Golgatha
Das Kreuz Jesu Christi im interreligiösen Dialog
Predigt
Liebe Karfreitagsgemeinde!
Golgatha
Sie zogen ihn
die Via Dolorosa hinauf,
den Nazarener.
Er trug sein Bündel
ohne Schmerzen.
Oben angekommen,
zogen sie ihn aus.
Nackt wie ein archaischer Schädel,
den Blicken der Gaffer ausgesetzt.
Sie beschauten ihn,
ohne ihn zu berühren,
bis die Sonne unterging.
Die Peiniger lösten ihn,
den nackten König der Juden,
aus seinen Fesseln
und übergaben ihm seine Kleider.
Seither
geht er im Lande umher,
nackt und barfuß,
mit seinen Kleidern in der Hand,
auf der Suche nach einer Bleibe
im Hause der Blinden, die
nichts von Golgatha
gehört haben.
Inbegriff für unmenschliche Grausamkeit
Golgatha – Schädelstätte. Inbegriff für unmenschliche Grausamkeit, schmerzvollste Todesart, inhumane Zurschaustellung der Peinigung von Menschen. Inbegriff für schuldloses Leiden, für unschuldiges Sterben. Golgatha – Synonym für das Schicksal Jesu, das Ende seines irdischen Weges, seine Erniedrigung und Demütigung, sein Tod am Kreuz. Golgatha heißt auch das eben gehörte Gedicht, das sich mit dem letzten Weg Jesu, seinem Schmerzensweg, auseinandersetzt. Ein Gedicht voller christlicher Motive – und doch kein christliches Gedicht. Ein Text, der sich implizit mit dem Grundmotiv des christlichen Glaubens, dem Kreuz, auseinandersetzt, auch wenn das Wort selbst im Gedicht nicht vorkommt, aber der Autor selbst ist kein Christ, sondern kommt aus einem ganz anderen Kulturkreis. Dieses Gedicht stammt aus der Feder eines gebürtigen Muslims, des deutsch-iranischen Lyrikers Said, des früheren Präsidenten des PEN-Clubs in Deutschland, geboren 1947, der in München lebt. Er selbst sagt von sich, er habe seine Religiösität nicht verloren, obwohl er seine angestammte Religion nicht aktiv ausübe.
Leid, Schmerz, Kreuz, Tod
Golgatha – dieses Gedicht ist so etwas wie ein kleines Stückchen interreligiöser Dialog: Ein gebürtiger Muslim blickt auf den christlichen Glauben. Er fokussiert dabei ganz bewusst die Passionsgeschichte, das Ende des Weges Jesu. Was sieht er dort? Er nimmt wahr, dass das, was das Christentum in seinem tiefsten Grund ausmacht, etwas zu tun hat mit der Realität von Leid und Schmerz: Jesus als der, der den Schmerzensweg geht, die Via dolorosa. Im Schmerzensmann von Golgatha sieht Said die zentrale Gestalt, das Gesicht der christlichen Religion.
Das Gedicht beschreibt in seiner Fortsetzung Jesus als den, der diesen Weg weitergeht, weiter zu denen, die nichts von Golgatha gehört haben, zu den Blinden, um bei ihnen zu wohnen. Hier stutzt der christliche Leser, denn das, was wir mit Golgatha im ureigentlichen Sinne verbinden, kommt in diesem Gedicht nicht vor, es ist ausgelassen, einfach übersprungen: das Kreuz und der Tod Jesu, sein Weg bis an den tiefsten Punkt der menschlichen Existenz, Jesu Lebenshingabe. Golgatha wird von Said anders weitergedacht, leichter, sozusagen „ermäßigt“, weniger todbringend: Die Peiniger lösen im Gedicht die Fesseln, lassen Jesus frei. Er, der Wehrlose, geht nackt und barfuß davon, mit seinen Kleidern in der Hand, auf der Suche nach einer Bleibe.
