Advent als Abenteuer an Begegnung
„1800 Jahre Christentum liegen hinter uns, und die Unterschiede derer, die in Seide und derer, die auf Stroh liegen, haben nicht aufgehört…“ (F. Naumann)
Predigttext: Lukas 1,46-55 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
46 Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, 47 und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; 48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. 49 Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. 50 Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht bei denen, die ihn fürchten. 51 Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. 52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. 53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen. 54 Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, 55 wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.Exegetische (1.) und homiletische (2.) Hinweise zum Predigttext
1. Nach der lukanischen Einteilung der Geschichte in drei Epochen, 1.Epoche = Zeit Israels, des Gesetzes und der Propheten (bis Lk 4,13), 2. Epoche = Jesuszeit, die Mitte der Zeit (ab 4,14) und 3.Epoche = Zeit der Kirche (ab Apg 2,1), gehört der Lobgesang der Maria zur 1.Epoche, der Zeit der Propheten. Damit zählt das Magnificat auch nach formalen Gesichtspunkten des lukanischen Evangeliumsaufbaus zu den prophetischen Worten. Das zeigt sich dann auch in der Auslegungsgeschichte des Magnificats. Thomas Müntzer (Politische Schriften) sah sofort einen Bezug zu seiner Gegenwart und deutete den Bibeltext politisch. Gott werde eingreifen und die Mächtigen vom Thron stürzen, weil sie diesen einfachen Glauben, wie ihn Maria hat, verhindern und unterdrücken. Ebenso Martin Luther, der die Kurfürsten ermahnt, „radschleg und regiment ...“ fließen zu lassen aus „vornunfft, gutte meynung odder gut dunckel“. Das alles kann nur die im christlichen Glauben geschenkte Erkenntnis bewirken. (Luthers Auslegung des Magnificat 1520/21). Zitieren möchte ich noch aus einer Andacht Friedrich Naumanns (Ende des 19.Jh.): „1800 Jahre Christentum liegen hinter uns, und die Unterschiede derer, die in Seide und derer, die auf Stroh liegen, haben nicht aufgehört. Herr Jesus, wozu bist du eigentlich gekommen?“ Diese Beobachtung und diese Frage ist bis heute nicht erledigt. Maria freut sich an Gott u.a. auch darum, weil Gott „die Niedrigkeit (hae tapeinosis) seiner Magd angesehen hat - und wohl auch aller anderen Erniedrigten und Beleidigten. So hat nun „seine Stelle bei Gott das menschliche Geschlecht“, wie es am Ende des Bach´schen Weihnachtsoratoriums heißt. Was das dann bedeutet, ist bis heute nicht ausbuchstabiert. Revolution oder gemäßigte Sozialpolitik, Hilfe durch Spenden an mildtätige Vereine? Auf keinen Fall bedeutet es Vertröstung auf ein besseres Jenseits. Das Magnificat ist Prophetie und Verheißung bis heute. Es bringt menschheitsgeschichtliche Anliegen auf den Punkt, gesungen von dem einfachen Mädchen aus dem Volk, Maria. Hier verstehe ich die Marienverehrenden aller Zeiten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat das Magnificat als Inspirationsquelle genommen, und die Bauern in Cardenals Nicaragua haben es als Talisman mit sich getragen. 2. Der/die Prediger/in wird sich vor einer Verklärung der tapeinosis hüten müssen. Sie darf nicht zum Programm gemacht werden, zu einer Selbstbestätigung der Erniedrigten und Beleidigten, zu einer „Moral des Ressentiments“(Nietzsche). So ist wohl auch aus der tapeinosis die humilitas geworden, fast schon eine christliche Tugend, die aber mit Herrschsucht eine ungenießbare Mischung ergibt und oft mit wirklicher Demut verwechselt worden ist. Wer in Marias Gesang die Revolutionsbegründung mit hochgestochenen sozialpolitischen Zielen sieht, wird in Resignation führen. Luise Rinser schildert die Niedrigkeit, ohne rührseliges Engagement zu fordern. „Ganz eindeutig ist der Fall des Alten vor dem Hotel Santa Prisca. Er bettelt zwar auch nicht, streckt keine Hand aus, sagt kein Wort, hält keinen Hut mit der Öffnung nach oben, er steht oder hockt nur da mit glasigen Augen, mümmelt Brotkrümel aus der Hosentasche und wartet. Fremde aus dem Hotel geben ihm etwas, Einheimische nie, sie wissen, er versäuft es ja doch nur, aber warum soll er´s nicht versaufen, was soll er denn sonst tun im Leben, wie soll er es denn bestehen, und wer sagt denn, daß der Mensch nicht saufen soll, wenn er traurig ist, da doch der große Thomas von Aquin rät, man soll heiße Bäder nehmen gegen die Schwermut, oder sich unterhalten, oder weinen, wenn´s geht, warum nicht auch trinken, es ist besser als morden, besser als ehebrechen, als ehrabschneiden, und wer sagt denn, daß der Mensch nur etwas gilt in der Schöpfung, wenn er sie verändern will, tätig ist, tüchtig ist, sozial ist; darf es, muß es nicht auch die andern geben, solche, die nichts tun, die aufgehört haben sich wichtig zu machen, die auf Geld und Gut pfeifen, für die die Ehre die Ehre ist, weiter nichts, und die auf ihre Weise Gott beim Wort nehmen, daß er seine Geschöpfe nicht verlasse, auch die nicht, die weder säen noch ernten?“ (L. Rinser, Septembertag, S. Fischer-Verlag, 1967) Der Grundton der Predigt müsste das Jauchzen, Frohlocken auch oder gerade in die menschliche Niedrigkeit bringen, in der Überzeugung, dass Gott der Schöpfer jedes Menschen ist und wir alle seine Kinder, unabhängig von unserem Status in der Gesellschaft. Wenn sich das herumspräche, das wäre ein Advent! Ein Advent als adventure, aventure, als ein Abenteuer an Begegnung, von dem man nicht weiß, wie es ausgeht.Predigt
Liebe Gemeinde!
