Menschgewordene Gnade
Ein Neuanfang im persönlichen und gesellschaftlichen Leben ist möglich, weil uns Gottes im Heute wirksame Gnade dazu an jedem neuen Tag ermutigt
Predigttext: Lukas 4,16-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
15 Und er lehrte in ihren Synagogen und wurde von jedermann gepriesen. 16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht : 18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, 19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« 20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.Exegetische und homiletische Hinweise zum Predigttext
Jesu erste Predigt über einen Prophetentext (Jes 61,1.2a) in der Synagoge zu Nazareth ist in den wahrscheinlich vorlukanischen Zusammenhang Lk 4,15-30 eingebettet (J. Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums…, KEK, Sb., Göttingen 1980; S.119-128). Dieser Kontext (vgl. Mt 13,53-58; Mk 6,1-6) ist für das Verständnis unserer Perikope wichtig, weil er die Ablehnung veranschaulicht, auf welche das Evangelium (V.18 mit Zit. aus Jes 58,6!) bei den Menschen der Heimatstadt Jesu stieß. Die enttäuschende und zuletzt bittere Erfahrung Jesu (V.24) darf bei der Beschränkung auf die V.16-21 nicht unberücksichtigt bleiben. Darum empfiehlt es sich, V.22 noch mit vorzulesen. In Anbetracht des besonderen Kasus des Neujahrstags (vgl. Lk 2,21) konzentriere ich mich auf die Botschaft vom „Gnadenjahr“ (V.19) und ihre überraschende, zum Glauben rufende Deutung durch Jesus (V.21; vgl. Mk 1,15 und E. Schweizer, NTD 3, Göttingen 1982, z. St.), zumal dieses Stichwort des Bibeltextes im mehr assoziativen Sinn ausschlaggebend für die Wahl der Perikope gewesen sein dürfte. Nach dem Gottesdienst möchte ich zu einem kleinen Neujahrsempfang der Gemeinde einladen – für manche vielleicht eine Chance des Neuanfangs für gemeinsame „Gnadenwege“. Lieder: „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist“ (EG 277) „Vertraut den neuen Wegen“ (EG 395) „Bewahre uns, Gott“ (EG 171)Neujahrssegen
(Die versammelte Gemeinde kann sich diesen Segen Hand in Hand zusprechen.) Gott sei dir nahe auf den Wegen im Neuen Jahr, umarme dich in Freude und Schmerz und lasse aus beidem Gutes wachsen. Gott schenke dir ein offenes Herz für alle, die deine Hilfe brauchen, Selbstvertrauen und den Mut, dich verwunden und heilen zu lassen. Gott bewahre dir Seele und Leib in allem, was dir in guten und schweren Zeiten begegnet und lasse dich sein Gnadenjahr erleben. (Heinz Janssen nach Sabine Nägeli, in: Deine Güte umsorgt uns..., hg. v. Martin Schmeisser, 3.Aufl., Eschbach 1990, S.30)Predigt
Liebe Gemeinde!
„Ein gutes Neues Jahr“ – viele Wünsche
“Ein gutes neues Jahr!” – Unzählige Menschen sprachen einander diesen Wunsch bereits zu, andere tun dies heute und in den nächsten Tagen. Auch wir gehören zu den einen oder anderen. Die Kirchenglocken läuteten das Neue Jahr ein. Feuerwerke sprühten, erhellten das Dunkel der Nacht, als ob sie Licht in die noch verborgenen Geschehnisse des bevorstehenden Jahres bringen wollen. Neujahrsbotschaften aus Gesellschaft und Kirche bitten um Aufmerksamkeit. Angesichts der vor uns liegenden ungewissen Zukunft sind gute Wünsche angebracht. Sie tun uns gut, weil wir nicht in der Hand haben, was morgen sein wird, und über das, was auf uns zukommt, nicht verfügen können. Gute Wünsche machen uns Mut und stärken die Hoffnung. “Ein gutes Neues Jahr” – dieser Wunsch verbindet alle Menschen, überschreitet nationale und religiöse Grenzen, auch die persönlichen, die wir im Alltag oft einander spüren lassen.