Aber der da in dem Gedicht hineingeht in die Welt der Blinden, ist nicht unser Jesus, so wie wir Christen an ihn glauben. Unser Glaube sieht Jesus als den, der am Kreuz auch die tiefste menschliche Not auf sich genommen hat, das Sterben und die Nacht des Todes. Jesus ist eben nicht vom Kreuz herabgestiegen, er entzieht sich gerade nicht dem menschlichen Sterben, sondern durch seinen Tod hindurch geschieht das Heil. Gott begibt sich in Jesus Christus mitten ins Leid und mitten in den Tod, um ihn zu überwinden. Diese Überwindung geschieht nach christlichem Verständnis gerade nicht am Tod vorbei, sondern durch den Tod Jesu hindurch geschieht Erlösung und Befreiung von Sünde. Zu Jesus Christus auf Golgatha kam niemand, der ihm die Fesseln gelöst hätte. Die Peiniger ließen ihn nicht gehen, sie kreuzigten ihn zusammen mit zwei anderen zu beiden Seiten, „Jesus aber in der Mitte“, wie es bei Johannes heißt. Dem nackten Jesus auf Golgatha hat man auch nicht seine Kleider übergeben; vielmehr teilten die Soldaten seine Kleider unter sich auf und losten um sein unzerteiltes Gewand.
Ein Weg von durchlittener Qual
Unser heutiger Predigttext aus dem Johannesevangelium, den wir vorhin gehört haben, schildert uns diese Verurteilungs- und Kreuzigungsszene mit allen Details: vom Hof des Pilatus über den Weg hinaus nach Golgatha, zur Schädelstätte, mit der bewegenden Verabschiedung Jesu von seiner Mutter und dem Jünger, „den er liebhatte“, bis hin zur Kreuzigung, der Tränkung mit Essig und Jesu Verscheiden, als er zuletzt spricht: „Es ist vollbracht!“ Ein Weg, der eben nicht in vorzeitiger Freilassung endet, sondern ein Weg von durchlittener Qual.
So wird das Nachdenken über das kurze Gedicht des iranischen Autors Said vor dem Hintergrund der biblischen Passionsgeschichte zu einer Art von Dialog: Worin erkennt jemand, der von außen auf das Christentum blickt, den Kern unserer Religion? Und wie vermittelt sich das mit unserem eigenen Verständnis unseres Glaubens? Was ist uns wichtig und was nimmt ein Außenstehender wahr? Was gehört zur Identität des christlichen Glaubens unabdingbar dazu? Wenn man das Gedicht als Beispiel nimmt, dann wird sehr schnell klar: Um das Geschehen von Golgatha kommt man nicht herum, wenn man auf das Christentum blickt, sei es von innen oder von außen. Der leidende Gottessohn steht in der Mitte unseres Glaubens und damit das Kreuz als Hoffnungs- und Lebenszeichen mitten in der Realität des Todes. Durch den Tod Jesu hindurch wird Leben gewirkt, brechen sich die Mächte des Todes und der Sünde an der Macht Gottes. Das geschieht nicht am Leid und am Tod vorbei, sondern mitten durch sie hindurch. Kein Ostern ohne Karfreitag! Darum ist der Karfreitag, der Tag der Erinnerung an Jesu Leiden und Sterben, für uns als Christen im kirchlichen Kalender so wichtig. Im Karfreitag, im Geschehen von Golgatha, verdichtet sich, was unsere Religion ausmacht.
Und doch ist es ein Kreuz mit dem Kreuz. Für die einen ist es eine Torheit und für die anderen ein Skandalon, das wusste schon der Apostel Paulus. Das Kreuz war immer der Punkt, an dem sich die Geister geschieden haben: Wie kann es sein, dass im Leiden Jesu Erlösung für die Welt liegen soll? Wie ist es möglich, dass mitten aus dem Sterben neues Leben hervorgehen kann? Wie kann es sein, dass im Tod Jesu Hoffnung für die Welt sichtbar wird, dass aus seinen Schmerzen unsere Freude erwachsen kann? Das Kreuz war und ist ein Paradoxon. Wenn es schon nicht leicht ist, das Leben, Sprechen und Handeln Jesu zu verstehen, so ist es noch schwerer, sein Leiden und Sterben zu begreifen. Und doch zeigt uns Gott nach christlichem Verständnis gerade da, am Kreuz Jesu Christi, sein innerstes, liebendes Wesen: Gott begibt sich in Jesus Christus mit hinein in unser menschliches Leid, um es zu überwinden. Er ist ein mitgehender Gott, der uns in Jesus Christus die Solidarität mit allen Leidenden gezeigt hat. Unser christlicher Glaube rechnet mit der Realität des Kreuzes, das Menschen auf sich nehmen müssen, rechnet mit den allgegenwärtigen, menschlichen Realitäten von unabwendbarem Schmerz und unausweichlichem Leid, auch der Realität von Tod und Sterben, und er entfaltet gerade da seine Hoffnungsbotschaft. Unschuldiges Sterben ist in unserer von Kriegsgeschehen geprägten Zeit genauso eine Realität wie schmerzliche Abschiede und leidvolle persönliche Schicksale durch Krankheit und Behinderung, Unfälle und Katastrophen, Lebensprobleme und Lebensnöte. Das Kreuz ist Abbild dieser Wirklichkeit einer Welt, die noch unter dem Joch der Vergänglichkeit und tötenden Gewalt ächzt und leidet.
