Prozess des Reifens
Selber erspüren, wo meine Hauptversuchung ist
Predigt
Liebe Gemeinde!
Übergänge und Schnittstellen
Wie reif war ich nach der Pubertät? Und wann war die zu Ende? Denn die Reifung geht doch das ganze Leben weiter. Bei manchen Zeitgenossen gewinnen wir allerdings den Eindruck: Sie bleiben pubertär ihr ganzes Leben lang. Dieser Übergang ist in der Tat bei vielen ein anstrengender Prozess: mich aus der Fülle der Möglichkeiten, wer ich sein könnte, dann doch zu entscheiden für die Person, die ich unabänderlich bin. Fertig werden mit den Gefühlen und allem, was im Körper auf einmal los ist. Ich frage mich: Mit welchen meiner Eigenarten wirke ich auf andere noch pubertär?
Ein Bewusstsein für diesen schwierigen Übergang und auch für diese Zwischenphase „Jugend“ (Wir sind nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen!) haben wir spät in der Geschichte entwickelt. In der alten Welt fielen Kinder mehr oder weniger aus der Kindheit ins Erwachsensein. Die Geschlechtsreife wurde hier gefeiert, dort war sie mit für uns seltsamen Riten verbunden. Ich stelle mir vor: Hinter der Konfirmation der 13- bis 15-Jährigen stand ganz ursprünglich etwas anderes als die religiöse Reife.
Jesus ist in diesem Übergang vom Kind zum Mann in den vier biblischen Evangelien kaum greifbar. Wir haben bei Lukas die Erzählung vom 12-Jährigen im Tempel. Er überrascht die wirklich Reifen und Klugen mit seiner Reife und Klugheit. Vielleicht gehört auch gerade die Geschichte von der Versuchung in der Wüste in diesen Übergang. Sie bildet biblisch ja die Schnittstelle zwischen Jesu Taufe und seinem im Ganzen nicht langen Wirken in Galiläa und dann in Judäa. Immerhin nimmt diese Geschichte die Zahl 40 auf: 40 Jahre war Israel in der Wüste, Elia war 40 Tage unterwegs zum Gottesberg und nun fastet auch Jesus 40 Tage und Nächte: 40 meint Reifung: Israel musste reifen für das versprochene Land, Elia musste reifen für eine neue Begegnung mit Gott, Jesus muss reifen für seinen Auftrag im Namen dessen, den er „Vater“ nennt.
Der Reiz der Versuchung und der Coolness
Erwachsen werden heißt: versucht werden. Dabei empfinden wir es durchaus als Reiz uns verführen zu lassen: Ich will ausprobieren, wer ich wirklich bin. Ich darf nicht verallgemeinern. Ich selber habe meine Pubertät deutlich anders erlebt als die meisten Jugendlichen. Doch für viele gehört zur Pubertät dieses „Ich will cool sein!“ Cool meint vor allem: Das geht mich nichts an! Das interessiert mich nicht. Dabei interessiert den Coolen in der Tat sehr vieles. Er kann, er darf es nur nicht zugeben. Er erlebt sich gespalten. Und andere erleben bei ihm vor allem seinen Geist des Widerspruchs. Er weiß selber, wie albern er auf andere wirkt. Er muss damit demonstrieren: Er findet fast alles lächerlich, was Erwachsene als ihre Welt ihm anbieten. Er passt sich an, weil das auch andere an ihm chic finden: an die Clique, Mode, Musikrichtung, den Main Stream…
Von der Versuchung zur Verantwortung
Jesus lebte in einer anderen Zeit. Das ist für mich aber nicht das Entscheidende. Er lebte im Bewusstsein – nein: noch stärker: Er lebte das Bewusstsein: Gott ist da, Gott ist mir nah! Ob sich das bei der Taufe im Jordan durch Johannes eingestellt hat? Immerhin soll ihm – vielleicht sogar einigen anderen – dabei der Himmel aufgegangen sein: „Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Gefallen!“ Dieses Bewusstsein kann zu Missverständnissen führen, zu Versuchungen. „Wenn du Gottes Sohn bist“. Zweimal nennt der Versucher diese Voraussetzung seines logischen Schlusses. Dann sind Wunder möglich. Leider lesen wir oft die Wundergeschichten der Evangelien wirklich, als wollten diese Geschichten zeigen: Der Sohn Gottes kann alles! Wir können diese Versuchung auch einmal unter Nützlichkeitsaspekten sehen (oder erliege ich selber dabei der Versuchung?): Könnten Steine in Brot verwandelt werden, bräuchten wir kein „Brot für die Welt“ – was für eine Perspektive für die Wüsten dieser Erde. Nein, Jesus bleibt als Gottes Sohn Mensch, mit den menschlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.
