Neues Sehen

Gottes Geist findet seinen Weg, er fährt in ein Wort, in eine Begegnung, in einen Busch

Predigttext: Johannes 3,1-8(9-15)
Kirche / Ort: Lutherkirche Baden-Baden / Evangelische Landeskirche in Baden
Datum: 07.06.2009
Kirchenjahr: Trinitatis (Dreieinigkeitsfest)
Autor/in: Pfarrerin Eva Böhme
Predigttext: Johannes 3,1-8[9-15] (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 31 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. 2 Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. [9 Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann dies geschehen? 10 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du Israels Lehrer und weißt das nicht? 11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. 12 Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? 13 Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. 14 Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.]

Theologische Entscheidungen und Gedanken zur Predigt

„Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Das Thema des Gespräches zwischen Jesus und Nikodemus ist im Grunde pfingstlich. Das Evangelium ist damit ein Beleg für die Schwierigkeit, das Trinitätsdogma aus biblischen Texten zu begründen. Ich halte es deswegen für besser, es in diesem Fall erst gar nicht zu versuchen und auf eine systematische Begründung zu verzichten. Wer sich für die Langfassung des Predigttextes entscheidet, wird sich zunehmend in Gegenübersetzungen wiederfinden. Die Gewichte verschieben sich weg von der Frage des neu geboren Werdens hin zum Thema der Einzigartigkeit des Offenbarers. Da aber mit Vers 8 ein Punkt erreicht ist, der die Besonderheit dieser Perikope ausmacht, halte ich die Konzentration auf die Verse 1-8 für angemessen und sinnvoll. Die Perikope bietet viele ansprechende Erzählzüge. Dass Nikodemus Jesus bei Nacht aufsucht, hat unterschiedliche Überlegungen ausgelöst. „Er wählt die Nacht, da sieht ihn kein Mensch. Der Mensch schämt sich nicht, am hellen Tag dem Teufel zu dienen, umso mehr schämt er sich aber, Christus zu bekennen vor der Welt “, überlegt Kohlbrügge. Während Kierkegaard in Nikodemus eher den Bewunderer erkennt, der „von der Nacht verborgen“ unterwegs ist „zu der verachteten Wahrheit“ und dabei immerhin seinen Ruf aufs Spiele setzt, aber kein Nachfolger ist. Vielleicht hat auch Bultmann recht, der den nächtlichen Gang als „Eifer“ bezeichnet, war doch das nächtliche Studium bei den Rabbinern empfohlen, und der den „Ernst“ und die spätere Treue des Nikodemus lobt. Ich neige zu letzerem, womit gleichzeitig gesagt ist, dass ich das Gespräch trotz seiner Brüche und trotz seiner Härte für gelungen und nicht – wie immer wieder zu lesen – für gescheitert halte. Ein Beleg dafür scheinen mir die Hundert Pfund an Salben zu sein, die Nikodemus zum Begräbnis Jesu anschleppt (Kap. 19). Das von Jesus benannte Thema der neuen Geburt richtet den Focus auf die Frage des Sehens. Es geht um ein neues Sehen. Der vom Geist erfüllte Mensch erkennt in allen Dingen den Glanz Gottes. Treffend finde ich den Gedanken ausgeführt in einem Gebet, das mir einmal geschenkt wurde: Gib uns das Staunen des Kindes, dessen Blick sich der Welt zum ersten Mal öffnet. Gib uns das Glück dessen, für den das Leben täglich neu, unschuldig und voller Erwartung ist. Gib uns die Freude des Kindes, das in jedem Ding deinen Glanz entdeckt. Neugeburt, Bekehrung, Wiedergeburt, wer sich von diesen Fragen angesprochen fühlt, findet in dem Abschnitt die klare Aussage, dass es das gibt, aber auch die genauso klare Aussage, dass sich all dies menschlicher Einflussnahme entzieht. Die Frage der neuen Geburt löst in Nikodemus eine starke Resonanz aus. Seine Frage beschränkt sich jedoch auf das wie. Vielleicht ist es überinterpretiert, aber ich erkenne darin den Ansatz des verkopften Menschen, der nach einer Methode sucht, die Dinge bzw. Phänomene in den Griff zu bekommen, um sie dann wieder lehren zu können und vielleicht sogar bestimmen, beeinflussen und schlimmsten falls manipulieren zu können. Die Antwort Jesu enthält eine klare Absage an solche Überlegungen. Keine Methode vermag das einzufangen, worum es geht. Nur Wasser und Geist zusammen ist es möglich. Wer das Wasser sakramental versteht, bewegt sich auf der Ebene des Johannesevangeliums. Jesus selbst hat nicht getauft. Ich selber habe mich entschieden, die Erfahrung sprechen zu lassen. Die sagt ganz einfach: Der Geist Gottes fährt in etwas hinein. Wiedergeburt geschieht nicht an den Dingen dieser Welt vorbei, sondern durch sie hindurch. Der Geist Gottes fährt in ein Wort, in eine Begegnung, in einen Busch. Ist der Geist weitergezogen, brennt der Busch nicht mehr und das Wort unterscheidet sich durch nichts mehr von anderen Worten. Dass das alles ein Geschehen ist, das von oben her geschehen muss, wird im Dualismus von Fleisch und Geist deutlich. Wichtiger erscheint mir aber der krönende Vers 8. Er schärft die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes ein. Wen das bedrückt, der möge darüber nachdenken, wie schrecklich es wäre, wenn der Mensch auch geistlich gesehen in der Hand des Menschen wäre. Wer allerdings zu den Machern zählt und die Zukunft der Kirche in der Hand der Macher sieht, wird hier zu schlucken haben. Nicht wir machen, sondern mit uns wird gemacht. Dass wir trotzdem nicht zur Tatenlosigkeit verdammt sind, erkenne ich in dem „und“ von Wasser und Geist. So wenig der Geist herbeigezaubert werden kann (auch nicht im Gebet) so sehr braucht er doch etwas, in das er hineinfahren kann. Darin liegt das Recht aller Versuche, sich Gott hinzuhalten. Darin liegt auch dass Recht bewährter Methoden.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Wer ist dieser Mann, der nachts durch die Straßen geht, der Jesus aufsucht und dessen Spuren sich fast unmerklich wieder verlieren?

