Hier ist noch Platz für viele
Symbol der Zeitenwende - Mit Jesu Kommen bricht die neue, die endgültige Zeit an
Predigttext: Lukas 2,15-20 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
15 Und als die Engel von ihnen wieder gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. 16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.Vorbemerkungen zum Predigttext
1) Zum Forschungsstand im Blick auf Lk. 2,1-20 unterrichtet gut Hans Klein, Das Lukasevangelium (KEK Bd. I/3 – 10. Auflage), Göttingen 2006, S. 126-141. Die Perikope geht ursprünglich von einer als „Legitimierungsgeschichte der Jesusbewegung“ dienende „Personallegende“ aus, in der die Ärmlichkeit als Zeichen für die Geburt des Retters durch den Engel gedeutet wird. V.15-20: Die Hirten werden als Typen der Missionare, „Maria als Typus derjenigen Christen gezeichnet, die die Botschaft annehmen und sich durch sie wandeln, die zwar nicht aktiv die Botschaft weitergeben, aber ihr Wesen durch diese Botschaft von innen her verändern lassen“ (ebd. 141). 2) Auch in diesem Jahr werden z. B. Zeitschriften wie „Spiegel“ und „Stern“ wieder genügend „historisch-kritische Aufklärungsarbeit“ leisten, vielleicht auch „Wissen“ gegen „Glauben“ ausspielen. Demgegenüber gilt es, zwischen „Realität“ und „empirischer Wirklichkeit“ zu unterscheiden! „Realität“ ist mehr als „empirische Wirklichkeit“, wozu auch das „Historische“ gehört. Sie ist mehr als das, was man messen und wiegen kann. Zur „Realität“ gehört auch der biblische Gott! 3) Der „Predigteinfall“ geht auf ein Erlebnisbild zurück, das aber verallgemeinerungs- und zitierfähig ist.Predigt
Liebe Gemeinde!
Erinnerungen
Diese Hirten sind von der Botschaft der Engel fasziniert! Ohne Wenn und Aber machen sie sich auf den Weg. Sie erzählen weiter, was sie von den Engeln gehört haben. Andere werden dadurch angesteckt: Sie machen es Maria nach, die alle diese Worte in ihrem Herzen bewegt. Darum sind auch wir heute zusammengekommen. Gerade die Weihnachtsgeschichte weckt auch Erinnerungen! Ich denke an zu Hause zurück: Wir waren eine typische Volksschullehrerfamilie in einem Dorf im Taunus. Bei der Bescherung spielte mein Vater Geige. Mein Bruder und ich mußten Gedichte, später auch die Weihnachtsgeschichte aufsagen. Als ich 6 Jahre alt war, geschah es: Mein Blick fiel auf den Gabentisch. Da stand doch – die Abdeckung war ein wenig weggerutscht – eine Eisenbahn! Sie war längst nicht so modellgetreu wie heute etwa die Märklin-Modelle. Die Lokomotive mußte noch mit der Hand aufgezogen werden. Die Schienen aus dünnem Blech verbogen sich leicht und brachten das Gefährt häufig zum Entgleisen. Sei’s drum! Es war eine Eisenbahn! Und die faszinierte mich. Hat es Weihnachten nur äußerlich mit der Eisenbahn zu tun? Christi Geburt ist für uns – bis in unsere Alltagssprache und Zeitrechnung hinein – das Symbol der Zeitenwende („vor“ und „nach“ Christi Geburt), das Signal des Anbruchs einer neuen Zeit. „Als das Maß der Zeit voll war, sandte Gott seinen Sohn“: So sagt es der Apostel Paulus (Gal. 4,4). Das heißt doch: Mit Jesu Kommen bricht die neue, die endgültige Zeit an.
So lange ist es aber noch nicht her, da las man die Weihnachtsgeschichte offenbar auch anders. Da war gerade die Eisenbahn das Symbol für den Anbruch der neuen Zeit! Die Dampflokomotive zog fast religiöse Gefühle auf sich. 1843 schrieb Heinrich Heine: „Mit der Eisenbahn beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generation darf sich rühmen, daß sie dabei gewesen.“ Friedrich List legte 1878 noch einen Zahn zu: „Durch die neuen Transportmittel wird der Mensch ein unendlich glücklicheres, vermögenderes, vollkommeneres Wesen.“ Es entsteht ein neuer Kult mit neuen Kultbauten: Der Bahnhof wird zum Tempel! Ein Zitat: „Bahnhöfe sind die schönsten Kirchen der Welt, in denen sich die Religion des Jahrhunderts entfaltet: die Religion der Eisenbahn“. Wenn ich mir da den renovierten Darmstädter Hauptbahnhof (ähnlich Wiesbaden, Frankfurt/M., Helsinki) unter diesem Gesichtspunkt anschaue: In der Tat wurden Kirchen- und Bahnhofskuppeln einander angeglichen. Solche Kuppeln sind so etwas wie ein Ersatzhimmel! Man denke nur an die Barockkuppeln.
