der Mensch kann wohl diese Verantwortlichkeit leugnen; von ihr und den Folgen seiner Verantwortungslosigkeit kann er sich aber nicht dispensieren. Daran erinnert die Rede vom Gericht Gottes immer wieder aufs neue. Und indem sie das tut, deckt sie die Wahrheit des Lebens, auch unseres eigenen Lebens auf. Sie bewahrt uns davor, dass wir weder den anderen noch uns selbst etwas vormachen. Sie bringt ans Licht, was wir vor den anderen und auch vor uns selbst so gerne verbergen möchten. Sie deckt die Wahrheit unseres Lebens mit allen seinen Verfehlungen und aller Schuld, mit seinen Allmachtsträumen und seinem Versagen, mit seiner Selbstbezogenheit und seiner Gleichgültigkeit auf. Es möchte uns vor aller Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung warnen und bewahren, aber auch vor Selbstherabsetzung, Geringschätzung und Minderwertigkeitsempfinden. Indem das göttliche Gericht Verantwortlichkeit anmahnt und Verantwortungslosigkeit einklagt und dadurch den Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit über sich selbst führt, möchte es uns nicht Angst machen, drohen, die Hölle heiß machen und uns erniedrigen; es möchte gerade das Gegenteil bewirken. Die uns negativ erscheinende Funktion des Gerichtes Gottes hat in Wirklichkeit ganz positive Bedeutung. Darauf weist die Tatsache hin, dass nicht Gott der Herr und Vater als Richter bekannt wird, wie es sich nahe legen würde, sondern Jesus Christus, so fremd und unvereinbar mit seinem Wesen dieses uns zunächst erscheinen mag. Warum bekennt unser christlicher Glaube gerade ihn als den endzeitlichen Richter?

Ausrichtung

Im Menschen Jesus Christus ist Gott selbst zu uns Menschen gekommen und hat das Leben der Menschen kennengelernt und geteilt. So kennt er uns Menschen mit allem, was und wie wir sind und sein möchten, was wir haben und haben möchten. Er kennt unser Wesen, unsere Stärken und unsere Schwächen, unsere guten Vorhaben und unser Versagen, unser Wollen und unsere Unvollkommenheit. Er weiß um unsere Verantwortung – und unsere Schuld. Er hat niemand verurteilt, weder Zachäus, den Betrüger noch die Ehebrecherin, weder die feindlichen Samariter noch den ihn verleugnenden Petrus, sondern hat ihnen vergeben. Denn er ist von Gott nicht in die Welt gesandt worden, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde (Johannes 3, 16). Gerade darum hat er die Verantwortung für uns übernommen und getragen als der an unserer Statt Angeklagte und Verurteilte und am Kreuz Gestorbene. Er ist als Richter der an unserer Stelle Gerichtete, wie das der bedeutende Theologe Karl Barth so treffend und prägnant formuliert hat. Deswegen ist er ein barmherziger Richter. Er richtet Gottes Recht auf, indem er sehr wohl Verantwortungslosigkeit und Schuld beim Namen nennt, aber nicht verurteilt und verdammt, sondern verzeiht und vergibt. Er richtet, indem er uns, die wir uns unserer Schuld und unserem Versagen bewusst sind und darunter leiden, aufrichtet. Er richtet uns, indem er uns zugleich ausrichtet – nämlich auf Gott hin und auf die Bestimmung, die er unserem Leben gegeben hat. Das heißt, dass wir weg sehen sollen von uns selbst und unseren eigenen Interessen hin auf Gottes Willen und Absichten mit uns Menschen. So wie Jesus es uns vorgelebt hat. Paulus drückt das so aus: Darum setzen wir auch unsere Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen (2. Korinther 5, 9).

Gott hat zu uns gesprochen und uns gewürdigt, seine Menschen zu sein. Und Gott hört nicht auf, auch weiterhin zu uns zu sprechen. Gott tut das, damit wir ihm durch unser Leben, durch unser Denken, Reden und Tun entsprechen.

Amen.

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