Kreuzesstamm und Lebensbaum
Aber das Kreuz ist zugleich auch Symbol für etwas anderes, ganz entgegengesetztes: Der Kreuzesstamm ist auch der Lebensbaum. Jesus, der geschundene Mensch am Kreuz, ist der, der durch den Tod hindurchgegangen ist, um der Welt neues Leben und Hoffnung zu geben. Er ist der, dessen Licht hell in die Blindheit der Welt hineinstrahlen will. Das Geheimnis des Kreuzes liegt genau in dieser Spannung zwischen der Realität des Leidvollen und Tödlichen und der Hoffnung auf Erlösung, sie keimt inmitten dieser leidvollen Realität kraftvoll auf. Die Wirklichkeit des Tödlichen und Schmerzvollen in der Welt wird im christlichen Glauben nicht geleugnet, an ihr wird sich nicht „vorbeigemogelt“, aber ihr wird etwas entgegengehalten: die Erwartung neuen Lebens in, mitten, unter und durch das Kreuz Jesu Christi. Auf den Karfreitag folgt Ostern, das Fest der Auferstehung. Jesus ist nicht auf Golgatha geblieben. Sein Weg ist tatsächlich weitergegangen, aber anders als es sich der deutsch-iranische Autor Said vorstellt in lyrischer Phantasie in seinem Gedicht „Golgatha“. Der gekreuzigte Nazarener geht seinen Weg weiter, ja, er will gerade bei den Blinden wohnen, um ihr Leben wieder hell zu machen. Seine Spur ist auch heute unter uns: Überall da, wo Menschen ihr Kreuz tragen müssen, überall da, wo Menschen zusammenzubrechen drohen unter Leid und Schmerzen, überall da, wo Unschuldige Opfer von Gewalt werden ist Jesus solidarisch an ihrer Seite.
Dialog
Golgatha – an diesem kleinen Wörtchen hängen zentrale Vorstellungen unseres Glaubens. Golgatha – mit dem Geschehen, das mit diesem Ort verknüpft ist, sind wir mitten hineingekommen in den Dialog mit einer Außensicht auf unseren christlichen Glauben. Wir brauchen in unserer von Kriegen und kulturellen Spannungen geprägten Zeit solche Dialoge zwischen den Religionen, wo Christen sich mit Muslimen und Muslime sich mit Christen über ihren Glauben verständigen. Im Gespräch werden die Gesprächspartner nicht nur etwas über die andere Seite erfahren, sondern sie werden auch viel deutlicher als zuvor erkennen, was überhaupt die eigene religiöse Identität ausmacht. Zum Christentum gehört das Kreuz, Sinnbild für die Option des christlichen Glaubens für die Leidtragenden und Geschundenen, für die Schwachen und Kranken, und zugleich Sinnbild für die Hoffnung wider den Augenschein, für den Glauben an die erlösende und befreiende Macht Gottes inmitten der Mächte des Todes und der Sünde. Mit den Worten eines Passionsliedes aus unserem Gesangbuch (EG 93,3):
Doch ob tausend Todesmächte liegen über Golgatha,
ob der Hölle Lügenmächte triumphieren fern und nah,
dennoch dringt als Überwinder Christus durch des Sterbens Tor;
und die sonst des Todes Kinder, führt zum Leben er empor.
Amen.