Erfolg ist kein Name Gottes

Die Spuren, die ein Mensch in seinem Leben hinterlassen hat, verlieren sich so schnell nicht

Predigttext: Markus 8,31-28
Kirche / Ort: Aachen / Evangelische Kirche im Rheinland
Datum: 22.02.2009
Kirchenjahr: Estomihi
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Markus 8,31-38 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

31 Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. 32 Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. 33 Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. 34 Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. 35 Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten. 36 Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? 37 Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? 38 Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Die Auslegung beginnt damit, alle Überschriften – der Kapitel, der Abschnitte – einfach zu vergessen. Im Zusammenhang gelesen, löst sich der Text von den „kleinen Formen“ und eröffnet eine ungeheure Dynamik, die ihm von Anfang an zueigen war. Jesu Lehre – mit „sie“ (V. 31) sind die Jünger gemeint – wird auf das Volk „samt seinen Jüngern“ (V. 34) ausgeweitet. Der Ankündigung des Leidens Jesu entspricht der Ruf in die „Kreuzesnachfolge“. Was im Jüngerkreis beginnt, greift aus. Petrus, der in seiner Abwehr gezeigt und zurecht gewiesen wird, wird zu einem Beispiel, Leben zu verlieren, obwohl er nichts anderes im Sinn hat, als es zu erhalten – hier noch ganz auf Jesu Leben bezogen. In der markinischen Fassung – es ist in der Evangelienüberlieferung die erste – geht es um den Verlust und um den Gewinn des Lebens um Jesu willen „und um des Evangeliums willen“. Das ist in seiner Paradoxalität auch die eigentliche homiletische Herausforderung. Von Jesus heißt es: „Und er redete das Wort frei und offen“ (V. 32). In drei „denn“-Sätzen wird eine Spur in das Geheimnis des Lebens gelegt: 1. Wer sein Leben um Jesu willen verliert, verstärkt durch „um des Evangeliums willen“, wird es erhalten. Im Wechselspiel von verlieren und erhalten wird deutlich, dass mein Leben mehr ist, als atmen, essen, schlafen, arbeiten usw. Ich kann mitten im besten Leben das Leben schon verloren haben … 2. Die ganze Welt zu gewinnen, ist sprachlich – übersteigernd (!) – zwar möglich, wird aber mit der Seele, die Schaden nimmt, kontrastiert. Jesus stellt die Frage nach dem, was einem Menschen hilft. Welt und Seele – hier gegenübergestellt – markieren geradezu die Lebensgrenzen. 3. Wenn die Seele verloren gegangen ist, hat ein Mensch nichts in der Hand, um sie „auszulösen“, also zurückzubekommen. Das Bild legt nahe, an eine „verpfändete Seele“ zu denken. So fatal sich das anhört: es wird nur auf die menschliche Grenze verwiesen, das Verlorene wieder zu finden – dass im Evangelium der Blick auf Gottes Möglichkeiten geschärft wird, geht dem auf, der weiter liest und sieht. Die weisheitlichen „Lehr- und Lebenssätze“, die jeweils auch für sich standen bzw. stehen können, werden verbunden und im Weg Jesu sichtbar gemacht. In der alten Diktion: Er ist sacramentum und exemplum. Die Schlussfolgerung: Sich nicht für Jesus zu schämen, der den Leidensweg geht, der auch in seinem Wort eine andere Welt offenbart als die, die scheinbar vorgegeben ist und ihre Attraktivität in sich hat. Mk. 8 stellt die Frage nach dem Leben unerwartet und überraschend anders. Die größte Gefährdung des Lebens ist, den Weg Jesu nicht mitzugehen. Homiletisch ist es ratsam, sich zu beschränken. Der Versuchung, der Welt etwas auszuwischen, ihre Defizite und Mängel zu beklagen, sich gleichzeitig auch über sie zu erheben, sollte der Prediger, die Predigerin nicht erliegen. Schließlich ist für jeden Menschen die Welt nicht nur ein Stück Heimat, sondern auch – käuflich. Das ist keineswegs eine Provokation, sondern eine Beobachtung und eine Sehnsucht. Empirie und Traum liegen viel dichter beieinander, als es dem frömmsten Menschen bewusst ist. Themen der Predigt sind: Was kostet die Welt - die verpfändete Seele – die „ausgelöste, die „erlöste“ Seele. In diesem Dreiklang soll die Ankündigung des Leidens und Sterbens Jesu meinem Leben gelten – und in das Leben führen (nach Hebr. 12,2 ist Jesus Anführer und Vollender des Glaubens). Das Wort „Seele“ ist dabei jedoch seiner historischen Einkleidungen zu entledigen.