Fragwürdige Fortschrittsreligion
Noch einen Schritt weiter! Das Reich Gottes hat es auch mit der Gleichheit der Menschen zu tun. Mit der Eisenbahn wurde damals auch ein gleichmacherischer Moment verbunden. Ein Schweizer Wochenblatt vermerkte: „Selbst der Kaiser von Rußland vermag sich vor den Handwerksgesellen mit spärlichem Wochenlohn durch Schnellreisen nicht mehr auszuzeichnen“. Schließlich brachte der liberale protestantische Theologe Richard Rothe die „Religion der Eisenbahn“ auf den Punkt: „Ich lebe in der festen Überzeugung, daß die Erfindung der Dampfwagen und der Schienenbahnen dem Reiche Christi eine weit bedeutendere positive Förderung geleistet hat als die Ausklügelung der Dogmen von Nicäa und Chalcedon“. „Nicäa“: Das meint die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes! Mit „Chalcedon“ ist die Zwei-Naturen-Lehre Jesu, dieses „wahrer Gott und wahrer Mensch“ gemeint. Für die Fortschrittsreligion Richard Rothes war die Erfindung der Eisenbahn wichtiger als die beiden Grundpfeiler des christlichen Glaubens. Die Technik als die erlösende Macht, die Eisenbahn als ihre Krippe: Das ist das „Evangelium“ des „Eisernen Zeitalters“! Dem wurde freilich auch widersprochen! Um 1845 verbot Papst Gregor IX. den Priestern, die Absolution denen zu erteilen, die ihr Leben auf diesen „Teufelsmaschinen“ (gemeint war die Eisenbahn!) riskierten, welche die „Naturgesetze“ über die Geschwindigkeit verletzten. Was hier als „Naturgesetz“ galt, das bestimmte damals die Geschwindigkeit eines Pferdes. Auf evangelischer Seite kommentierte im Blick auf die Eisenbahn die Stuttgarterin Charlotte Reihlen in dem von ihr in Auftrag gegebenen Bild „Der breite und der schmale Weg“ Jesu Wort aus Matthäus 7,13-14 so: Auf der linken Seite des Bildes, die den breiten, ins Verderben führenden Weg abbildet, findet sich oben glutrot das Jüngste Gericht. Und genau in dieses hinein fährt ein Eisenbahnzug! Etwas plakativ ausgedrückt: Für die einen hat es die Eisenbahn mit der Himmelfahrt, für die anderen mit der Höllenfahrt Jesu zu tun. Heute überwiegen in unserer veröffentlichten Meinung – und darin unterscheiden wir uns vom 19. Jahrhundert – eher depressive Gefühle und Stimmungen im Blick auf unsere durch die Technik (z. B. Atomstrom, Umwelt) bestimmte Zivilisation. Gleichzeitig verspricht man sich aber das Heil von „Bildung“.