Natürlich lebe ich vom Brot, aber ich lebe auch vom Teilen des Brotes mit anderen. Ich lebe mit dem Wissen: Brot ist etwas Kostbares und damit mehr als die x-beliebigen Steine. Und ich kann mich der Verantwortung nicht entziehen, die Erde zu bewahren, zu beschützen; Wüsten lassen sich nicht einfach in Brote verwandeln. Noch viel mehr sagt mir das Wort Gottes; von ihm lebe ich genauso wie vom Brot.
Die Versuchung der Macht
„Bist du Gottes Sohn, dann tragen dich die Engel von der Tempelzinne“. Nein, Jesus bleibt Mensch. Er weiß schon hier: Er ist verletzbar, er wird sterben und darum ist er den Mordplänen anderer ausgeliefert. Kind Gottes sein heißt nicht fliegen, davon fliegen, der Wirklichkeit davon fliegen, von der Erdanziehung unberührt bleiben. Ich bin „Adam“ aus „Adama“ (Gen 2), „Mensch aus Erde“, der „Erdling“: Je höher ich hinaus will, desto heftiger wird dann mein Aufprall auf der Erde; dabei will mir die zur Heimat werden.
Schließlich keine logische Schlussfolgerung mehr; denn die durchschaut Jesus. Jetzt geht es um alles oder nichts. Die Versuchung der Macht. Will ich die Welt verändern, brauche ich Macht. Sogar zum Guten, womöglich in Gottes Namen. Macht: sagen, wo es lang geht, bestimmen, was das Ziel ist. Macht als Mittel. Oder verrate ich durch dieses Mittel unvermeidlich das Ziel? Verselbständigt sich die Macht in jedem Fall? Wer die Macht hat, setzt seine Moral, sein Welt- und Menschenbild durch. Zwar sagt der Auferstandene: „Mir ist gegeben alle Macht“, dies ist aber eine andere Macht als die, die hier im Spiel ist.
Für mich ist bei meinem Beruf, diesem Leben in einer breiten Öffentlichkeit, möglicherweise die Versuchung zur Macht die größte. Anderen weiterhelfen und darum Macht ausüben über sie; ihnen helfen ihren Lebenssinn zu finden und so die Maßstäbe für andere festlegen; mir selber ein Denkmal setzen wollen und erwarten, dass andere sich an mir orientieren… Aber jeder/jede von uns soll selber spüren, wo für ihn/sie die Hauptversuchung liegt. Die hat wohl eine andere Größenordnung als die Versuchung zu Schokolade oder Kuchen. Aber nichts gegen die „7 Wochen ohne“; die können ein gutes Übungsfeld werden auch gegen andere Versuchungen.
Sich einüben ins Mensch Sein hat Jesus gelernt. Diese Versuchungsgeschichte verdichtet dieses Lernen in besonderer Weise. Wo lerne ich, wie lerne ich diese Bescheidenheit, diese Demut: Mensch bleiben wollen, Mensch bleiben können in meinen Möglichkeiten. Vor allem dankbar werden: Ich darf leben; mir ist diese Chance des menschlichen Daseins geschenkt – mit all seinen Möglichkeiten, natürlich auch Grenzen. Warum will ich denn immer noch mehr und noch mehr und noch mehr…? Die Gesetze der Physik außer Kraft setzen, mich der Wirklichkeit entziehen, meinen Machtbereich ausdehnen… Ich darf leben. Das ist doch genug. Mehr als genug.
Jesus hat es abgelehnt, sich von Engeln von der Tempelzinne tragen zu lassen. Am Schluss der Geschichte aber steht: „Die Engel Gottes dienten ihm!“ Engeln – und nicht in erster Linie dem Versucher – begegnet ein Jesus, der zu seinem Leben als Mensch Ja gesagt hat. Jesus leitet uns an, als Gottes geliebte Kinder wirkliche Menschen zu werden. Gottes Engel wollen auch uns dienen.
Amen