Gnadenjahr
Aber was wünschen wir damit einander? Die üblichen Worte sind so allgemein, dass sie Vieles unausgesprochen lassen. Sie müssen mit konkreten Wünschen noch gefüllt werden, deren Erfüllung wir für andere und für uns selbst herbeisehnen: hier der Wunsch für ein Jahr des Friedens, des Friedens auf Erden, wie es die Engel in der Heiligen Nacht gesungen hatten, ein Jahr der Verständigung zwischen den Völkern. Dort der Wunsch für Glück in den persönlichen Beziehungen, Gesundheit, Erfolg im Beruf, finanzielles Auskommen, für ein wirklich gutes Jahr.
In unserm Predigttext ist von einem “Gnadenjahr” die Rede, von einem Jahr, in dem Gott vorkommt. Heute am Neujahrstag wollen wir gerade diesen Hinweis auf “das Gnadenjahr” beachten. Wer von uns möchte nicht gern in ein solches Jahr hineingehen! Das Wort “Gnadenjahr” klingt gut, lässt Gutes ahnen. Es weckt in uns viele Wünsche – besonders, wenn wir im vergangenen Jahr “gnadenlose” Zeiten erlebten, die uns niederdrückten und immer noch schwer zu schaffen machen. Nehmen wir uns jetzt ein wenig Zeit und lassen wir uns auf unsere Wünsche ein!
Es war Jesus, der auf das Gnadenjahr in seiner ersten Predigt vor seiner Heimatgemeinde in Nazareth Bezug nahm, als er – dem damaligen Brauch folgend – sich für die Schriftlesung meldete und ihm dafür die Prophetenrolle gereicht wurde: “Als er das Buch auftat” – so erzählt der Evangelist Lukas – “fand er die Stelle, wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn…” (V.17-19) – Wievielen Menschen vor und nach Jesus gaben diese prophetischen Worte Hoffnung auf Überwindung von sozialem und politischen Elend oder – im spirituellen Sinn – Hoffnung auf innere Stärkung!
“…zu verkündigen das Evangelium den Armen…” – Evangelium! Gute, befreiende und heilende Botschaft für die Abgestürzten, Niedriggehaltenen und Verwundeten! Gott sei Dank gab und gibt es sie, jene, die sich von Gott berufen, beauftragt und bevollmächtigt wussten, sein Heil anzukündigen – auf die Gott immer wieder seinen Geist legt und sie erfüllt mit Gotteskraft! Wenn sich jemand damals beim Hören dieser altvertrauten Prophetenworte spontan wünschte: Möge doch das bevorstehende Neue Jahr nicht “gnadenlos”, sondern ein Jahr der Gnade voller guter Aussichten werden – so wurde er überrascht, als Jesus nach der Lesung in die Gemeinde hineinrief: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren! Jesus holte damit das Vorgelesene aus der Vergangenheit in die Gegenwart und stellte eine Verbindung zwischen dem einstigen prophetischen Ich zu seiner eigenen Person her.
