Hörende Ohren und sehende Augen

Jesus konfrontiert auch uns heute mit seiner Person und mit dem, was in seinen Lehren und Predigten gehört und anhand seiner Taten gesehen werden kann

Predigttext: Matthäus 11,2-6
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 14.12.2008
Kirchenjahr: 3. Sonntag im Advent
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Matthäus 11,2-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

(2) Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger (3) und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? (4) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: (5) Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; (6) und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

Arbeitsübersetzung Heinz Janssen (2008):

(2) Als aber Johannes im Gefängnis von den Taten des Christus/Messias hörte, sandte er (Botschaft) durch seine Jünger/Schüler (3) und ließ ihm sagen (wörtlich: und sagte ihm): Bist du der Kommende oder erwarten wir* einen anderen? (4) Und Jesus antwortete und sagte ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht. (5) Blinde sehen (wieder) und Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein/gesund und Taubstumme bekommen das Evangelium/die gute Botschaft/Nachricht zu hören. (6) Und glücklich ist, wer durch mich nicht zur Sünde verleitet wird**. * prosdokoomen kann grammatikalisch als Konjunktiv (so die gewöhnliche Auffassung) und als Indikativ (so meine Übersetzung) gelesen werden. ** skandalisthae: Jesus spricht hier (vgl. Mat 13,57; 26,31.33) vom Verleitetwerden zur Sünde durch ihn, "indem man ihm den Glauben verweigert od. sich wieder v. ihm abwendet u. so in Sünde fällt" (W. Bauer, WbNT, 5.Aufl., Sp. 1491f.).

Exegetisch-homiletische Hinweise zum Predigttext

Zur Bedeutung des 3.Adventssonntags im Kirchenjahr: Der 3. Adventssonntag steht im Zeichen Johannes des Täufers und seiner heilsgeschichtlichen Verbindung mit Jesus von Nazareth (Mt 11,2-19 vgl. Lk 7,18-35 Q). Zur Abgrenzung der Perikope: Die Beschränkung der Perikope Mt 11,2-6(7-10) auf die Vv.2-6 ist sinnvoll. Mit V.7 weitet sich der Adressatenkreis von Johannes und seinen Jüngern (V.2-6) auf das Volk aus, zu dem Jesus über Johannes und dessen eigentlichen Auftrag redet (V.7-19). Die zweiteilige Rede Jesu (V.2-19.20-30) mündet in den „Heilandsruf“ (V.28-30), der den Erschöpften und Belasteten gilt; dieser korrespondiert inhaltlich mit dem zentralen V.5 unserer Perikope. Zum Aufbau des Predigttextes: Der Aufbau von V.2-6 ist durch die Frage Johannes des Täufers (V.2f.) und die Antwort Jesu (V.4-6) bestimmt. Jesus ruft in V.4 zum Hören (vgl. Mt 5-7) und Sehen (vgl. Mt 8f.) auf (man beachte die Reihenfolge!). Die in V.5 aufgewiesenen Wunder der Heilszeit entsprechen - wenn man die Rede von den Armen (ptochoi) epexegetisch versteht - ganz den in Mt 8f. geschilderten messianischen Wundertaten Jesu (ta erga tou Christou 11,2). Zu beachten sind hier die aus dem Jesajabuch der hebräischen bzw. griechischen Bibel aufgenommenen Wendungen, mit denen Jesus auf das Evangelium (!) im „Alten“(!) Testament zurückgreift und es mit seinem Auftrag und Handeln verbindet: Jes 29,18f.; 35,5.6; 42,18; 61,1. Zum Inhalt der Perikope: Die Advents-Perikope, in der sich wie im ganzen Kapitel auch die Auseinandersetzung zwischen Täufer- und Jesusgemeinde spiegelt, ist von der brennenden Frage bewegt, wer der sehnlichst erwartete Christus/Messias ist. Es ist die Frage nach einer „not-wendigen“ heilvollen Zukunft, die zu den elementarsten Glaubens- und Lebensfragen gehört. In Jesu Handeln leuchtet die von den Propheten, besonders von Jesaja (s. o.) angekündigte Heilszeit auf. Weil Zeichen nie eindeutig sind, bleiben Jesu Taten dem Anstoß, dem Zweifel und der Ablehnung ausgesetzt. Darum wartet Jesus mit seinen Worten und Taten auf die Antwort des Menschen und ruft ihm zu, sich dem von ihm verkündigten Evangelium für die Armen (ptochoi euangelizontai V.5) nicht zu verschließen: „Glücklich ist, wer durch mich nicht zur Sünde verleitet wird (skandalisthae)“. Zur Predigtgestaltung: Die in die Predigt eingebundenen (Orgel-)Choräle nehmen Gedanken der Predigt auf. Literatur: G. Friedrich, Art. euangelizomai im NT, in: THWNT II, 1935 (= 1954), S.714-718.- A. Schlatter, Der Evangelist Matthäus, 1948 = 51959, S.357-362.- E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, 1976, S.165-178.- U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17), EKK I/2, 1990, S.162-170).

