Gottes Antwort auf unsere Ohnmacht

Im Sterben und Auferstehen Jesu zeigt Gott uns auch, wie viel wir ihm wert sind

Predigttext: Johannes 19,16-30
Kirche / Ort: Friedenskirche / Wyhlen (79639 Grenzach)
Datum: 10.04.2009
Kirchenjahr: Karfreitag
Autor/in: Pfarrerin Dr. Anette Metz
Predigttext: Johannes 19,16-30 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 16 Da überantwortete er [Pilatus] ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. 19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, daß er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Laßt uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. 25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28 Danach, als Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. 30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

“Warst du da…?“

Warst du da, als sie meinen Herrn gekreuzigt haben? Das ist genau die Frage, die ein Gospel stellt: „Were you there, when they crucifierd my Lord“. „Ich war nicht dabei – niemand von uns war da“, lautet selbstverständlich unsere Antwort.

In dieser Frage „Warst du dabei, als sie meinen Herrn kreuzigten?“ steckt auch eine zweite Frage, auf die wir vielleicht eher eine Antwort finden können: Wer kann sich in die Personen hineinversetzen, die dabei waren, als sie Jesus kreuzigten? Es waren ja einige Menschen am Kreuz: Maria, die Mutter Jesu, Maria Magdalena und eine dritte Maria, die Frau des Klopas, und seine Tante. Bei seiner Mutter stand außerdem der Jünger, den Jesus lieb hatte.

Zwei Verwandte und zwei ganz eng vertraute Menschen Jesu. Schauen wir sie an. Wie mögen sie wohl dagestanden haben. Eng umschlungen, sich gegenseitig haltend und stützend oder jede und jeder für sich? Stellen wir uns an ihre Seite. Neben wem würden wir stehen? Könnten Sie, könnte ich den Arm um Maria legen oder den Jünger, den Jesus lieb hatte, in die Arme schließen? Halten wir es aus, in ihre Gesichter zu schauen, ihre Trauer zu teilen und ihre Erstarrung mit zu tragen? Ich stelle mir die vier völlig regungslos vor, erstarrt und gelähmt in ihrem Schmerz. Wie versteinert sind sie, ihre Gesichter ohne Leben, vom schrecklichen Anblick so starr, dass sie nicht einmal weinen können. Erst später, als Maria von Magdala allein am Grab Jesu steht, kann sie weinen. Dort erst findet der Schmerz durch ihre Tränen einen Weg ins Freie. Aber unter dem Kreuz ist sie fassungslos wie die anderen.

Einige von Ihnen, liebe Mütter hier in Wyhlen, haben ihr sterbendes Kind in den Armen gehalten. Sie waren dabei als Ihre Tochter oder Ihr Sohn starb. Andere konnten sich nicht verabschieden, Ihnen wurde die Todesnachricht überbracht. Wer nicht sein eigenes Kind verloren hat und an seinem Grab stehen musste, kann wohl kaum nachempfinden wie stark der Schmerz ist, der einem fast das Herz zerreißt. Da spielt es keine Rolle, wie alt das Kind ist, selbst wenn es schon erwachsen ist. Dieser betäubende Schmerz, diese Ohnmacht. Und so sehe ich diese vier. Menschen, die Jesus auf die ganz besondere Weise geliebt haben und von ihm geliebt wurden, unter dem Kreuz stehen. Ohnmächtig müssen sie miterleben, wie dieses viel zu junge Leben sinnlos gemordet wird.

Neue Lebensperspektive

Wer kann ihre Ohnmacht aufbrechen? Wer kann sie aus ihrer Erstarrung lösen? Wie können sie sich überhaupt dem Leben wieder neu anvertrauen? Jesus selbst ist es, der sie aus ihrer Erstarrung befreit. Er gibt seiner Mutter den Auftrag, den Jünger als ihren Sohn an Jesus statt anzunehmen. Und umgekehrt gibt er dem Jünger den Auftrag, Maria als sei sie seine Mutter, in sein Haus aufzunehmen. Maria und der Jünger bekommen mit diesem Auftrag eine neue Lebensperspektive. Sie können dadurch aus ihrer Ohnmacht treten und erste Schritte wagen, Schritte aufeinander zu, Schritte wieder ins Leben, Schritte des gegenseitigen Annehmens. So ist der Schmerz zu tragen.

Vielleicht haben einige von Ihnen, liebe Gemeinde, das Buch „PS – Ich liebe dich“ gelesen. Es erzählt von einem Mann, der die Nachricht erhält, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Nun nutzt er die Zeit, ein ganzes Paket von Briefen an seine Frau und Familie zu schreiben, die erst nach seinem Tod geöffnet werden sollen. Sein letzter Wille ist es, dass die Familie an besonderen Tagen , wie zum Beispiel Geburts- oder Hochzeitstag, einen Brief von ihm lesen, der eine Aufgabe oder besser einen Wunsch von ihm enthält. So findet die Ehefrau beispielsweise Theaterkarten vor, mit dem Wunsch, diese Vorstellung auch wirklich zu besuchen. Briefe, die seine Frau ermutigen sollen, dass sie die Zeit ohne ihn besser übersteht. Wenn sie diese Aufträge ihres Mannes nicht hätte, würde sie sich sehr wahrscheinlich aus dem Leben mehr und mehr zurückziehen, würde kaum noch aus dem Haus gehen und schon gar nicht so etwas wie Konzert- oder Theaterbesuche unternehmen. Ihr Mann hilft ihr, vor allen Dingen mit diesen drei Worten: „Ich liebe dich“, über seinen Tod hinaus, sich aus der Erstarrung zu lösen und sich dem Leben neu anzuvertrauen.