Weihnachten hat viele Gesichter
Weihnachten, so sagt es Lukas, fasziniert! Davon ließen sich diese Hirten auf dem Feld bei Bethlehem anstecken. Maria bewegte, meditierte diese Worte in ihrem Herzen. Aber nicht nur sie! Die „Wolke der Zeugen“ ist groß. Weihnachten hat viele Gesichter. Trotz mancher Auswüchse: Freuen wir uns über diesen Reichtum! Schauen wir einmal Martin Luther beim Auslegen der Bibel über die Schulter! „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“: So schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief (Gal. 2,20). Luther legt das so aus: „Der Glaube macht aus Dir und Christus gleichsam eine Person, so daß Du von Christus nicht geschieden werden magst, vielmehr ihm anhangest“ (WA 40 I S. 285). Das ist ein Spitzensatz („high light“) über das Einssein des Glaubenden mit Christus, mit diesem Kind in der Krippe in Bethlehem. „Der Glaube macht aus Dir und Christus gleichsam eine Person“: Luther bedenkt das auch in seinem Weihnachtslied: „Vom Himmel hoch da komm ich her“ weiter: „Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein, zu ruhen in meins Herzens Schrein, daß ich nimmer vergesse dein“ (EG 24,13). Unser Herz als Krippe Jesu! Ähnlich singt Paul Gerhardt in seinem Lied: „Ich steh an deiner Krippen hier“: „Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen: daß ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen. So laß mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden!“ „Der Glaube macht aus Dir und Christus gleichsam eine Person“: Hier geht es nicht um ein mysteriöses und distanzloses Verschmelzen von Personen, bei dem eine in der anderen aufgeht. Vielmehr ist dies gemeint: Das Kind in der Krippe gestattet uns, den heillosen Menschen, daß wir uns im Glauben mit ihm als dem Menschen des Heils identifizieren. Und umgekehrt identifiziert sich dieses Kind in der Krippe mit uns Sündern und nimmt am Kreuz den Tod der Heillosen auf sich. Der „Christus außerhalb von uns“ („Christus extra nos“) und der „Christus in uns“ („Christus in nobis“): sie gehören untrennbar zusammen, ohne ineinander aufzugehen. Es gilt das „unvermischt und ungetrennt“.
Schlagen wir noch in dem wohl bekanntesten evangelischen Erbauungsbuch um 1600 nach! Der Verfasser der „Vier Bücher vom wahren Christentum“, der Lüneburger Generalsuperintendent (= Bischof) Johann Arndt, hat um 1610 Weihnachten so in seinem Herzen bewegt: „Gleichwie der Mensch durch den Abfall von Gott seine angeschaffene Vollkommenheit verloren hat: Also muß er durch die Vereinigung mit Gott wieder zu seiner vollkommenen Ruhe und Seligkeit kommen. Denn des Menschen Vollkommenheit stehet in der Vereinigung mit Gott. Darum mußte Gottes Sohn Mensch werden, auf daß die menschliche Natur wieder mit Gott vereinigt würde und also wieder zu ihrer Vollkommenheit gebracht würde. Denn gleichwie die göttliche und die menschliche Natur in Christo persönlich vereinigt ist: Also müssen wir alle mit Christo durch den Glauben aus Gnaden vereinigt werden.“ Soweit Johann Arndt, der uns aber noch einen praktischen Vorschlag mit auf den Weg gibt: „Ein Christ soll zum wenigsten des Tages einmal von allen äußerlichen Dingen sich abwenden und in den Grund seines Herzens einkehren. So wird die Seele Gott nahe. So zieht sie Gott in sich. Da empfindet die Seele ihre rechte Ruhe, ihre rechte Speise, ihr rechtes Leben.“ Hier kommt die Mystik zu Wort. Für uns ist ihre Sprache eher der Poesie benachbart und weniger der (empirisch faßbaren) Wirklichkeit. Uns ist die Sprache der Mystik weithin fremd geworden. Wir verstehen uns eher auf die Sprache der Technik. Wer sagt uns aber, daß die Sprache der Technik „wahrer“ ist als die Sprache der Poesie? Läßt sich das für uns Entscheidende wie z. B. Liebe, Nähe und Geborgenheit wirklich in der Sprache der Technik adäquat ausdrücken?
Noch einmal zurück zur Eisenbahn! Da stellt sich ein Negersklave seine Reise in den Himmel wie die Fahrt in einem Pullmann-Wagen vor. Das technische Bild eines schönen Eisenbahnwagens wird für ihn durchsichtig auf die Welt Gottes hin. Diese Reise ist für ihn mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Freude verbunden, wie sie auch in dem Spiritual „Swing low, sweet chariot, Coming for to carry me home“ zum Ausdruck kommt: „Schwing sanft, geliebter Wagen, komm, mich heimzutragen.“ Und in dem Spiritual „The Gospel Train“ (Der Evangeliums-Zug) heißt es:
„Bald werden wir die Station erreichen.
O, wie werden wir dann singen
Mit dem ganzen Himmelsheer,
Wir werden den Himmel zum Klingen bringen.
Wir werden jubeln nach all unserem Kummer
Und singen in alle Ewigkeit,
Mit Christus und seinem ganzen Heer
An jenem himmlischen Ufer.
Einsteigen, Kinder!
Hier ist noch Platz für viele!“
Ich meine: Auch das ist eine schöne Übersetzung der Weihnachtsbotschaft!
Amen.