Gebete

Kyriegebet: Ohren gabst du mir, hören kann ich nicht: der du Taube heilst, Gott, erbarm dich mein. Augen gabst du mir, sehen kann ich nicht: der du Blinde heilst, Gott, erbarm dich mein. Hände gabst du mir, schaffen kann ich nicht: der du Lahme heilst, Gott, erbarm dich mein. Leben gabst du mir, glauben kann ich nicht: der du Tote rufst, Gott, erbarm dich mein. (P. E. Ruppel, EG 236) Tagesgebet: Gott, wir fragen aus dem Dunkel nach Sinn und Ziel unseres Lebens. Wir bitten dich: gib uns hörende Ohren und sehende Augen. Mache unser Herz weit, dass wir dich erkennen und es hell wird durch deine Nähe in Jesus, deinem Christus, unserem Herrn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Nach: Kollektengebete aus dem Lateinischen übersetzt und frei nachgestaltet von Martha Hintze, Berlin 1977, S. 15) Fürbitten (nach PC-Agende der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck) Gott, wenn du bei uns einziehst, verwandelt sich unsere Welt. Wenn du uns erleuchtest, weicht unsere Beklommenheit. Wenn deine Liebe uns anrührt, schwindet unsere Angst. Wir danken dir und bitten (EG 178.9): Kyrie eleison Richte neu die Hoffnung auf, wenn Enttäuschungen uns niederdrücken. Lass wieder Vertrauen wachsen, wenn Zweifel uns lähmt. Wenn wir unser Recht fordern, erinnere uns an das Recht der anderen. Lehre uns Sinn und Ziel bedenken bei allem, was wir vorhaben. Wir bitten: Kyrie eleison Wir bitten für die Welt, in der wir leben: Wecke überall die Gewissen auf durch dein Wort. Gib den Verantwortlichen Einsicht, dass sie das Wohl der Menschen und dieser Welt im Auge behalten. Lass die Bedrohten unter uns Schutz und die Bedürftigen Hilfe finden. Wir bitten: Kyrie eleison Deinen Geist lass wirksam sein in den Entscheidungen unserer Kirchen, in allem, was da gedacht, gesagt und getan wird, dass wir zusammenfinden und deinem Kommen vertrauen. Wir bitten: Kyrie eleison. Lieder: „Wir sagen euch an den lieben Advent“ (EG 17,3), „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (7,1-4) 11,1+3+5 („Wie soll ich dich empfangen“ (11,1+3+5) „Gott sei Dank“ (12,2+4) „Seht, die gute Zeit ist nah“ (18,1)

zurück zum Textanfang

Predigt

Liebe Gemeinde!

„Bist du es?“ – Wir kennen diese Frage. Wenn wir überraschend einem Menschen begegnen, den wir schon lange Zeit nicht gesehen haben. Wenn wir zweifelnd fragen: „Bist du es wirklich?“ Wenn sich ein geheimer Wunsch nach Begegnung unerwartet erfüllt hat: „Bist du es, auf den ich schon so lange gewartet habe?“ Gespanntes Warten auf eine Antwort! – Voll gespannter Erwartung müssen wir uns auch Johannes den Täufer vorstellen. Er hatte sich in die Wüste von Judäa zurückgezogen, dort lehrte und predigte er voller Eifer. Aus Jerusalem, Judäa und der Jordangegend kamen die Menschen zu ihm. Seine Predigten müssen sie aufgerüttelt haben. Viele seiner Hörer und Hörerinnen ließen sich daraufhin im Jordan von ihm taufen. Hatte Johannes mit seinen Predigten in ihnen die Sehnsucht nach einem Leben geweckt, das gute Früchte bringt, und die Hoffnung geweckt, dass sie selbst dazu etwas beitragen können? Johannes wurde für diese Menschen so etwas wie ein Hoffnungsträger. Die einen sahen in ihm den schon lange erwarteten Retter in der Not, den Gott geschickt hat, den Messias, andere den wiederkommenden Propheten Elia. Johannes dagegen sah sich gerade nicht als der Erwartete, sondern als ebenfalls Wartenden. Er verstand sich als „Rufer in der Wüste“.