Zum Sonntag Estomihi

Hinauf nach Jerusalem: Leidensankündigung und Ruf in die Nachfolge bestimmen das Evangelium (Mk 8,31-38) am Sonntag Estomihi, der seinen Namen von den Worten hat, mit denen der Leitvers zum Eingangspsalm beginnt: »Sei mir ein starker Fels und eine Burg...« (Ps 31). Früher hieß der Sonntag manchmal auch Quinquagesimae (›fünfzig‹ Tage vor Ostern). Wochenspruch (Lk 18,31) und zweites Wochenlied nehmen den Ruf des Evangeliums auf: »Lasset uns mit Jesus ziehen...« (EG384), während das erste Lied (EG 413) auf die Epistel aus 1 Kor 13, das Hohe Lied der Liebe, Bezug nimmt. Natürlich hängen Nachfolge und Liebe eng miteinander zusammen; doch akzentuieren die Texte dieses Sonntags beide Themen auf durchaus unterschiedliche Weise. Das erste Tagesgebet bittet um die Belebung von »Glauben, Liebe, Hoffnung«, das dritte steht ganz im Zeichen von Christusleiden und -nachfolge: »Verwundbarer Gott, im Sterben Jesu nimmst du teil am Leiden der Welt.« Kultkritische Töne schlägt die alttestamentliche Lesung Am 5,21-24 an: »Es ströme aber das Recht wie Wasser...« Aus: Karl-Heinrich Bieritz, in: Der Gottesdienst im Kirchenjahr http://www.velkd.de/estomihi.php Nach alter Ordnung, der das Evangelische Gottesdienstbuch folgt, verstummt vom Sonntag Septuagesmimae an das Halleluja, das erst zu Ostern wieder gesungen wird.

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Predigt

Gefundenes Leben

„Was habe ich für eine Karriere gemacht!“. Die junge Frau lacht. Sie erzählt von einem tollen Examen, schaut auf hervorragende Referenzen, freut sich über Ihre Beliebtheit. Auffällig nur, dass sie alles in der „Vergangenheitsform“ erzählt. Ich wage nicht zu fragen. Ein Karriereknick? Ich kenne viele „geknickte“ Geschichten. Auch Geschichten von Neid, Intrige und Mobbing. Doch dann sagt sie, als hätte sie meine stille Frage gehört, nur: Ich habe ein Kind adoptiert. Irgendwann habe sich herausgestellt, dass es nie richtig gesund sein würde. Ihre Augen lachen noch immer. Dann meinte sie, fast beiläufig, sie habe jetzt ihr Glück gefunden. Die erfolgreichen Geschäftsabschlüsse, die Feiern danach, das unehrliche Getue – sie brauche es nicht mehr. Fast flapsig meinte sie, sie habe einen Karrieresprung gemacht. Jesus sagt: Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt …

Ob die Frau diesen Satz gekannt hat? Ich weiß nicht einmal, ob sie damit einverstanden wäre, dieses Wort mit ihrem Leben zu verbinden. Aber sie hat, vielleicht auch nur unbewusst, eine Perspektive entdeckt für ihr Leben, die einem Gottesgeschenk gleich kommt. Jesu Wahrheit konnte immer schon inkognito sein. Wenn er davon spricht, dass ein Mensch seine Seele verlieren kann, geht es ihm darum, seine Seele zu gewinnen!