“Erfüllt vor euren Ohren!” – Wünsche, Gedanken, Worte, die sich auf einmal erfüllen – passt uns das immer? – Können wir uns vorstellen, mit dem “bösen Nachbarn” in Frieden zu leben, Schuld zu vergeben oder Vergebung anzunehmen? Wollen wir überhaupt aus den gewohnten Bahnen ausbrechen, z.B. aufhören, andere ständig zu beurteilen und ihnen Schuld zuzuweisen? Zu glauben, dass Gott einmal in ferner Zukunft, am Ende aller irdischen Zeiten, seine Zeit umfassenden Gotterkennens und Gemeinschaftssinnes, eine für alle, für seine ganze Schöpfung “angenehme” Zeit herbeiführen werde, mag uns – wie den Menschen damals – weniger schwerfallen. Aber plötzlich mit dem “Heute Gottes”, mit der augenblicklichen Erfüllung seiner Verheißung, im “Hier und Jetzt” konfrontiert zu werden, kann uns zutiefst beunruhigen, sogar in eine Abwehrhaltung stoßen! Werde ich es ertragen, wenn mir genau die Gnade zuteil wird, die ich vielleicht gar nicht haben will? Doch wieviel nehmen wir uns für ein Neues Jahr vor, was erwarten wir nicht alles: nicht wenige Dinge, von denen wir genau wissen, dass sie nicht eintreffen und sich nicht verwirklichen lassen. Verrückte Wünsche tauchen auf, die nicht immer von der Gnade Gottes bestimmt sind – und wie oft fehlt uns der Mut. Demgegenüber hören wir in der Jahreslosung (Lukas 18,27) die Worte Jesu: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.
“Lass dies sein ein Jahr der Gnaden” (Orgelchoral zu EG 61,3)
Vom “Gnadenjahr” las Jesus aus der Prophetenrolle vor. Die heile, von der prophetischen Botschaft angekündigte Welt ohne arme Menschen, ungerechte Verhältnisse, Hunger und Mißachtung der Menschenwürde ist immer noch fern. Wir gehören zu der Minderheit verhältnismäßig gut lebender Menschen. Was aber bringt das Neue Jahr für die Mehrheit der in Armut, Hunger und oft ungerechten Verhältnissen lebenden Menschen? Gibt es für sie eine Verbesserung ihrer Lebenssituation? Sie sind unsere Schwestern und Brüder. Jesus proklamierte die Erfüllung der prophetischen Heilsbotschaft im Hier und Jetzt vor den Ohren der Gemeinde. Wir ahnen: Das Gnadenjahr muss mehr sein als ein Jahr ohne persönliche Schwierigkeiten und in dem alle meine Wünsche in Erfüllung gehen.
Jesus rief die Hörenden auf, im Heute Gottes zu leben, und er erschütterte damit alle resignativen Gedanken: Den Armen, den Gefangenen, den Blinden und Niedergeschlagenen wird heute das Evangelium, die “Gute Nachricht” verkündigt, heute wird ihnen geholfen, menschenwürdig zu leben – mit genug Nahrung, in Freiheit, als Geheilte und Aufgerichtete. Sie alle – so will es Jesus – sollen sich heute am “Gnadenjahr des Herrn” freuen können. Manche in der Gemeinde von Nazareth werden sich an die ursprüngliche Bedeutung des Gnadenjahres erinnert haben: Einst durften sich die Armen alle sieben Jahre mit den von selbst aufgehenden Früchten des Feldes bedienen und: Wenn sie in Schuldknechtschaft geraten waren, wurde ihnen ihre Verschuldung erlassen. Schon lange vor Jesus hatte Gott einen Propheten beauftragt, das Gnadenjahr zu verkündigen. Es sollte aber zeitlich nicht mehr begrenzt sein. Die Bezeichnung “Gnadenjahr” wurde zum Symbolwort für Gottes Zeit bedingungsloser Gnade. Ein “angenehmes” Jahr heißt es wörtlich im Urtext: ein Jahr, in dem Gott uns annimmt. Ein Jahr, in das wir mit der Bereitschaft hineingehen, einander ohne Druck und Zwang zu einem befreiten Leben zu verhelfen: die Güter der Erde und in allem die Güte Gottes, seine Gnade, teilen, einander Menschlichkeit und Zuwendung schenken. Die Botschaft vom Gnadenjahr bekam bereits vor Jesus eine neue Dimension: spiritueller und das leibliche Wohl umfassender Sinn waren keine Gegensätze. Im Gnadenjahr Gottes leben konnte heißen: meine Zeit liegt in Gottes Händen, ich bin nicht dem Zeitstrom ausgeliefert, muss nicht durch das Jahr hetzten, ich bin bei Gott geborgen – und: den Armen, denen das Recht genommen wurde, schafft Gott Recht. “Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind.” (Jesaja 8,23) Gottes Gnade nachspüren