Von diesem Warten auf Gottes baldiges Eingreifen war Johannes regelrecht durchglüht und mit ihm seine Jünger und viele im jüdischen Volk, die nur noch auf Gott allein ihre Hoffnung setzten. Die Menschen lebten in schlechten, bedrängenden Zeiten. Wenn sich doch der Himmel öffnen und Gott endlich für alle sichtbar zu uns kommen würde! Die Menschen suchten nach Zeichen für sein Kommen. Gab es diese schon, vielleicht in bereits geschehenen Wundern, die sie als solche nicht wahrnahmen, oder in Gestalt eines Menschen, in dem Gottes Advent aufleuchtete? Aber wer gibt den Menschen ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge? Wer konnte diese Gestalt sein? Nicht wenige traten damals im Namen Gottes mit dem Anspruch auf, von Gott zu Höherem berufen zu sein. Bis heute gibt es sie, jene anderen Gestalten, die den sich nach Hilfe sehnenden Menschen den Himmel auf Erden versprechen, aber nicht vom Himmel kommen und sich als Scharlatane erweisen.

„O Heiland, reiß die Himmel auf“ – Orgelchoral zu EG 7,1

„Bist du es?“ – Mit wieviel Hoffnung, vielleicht auch zweifelnder Unsicherheit, muss ein Mensch erfüllt sein, der so fragt. Johannes ließ damals Jesus durch seine Jünger fragen: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Waren es Zweifel, die Johannes plötzlich überkamen, weil jener Galiläer so gar nichts äußerlich Machtvolles an sich hatte und nicht einmal seinen Boten vor dem Kerker bewahren konnte? Oder wuchs in ihm, seit Jesus sich von ihm hat taufen lassen, allmählich die Gewissheit, dass dieser Jesus tatsächlich der lang ersehnte Christus Gottes, der Messias, ist? Unsicherheit, Vorsicht, ein gesundes Misstrauen finden doch auch unser vollstes Verständnis. Was gibt Sicherheit, damals eine Frage genauso wie heute.

„Bist du es?“ – Der Ort, an dem Johannes diese Frage umtrieb, war ein Gefängnis. Der gefürchtete König Herodes hatte ihn unschuldig verurteilt und dorthin bringen lassen. Wie weggeschlossen war Johannes dort. Aber hinter den scheinbar undurchdringbaren Mauern hörte Johannes immer mehr von Jesus. Das so fest verriegelte Gefängnis, diese von Menschen aufgerichteten Mauern, die unüberwindbar sein sollten, konnten die Kunde von Jesu Wirken nicht abhalten. Durch seine Jünger hatte Johannes Verbindung nach draußen, legal oder im Geheimen. Es zeigte sich: Was gut ist und gut tut, lässt sich nicht aussperren. Eine große Hoffnung auch für unsere Zeit.

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Diese Johannes so bewegende Frage nach der Bedeutung Jesu kann heute lauten: Gab es Jesus überhaupt? Wenn ja, soll ich an ihn glauben – und wie? Die Frage beschäftigt uns Menschen immer wieder und wartet auf Antwort.

„Wie soll ich dich empfangen“ – Orgelchoral zu EG 11,1

„Bist du es?“ – Die Antwort Jesu auf die Johannesfrage überrascht. Kein „Ja, ich bin es“ oder „Nein, ich bin es nicht“. Stattdessen eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger bekannten Bibelsprüchen, die ganz überwiegend aus der Verkündigung des Propheten Jesaja stammen: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt“. Ungewöhnlich neu allerdings im Munde Jesu war die Rede von der Aussätzigenheilung und der Totenauferstehung. Hat Jesus in Anknüpfung an die prophetische Botschaft auf das verwiesen, was die Jünger und eigentlich alle schon hören und sehen konnten, seine aufrichtende Botschaft, seine heilenden Taten? So sieht es der Evangelist Lukas; dieser betont im Unterschied zu Matthäus, dass Jesus gerade zu der Stunde viele Menschen heilte, als die Johannesjünger zu ihm kamen und ihn fragten. Die Jünger ihn also – gleichsam als Antwort in Person – erlebten.