Begegnung
Zwei schwangere Frauen, Elisabeth und Maria, begegnen einander – die eine schon älter und überraschenderweise in „anderen Umständen“, die andere ein junges Mädchen, unverheiratet, eigentlich auch unerwartet und wohl auch ungewollt schwanger. Elisabeth beglückwünscht die Junge, die Mutter des Messias zu sein. Da bricht Maria in diesen Lobgesang aus. „Magnificat anima mea Dominum“, wie es in der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, heißt und berühmt geworden ist.
Mütter zweier Hoffnungsträger
Aber was ist das für ein Lobgesang, der mit einer Drohung endet? Ein Lobgesang, der die russischen Zaren in Schrecken versetzt haben soll, ein Text, von dem der nikaraguanische Priester und Poet Ernesto Cardenal schreibt, dass das Volk in Nikaragua das Magnificat oft und gern gebetet hat als sein Lieblingsgebet, und oft trugen die Bauern dieses Gebet wie ein Amulett stets bei sich. Was mag ihnen an diesem Lobgesang des armen Mädchens Maria im Palästina des ersten Jahrhunderts gefallen haben? Zwei einfache Frauen aus dem Volk, beide schwanger, besuchen einander und reden miteinander. Eine Situation, in die sich jeder Mensch hineinversetzen kann, einfach, schlicht, klar. Der Lobgesang der Maria ist ebenfalls so einfach, schlicht und anrührend, dass die mächtigen Zaren zitterten und die armen Bauern in Nikaragua in Maria ihre Fürsprecherin fanden. Sie gab ihnen Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben, auf Ansehen bei Gott und Mensch, bei dem Gott, der Marias Niedrigkeit angesehen und sie nicht verschmäht hat, sie zur Christusträgerin gemacht hat. Die beiden einfachen Frauen, Elisabeth und Maria, sind für wert geachtet worden, die Mütter zweier Hoffnungsträger zu werden. So stellt es der Evangelist Lukas dar, wie Gott ohne Ansehen der Person handelt.
Veränderung
Bei Gott entscheidet nicht die Herkunft über die Zukunft, sogar bestehende Herrschaftsverhältnisse sind änderbar. Er holt die Großen von ihrem hohen Roß. Herunter. Das haben wir erlebt. Lenin, Stalin, Hitler, Ulbricht, Honecker – sie hatten alle Macht, aber auch sie sind untergegangen, man hat sie begraben und mit ihnen die Angst und das Elend, das sie verursacht haben. Die Kleinen, die Mühseligen, die Beladenen, die Erniedrigten und Beleidigten, die Geknechteten und Verlassenen, alle, die zu Marias Welt gehören, werden von Gott in ihre Rechte eingesetzt, sie werden an der Krippe des Heilands ihren Platz finden. Das ist Prophetie, wie wir sie von den alttestamentlichen Propheten kennen.
Ansehen
Auch Maria erwartet das Heil allein von Gott. Sie ruft zu keiner Revolution auf, aber sie verschweigt auch nicht, wo ihre Hoffnungen ruhen: Gott kann bestehende Herrschaftsverhältnisse ändern, wenn sie den Menschen nicht mehr helfen, menschenwürdig zu leben. Die erwartende Maria weiß, dass sie bei Gott Ansehen hat. Ob wir die letzte Woche im Advent 2008 solches Ansehen untereinander bemerken? Wir müssen es uns dann nicht mühsam mit vielen guten Ideen und Anstrengungen erkämpfen. Gerade die Adventszeit ist voll von Bemühungen umeinander: Karten schreiben, Besuche machen, Geschenke besorgen, gute Musik hören, wieder mal in die Kirche gehen…Warum? Bei Gott haben wir das Ansehen schon, was wir uns gern mit atemlosen Aktionen verschaffen möchten. Magnificat anima mea Dominum. Meine Seele macht groß, was sie von Gott weiß. Es ist so etwas wie die magna carta des Glaubens. Es geht ums Anfachen des kleinen Glaubenslichtes, bis mit dem Kommen Jesu das Gotteslicht ganz hell strahlt bei mir und anderen.
Amen.