Verlorenes Leben

Jesus spricht von seinem Leiden, von der Verwerfung, von seinem Tod. Frei und offen, wie Markus betont. Wir hören, wie Petrus ihm ins Wort fällt. Auch frei und offen – ohne, dass Markus es erwähnt. Obwohl nicht so ganz klar ist, was in Petrus vorgeht, sieht man bei ihm die Felle schwimmen. Ob er einem Verlierer folgen will? Ihm folgen kann? Ich kann Petrus verstehen. Ich möchte doch auch auf der Seite des Glücks stehen, nicht auf der Seite des Unglücks, möchte mit Jesus einen Traum erfüllen, nicht an seinem Leid teilhaben, möchte die Welt gewinnen, nicht aber ihre Schwäche ertragen. Jesus setzt sich mit Petrus so hart auseinander, das sogar das Wort „Satan“ fällt. Verwirrer. Durcheinanderbringer. Widersacher. Schmeichelhaft hört sich das nicht an, nicht einmal verständnisvoll. Eine Grenze wird markiert. So frei und offen, dass ich darüber fast mutlos werden könnte. Aber schenkt uns Jesus nicht einen ungetrübten Blick auf unser Leben? Auf sein Leben? Es gilt, eine neue Welt zu gewinnen.

Ich denke jetzt an einen Trauerbesuch. Die Geschwister hocken traurig zusammen. Ihr Bruder hat sich das Leben genommen. Jetzt muss die Beerdigung vorbereitet werden. Ein letzter Liebesdienst. Ich bin verstummt. Wo ich doch sonst um Worte nicht verlegen bin. Ich denke an die Mutter, die ich oft besuchte. Sie hat immer nur in Andeutungen geredet. Der Kummer nahm ihr erst die Lebensfreude, dann wohl auch das Leben. Die letzte Etappe blieb ihr erspart. Jetzt haben sich die Geschwister getroffen. Ratlosigkeit liegt auf ihren Gesichtern. Die Gedanken drehen sich im Kreis. Was war doch der Bruder für ein Mensch? Sie erzählen. Irgendwann sprudelte es aus ihnen heraus. Bis an die Grenzen sei er immer gegangen, habe auch nicht groß gefragt, ob jeder Zweck die Mittel heiligt. Was nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde, muss wohl doch wahr gewesen sein. Er hat sich verzockt, es nicht einmal gemerkt. Selbstbewusst, von Erfolg geradezu berauscht, zog er die Schlinge immer fester um seinen Hals. Am Ende fielen die Gläubiger über ihn her wie Hyänen über ein Kadaver. Gute Freunde hatte er noch nie, die falschen kannten ihn nicht mehr. Als er die Welt nicht mehr für sich vereinnahmen konnte, legte er sich vor den Zug. Außer einer neuen Verspätung der Pendler blieb von seiner Geschichte nichts – nur Entsetzen und Hilflosigkeit. Ich höre Jesus sagen: Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele verliert?

An einem Sarg ist kein Leben abzurechnen. Aber in dieser schrecklichen Situation, in der sich Gefühle, Worte und Gesten verheddern, kommt aus dem Evangelium eine große Kraft. Jeder wusste, was geschehen war. Viele hatten in schlaflosen Nächten die Geschichte durchgekaut. Aber sie fanden das Wort nicht, das ihnen geholfen hätte, diesem Menschen noch einmal zu begegnen. Jetzt war die Wahrheit ausgesprochen, von der Jesus einmal gesagt hat, dass sie frei macht: Unser Bruder hat in seinem kurzen Leben die ganze Welt gewinnen wollen und ist ihr doch erlegen. Gott sei seiner Seele gnädig. Die Spuren, die er in seinem Leben hinterlassen hat, verlieren sich so schnell nicht. Ich weiß. Er hat auch Menschen zu Opfern gemacht. An seinem Grab haben wir ihrer vor Gott gedacht.