Ohnmacht und Angst

Ich höre in der Frage des Gospels “Warst du dabei, als sie meinen Herrn kreuzigten?“ auch eine Anklage: Wo warst du, als sie Jesus kreuzigten. Bist du weggelaufen, wie die anderen? Die drei Marien und der Jünger, den Jesus lieb hatte, haben sich wenigstens ihrer Ohnmacht gestellt, haben ausgehalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist. Wo warst du? Warum hast du nichts unternommen, um diesen Mord zu verhindern. Warum läufst du vor deiner eigenen Ohnmacht und Angst davon?

Wir sind es schon gewohnt, die Augen zu verschließen vor dem Leid der Welt. Und trotzdem entkommen wir den Bildern nicht, die uns Menschen in Not zeigen. Titelbilder auf Zeitschriften zeigen uns Menschen, die in Gefängnissen von Aufsehern auf die entwürdigendste Art gedemütigt, gefoltert und misshandelt werden. Ich erlebe mich ohnmächtig, etwas dagegen zu unternehmen und das Rad der Gewalt zu stoppen. Aber selbst da, wo Sie, wo ich uns gegen Gewalt auflehnen könnten, weil zum Beispiel direkt vor unseren Augen ein Mensch geschlagen und von Mehreren verprügelt wird, haben wir Angst und machen uns schnell aus dem Staub. „Bloß nicht darein geraten“ – die Angst, selbst verprügelt zu werden, lähmt uns. Und hinterher? Schämen wir uns für unterlassene Hilfeleistung? Kennen Sie diese Situation? Kennen Sie das, wenn Scham aufsteigt, Wut und manchmal Hass?

Unfassliches Wunder

Heute, an Karfreitag gehen wir Jesu Leidensweg mit. Wir stehen mit den vieren unter dem Kreuz erstarrt in Scham und Ohnmacht über das, was wir unterlassen haben, zu tun: uns gegen sinnloses Leiden und Sterben einzusetzen. Stattdessen schauen wir viel zu oft tatenlos zu. Doch Gottes Antwort auf unsere Ohnmacht ist nicht die, dass er uns sagt: Ihr habt versagt, ihr habt so viel Schuld auf euch geladen, dass ihr nicht wert seid zu leben, sondern seine Antwort ist ganz anders: Sie lautet: Ich liebe dich. Und wie er uns liebt, zeigt er an seinem Sohn Jesus Christus. Jesus steht sein tödliches Leiden ohne Hass durch. Im Gegenteil: Er gibt uns Aufgaben, löst uns aus der Ohnmacht, macht uns handlungsfähig und führt uns aus der Entfremdung mit uns selbst heraus.

Im Sterben und Auferstehen Jesu zeigt Gott uns auch, wie viel wir ihm wert sind. Gott beantwortet unser mörderisches Tun, unsere Scham und Ohnmacht nicht mit Gericht und Vernichtung, sondern er will Leben und uns ins Leben führen. Ausgerechnet das, was wir angerichtet haben und immer wieder anrichten, ist für Gott Anlass zur Vergebung und Anlass seine Menschen maßlos zu lieben. Von einem grausamen Gott, der seinen Sohn opfert kann keine Rede sein. Es ist vielmehr ein unfassliches Wunder, dass Gott gerade da, wo wir uns gegenüber seinem Sohn und unseren Mitmenschen von der mörderischsten und ohnmächtigsten Seite zeigen, dass Gott gerade da erst recht mit uns Frieden schließen will. Diese Liebe erstaunt mich immer wieder. Gott reicht uns die Hand. Der Schritt zur Versöhnung geht von ihm aus. Gott bietet Ihnen, er bietet mir an, sich mit ihm zu versöhnen und darin auch mit mir selber ins Reine zu kommen. Dieser unfassbare Versöhnungsschritt kann gar nicht oft genug und laut genug publik gemacht werden. Darum ruft der Apostel Paulus den Menschen zu: Lasst euch versöhnen mit Gott!

Sich nicht entmutigen lassen

Lassen sie sich also nicht entmutigen, egal welcher Pessimismus, welche Sorgen oder Schmerzen sie auch immer quälen mögen. Nehmen sie doch einfach dieses Angebot wahr, dieses Liebesangebot einer Liebe, die nicht als P.S.-Nachtrag aus der Vergangenheit kommt, nicht als „post scriptum“ ein Nachspruch oder Nachruf ist, sondern ein Vorspruch Gottes. Eine Zusage, die wie eine Überschrift über unserem Leben steht. Eine Zusage, die für jetzt und alle Zeit gilt und galt und nie deutlicher wurde, als an diesem Tag da Jesus für uns gestorben ist.

Amen.

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