Bei jedem unter uns kann jetzt eine andere Verbindung mit der Botschaft vom Gnadenjahr entstanden sein. Im Anschluß an diesen Gottesdienst haben wir die Möglichkeit, einen Brief an uns selbst zu schreiben, in einen Briefumschlag zu stecken, zu verschließen und mit der eigenen Adresse zu beschriften. Die Briefe werden eingesammelt und alle bekommen sie im Dezember diesen Jahres wieder zugesandt. So kann jede und jeder einzelne unter uns in einer Jahresrückschau erkennen: Wo war für mich Gnade in diesem Jahr? Gab es Erfüllung meines Gnadenwunsches oder ist mir Gnade versagt geblieben? Hat sich die Gnade gezeigt, wie ich es erwartet habe – oder: hat mich Gott mit unerwarteter Gnade überrascht? Die Erfahrungen mit unserem Gnadenjahr wollen wir in einem Gottesdienst (vielleicht am Altjahresabend) aufnehmen. “Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren” – Mit dieser Erklärung hat Jesus damals Gemeinde in der Synagoge überrascht. Welch ein Anspruch und welch ein Zuspruch! Dieses “Heute” seiner Botschaft gilt nach wie vor. Jesus ruft damit die Gegenwart Gottes, seines Heils, aus. Erinnern wir uns an seine ähnlich klingende Ankündigung (Markus 1,15): Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Denkt um und glaubt an das Evangelium!
Sich der menschgewordenen Gnade zuwenden
Mit seinem Ruf zur Besinnung und zum Glauben an das Evangelium lädt Jesus ein, uns der guten Botschaft ganz und erwartungsvoll zuzuwenden. Jesus ruft immer noch – im Gottesdienst und auf den Wegen des vor uns liegenden Jahres. Jesu Ruf gilt gegen jede innere und äußere Art von Armut, Unfreiheit, Blindheit und Zerschlagenheit. Gegen allen Anschein der Sinnlosigkeit, überhandnehmender Entzweiung und Zerstörung sagt Jesus das Gnadenjahr Gottes an. Wer auf ihn hört, tritt in Beziehung zu der menschgewordenen Gnade und – Geheimnis des Glaubens! – zu Gott. Ein Neuanfang im persönlichen und gesellschaftlichen Leben ist jetzt immer möglich, weil uns Gott durch Jesus so nahe ist. “Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren”, ruft Jesus jetzt auch in unsere Gemeinde hinein. Das Hören auf das Wort Gottes hat Konsequenzen: für unseren Umgang miteinander, für die Wahrnehmung, wenn andere Menschen unsere Hilfe brauchen. Offene Ohren für Jesus wecken die Sehnsucht nach erfülltem Leben, bringen uns in Gang auf dem Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Darf es uns unberührt lassen, wenn sich viele unter der Last bitterer Erfahrungen und von anderen Menschen Alleingelassene von der Gnade Gottes geschieden, von seinem Gnadenjahr ausgeschlossen fühlen? Das Gnadenjahr Gottes, das Jesus mit prophetischen Worten in die Gemeinde, in unsere Welt, in unser persönliches Leben ausrief, kann nur sein Gnadenjahr für alle sein, für alle Menschen, für alle seine Geschöpfe, für seine ganze Schöpfung.
Jesus löste mit seiner Botschaft, wie wir aus dem weiteren Zusammenhang unseres Predigttextes erfahren, damals in Nazareth nicht nur Bewunderung und Staunen über “Josefs Sohn” aus. Da gab es mehr Verwunderung und – im Verlauf der Auseinandersetzung mit seiner im wahrsten Sinn des Wortes ungewöhnlichen Botschaft – sogar zornige Reaktionen, zuletzt den Plan, ihn zu töten. Jesus ruft uns auf den Wegen durch das Neue Jahr zu (Mt 11,6): Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert! Seine Gnade, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.
Amen.