Gewinn und Verlust

Zwei kleine Geschichten. Von gefundenem und von verlorenem Leben. Von Zukunft und von Tod. Es sind Geschichten aus dem Leben. Beliebig ließen sie sich erweitern. Wir können unseren Gedanken freien Lauf lassen. Die Sehnsucht, die ganze Welt zu gewinnen, ist uns Menschen schon früh vertraut. Manchmal sagen wir, und das ist kein Scherz: Was kostet die Welt. Diese Unbefangenheit ist ein Motor unzähliger und wichtiger Entdeckungen. Jeder Mensch braucht sie. Wir wissen sogar: Wer die Welt nicht gewinnt, gewinnt sich selbst auch nicht. Ich kenne Menschen, die daran kaputtgehen. Bei den einen ist es die 100. Bewerbung, die unbeantwortet bleibt, bei anderen die Leere, die sich nach einer Trennung einstellt. Mit Jesu Wort sollten wir es uns nicht zu einfach machen. Er hat keine Angst vor der Welt. Er liebt sie. Er liebt sie so sehr, dass er sein Leben für sie gibt. Von diesem Leben gilt es zu reden! Jesus löst Menschen aus. Auch die, die ihre Hoffnungen verpfändet haben, gegen Geld, gegen Erfolg, gegen Ansehen. Das hat er gesagt. Dafür hat er Menschen gesund gemacht. Für uns ist er gestorben. Für uns wurde er auferweckt.

Wir kennen die Angst, nicht nur die Welt zu verlieren, sondern uns selbst. Das steckt in dem alten Wort „Seele“. Ich bin doch mehr als 186 cm Länge und 90 kg Lebendgewicht, mehr als die Falten im Gesicht und das Wissen im Kopf. Schlimmeres als seine Seele zu verlieren, gibt es nicht. Wer seine Seele verliert, ist tot – selbst wenn vor der Garage ein teurer Flitzer steht und eine Yacht in Ibizza ankert.

Bis in die Bilder und Worte hinein, die sich Augen und Ohren erobern, zählt in unserer Welt nur der Erfolg. Er schafft Gewinner und verflucht die Verlierer. Er verhext Zahlen und okkupiert die Nachrichten. Er verspricht Leben, treibt es aber mit dem Tod. Auch wer sich nicht Christ nennt, versteht Jesu Wort. Auf Anhieb: Was hilft es denn dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert?

Der Verwirrung Herr werden

Zwei Geschichten habe ich erzählt. So schön und traurig, wie das Leben manchmal ist. Die erste Geschichte aber steht im Evangelium. Sozusagen eine Urgeschichte: eine Geschichte von dem Weg Jesu. Dass er leiden wird, bringt Petrus auf die Palme. Schließlich hat er seinen Meister und Herrn doch Christus genannt, den Sohn des lebendigen Gottes. Der kann doch nicht untergehen! In mir wehrt sich auch alles. Er soll nicht sterben, er soll die Welt verwandeln. Ich warte doch schon so lange darauf. Was jetzt geschieht, lässt sich in Worte kaum fassen. Ist Petrus denn wirklich einer, der die Welt verwirrt? Als er so freimütig und unbefangen Jesus als Christus bekennt, ja, sein ganzes Leben auf ihn setzt, ist er für mich zum Vorbild geworden. Eben wie ein Fels, auf den ich mich stellen kann. Fest, unbeirrbar, allen Stürmen trotzend. Das Bild gefällt mir immer mehr, je länger es mir vor Augen ist. Es tut meiner Seele gut. Wo es doch so viel Zweifel, Bedenken und Widersprüche in meinem Leben gibt.

Als Jesus aber von seinem Leidensweg redet, kann Petrus ihm nicht folgen. Mir wird auch bewusst, warum: Als Sohn Gottes, als Christus, muss er Erfolg haben, die ganze Welt im Sturm gewinnen, allem Bösen ein Ende bereiten. Aber sagt Jesus nicht auch von sich: was nutzt es dem Menschensohn, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er seine Seele verliert? So sagt Jesus: Weg von mir, Satan. Ich merke: es ist eine Versuchungsgeschichte, in der das Leben auf dem Spiel steht. Später verstehe ich wie mein Freund Petrus, dass der Tod nur durch Liebe zu überwinden ist. Dass Gott meine Welt liebt. Dass er meine Seele wie ein kostbares Geschenk in seiner Hand hält.

Ich sehe die Frau vor mir, die das behinderte Kind angenommen hat als ihr eigenes, ich gehe in Gedanken aber auch noch einmal an das Grab des Mannes, der seine Seele aufs Spiel setzte. Dass Gott beide Geschichten vollendet, erbitte ich von ihm. Im Namen Jesu. Erfolg ist kein Name Gottes. Aber seine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

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