Jesus erreicht mit seinen Worten und Taten Menschen, welche sich wie weggesperrt erleben. Ihre Lebenssituationen sind mit der des Johannes vergleichbar, ihr Lebensschicksal umgibt sie wie ein Gefängnis. Blinden öffnet Jesus die Augen – im eigentlichen und übertragen Sinn. Er ermutigt sie, aufzuschauen und sich dem Leben wieder zuzuwenden, hilft ihnen zu einer ganz neuen Sicht, nämlich mit dem Herzen in die Weite und Tiefe zu sehen. Lahme in ihrem Gefängnis der Bewegungslosigkeit erleben ihre Befreiung und können wieder gehen. Für Aussätzige, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt und wie Gottverlassene gemieden werden, öffnet sich das Gefängnis der Verachtung. Taube machen die Erfahrung, wie die sie umgebenden Mauern des Schweigens fallen. Tote, die in der Kälte der Beziehungslosigkeit erstarrt und gefangen sind, stehen wieder auf in das Leben. Sie alle gehören zu den Armen, den im Leben zu kurz gekommenen Menschen. Damals und heute verspricht Jesus ihnen den größten Schatz: „Armen wird das Evangelium gepredigt“, es gilt ihnen. Heißt das: Für die Reichen die Zukunft, und für die Armen vertröstende Worte? Nein. Denn was die Armen als gute Nachricht hören, soll sich für sie auswirken, sie aufrichten und verändern, soll heilsam in ihrer Lebenssituation sein. Gott hat sie nicht vergessen. Neues Leben kann sich Bahn brechen.

„Sei willkommen, o mein Heil“ – Orgelchoral zu EG 12,4

„Bist du es?“ – Jesus sagte nicht Ja und nicht Nein. Er konfrontierte die nach ihm Fragenden mit seiner Person und mit dem, was sie in seinen Lehren und Predigten hören und anhand seiner Taten sehen konnten. Es ist in alledem sein Rufen zum Glauben an den kommenden Gott. Gott will mit uns in eine heilvolle Zukunft gehen. Bei ihm ist nichts unmöglich. Im Licht seines Advents sind Besinnung und neue Wege möglich. „Bist du es?“ Ermutigen wir einander, das erwartungsvolle Fragen nach diesem Gott und der Art und Weise seines Mit-uns-seins durch Christus nicht aufzugeben. Die Antwort gilt es hörend zu suchen und sehend zu erfassen.

Was hören wir, und was sehen wir heute? Wir hören das Evangelium und erleben, wie es den einen Menschen anspricht und bewegt, ihm eine neue Perspektive, neuen „Durchblick“, gibt, und wie es den anderen unberührt oder sogar Anstoß daran nehmen lässt. Wir sind in unserem Privatleben ebenso angefragt wie im gesellschaftlichen Leben: Wie halten wir es mit anderen Kulturen und Religionen, die uns immer näher rücken? Wie sehen wir unsere Verantwortung in der drohenden Weltwirtschaftskrise und/ oder der Gefahr einer Klimakatastrophe und angesichts des Hungers und der Gewalt in der Welt? Zu welchem Dialog und Handeln sind wir bereit? – Darum der Ausruf Jesu, den er an seine Antwort fügt: „Selig, wer sich nicht an mir ärgert“. Gut, wenn du begreifst: Du musst die Zeichen, die Jesus in Wort und Tat setzte, selbst erkennen. Sie fordern deine ganze Person mit Herz und allen Sinnen, dein empfindsames Hören und waches Sehen. So öffnen wir uns ihm und dem Evangelium, das er zu uns brachte, es vorlebte und mit so viel Leben erfüllte. Wir erinnern uns heute an diesem dritten Adventssonntag an Johannes den Täufer, der in uns die Christus-/Messias-Frage – „Bist du es, der da kommen soll…? – wachhält und mit dem wir Gott um ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge bitten. Denn, so steht es in der Bibel geschrieben (Sprüche 20,12): „Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide Gott“.

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.