Nikodemus heißt er,
ein Pharisäer ist er,
ein Gelehrter, ein Lehrer,
aber vor allem ist er – ein Mensch.

Sind wir Nikodemus?
Sind wir zusammen mit ihm unterwegs – zu Jesus?
Aber warum des nachts?

Nun, tagsüber ist Nikodemus ein Gelehrter, ein Lehrer, ein Schriftgelehrter. Tagsüber kommen seine Schüler zu ihm. Da lernen sie von ihm, in der Schrift zu lesen und sie auszulegen. Tagsüber holen sich die Menschen bei Nikodemus Rat. Nachts holt er sich selber Rat. Nikodemus weiß: Wer tagsüber um Rat gefragt wird, hat des Nachts selber zum Fragenden zu werden. Wer tagsüber der oft und gern Aufgesuchte ist, hat des Nachts für sich selbst auf der Suche zu sein. Nur wer nie zu hören vergisst, kann auch kompetent reden. Wegweiser kann nur sein, wer sich selbst auf den Weg macht. Für dieses eine Mal legt der Schriftgelehrte Nikodemus jedoch nicht eine der Heiligen Schriften aus, sondern sucht Jesus auf. Kann man seine innere Bereitschaft deutlicher dokumentieren, als er es Jesus gegenüber tut?

„Du bist heute Abend für mich die Heilige Schrift. Unterweise mich. Leite du meine Wege. Ich bin bereit, dir zu folgen.“ Nikodemus leitet das Gespräch dann auch mit einem Kompliment ein: „Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen“. Und jetzt müsste eigentlich eine Frage kommen, etwas, was er von Jesus wissen möchte und was der ihm dann beantwortet. Die Frage kommt aber nicht. Stattdessen reißt Jesus das Gespräch an sich. Er diktiert das Thema.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.2 Woran Jesus wohl denkt, wenn er sagt: Von neuem geboren werden? Ich denke an ein Gebet:

Gib uns das Staunen des Kindes, dessen Blick sich der Welt zum ersten Mal öffnet. Gib uns das Glück dessen, für den das Leben täglich neu, unschuldig und voller Erwartung ist. Gib uns die Freude des Kindes, das in jedem Ding deinen Glanz entdeckt.

Ob Jesus das meint: Die Welt und das Leben noch einmal neu sehen mit den Augen des Staunenden, des Dankenden, des sich Freuenden? Ob Jesus das meint: Nicht immer der Wissende sein, in allem das erkennen, was schon dagewesen ist, die ständige Wiederholung des Alten, als müsste das, was kommt das sein, was schon immer war? „Gib uns die Freude des Kindes, das in jedem Ding deinen Glanz entdeckt.“ Ist es das, was Jesus meint? Mitten im Leben noch einmal neu anfangen zu sehen, zu hören, zu glauben? Nikodemus, gell, da staunst du. Ja, da staunt Nikodemus und wundert sich und fragt sofort: „Wie? Wie kann das geschehen?“ „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist“ Und dann versucht er, es sich vorzustellen. „Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“

„Wie“, fragt Nikodemus. „Wie kann das geschehen.“ Er fragt nicht: „Was. Was zum Beispiel heißt, das Reich Gottes sehen?“ Er fragt „Wie? Wie kann das geschehen.“ Vielleicht denkt Nikodemus schon wieder an den Tag. Wenn es wieder los geht. Wenn er wieder lehren soll, wenn andere ihn um Rat fragen, da ist es immer gut, eine Methode zu haben. „Wie“ fragt Nikodemus, „wie mache ich das, wie schaffe ich das, wie stelle ich das an?“ Ich denke: Bis zum Ende der Nacht hätte er gerne eine neue Methode gelernt und – wenn möglich – eine neue Kompetenz erworben. Aber Jesus blockt ab. „Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Wasser und Geist – das ist keine durchschaubare Methode. Die Gelehrten fragen sich bis heute, was damit eigentlich gemeint sein soll. Nun Wasser, das könnte das Wasser der Taufe meinen. Die wäscht das Alte ab und bringt das Neue ans Licht. Im Wasser wäre dann die Vergebung. Die gibt es ja tatsächlich mitten im Leben. Und danach sieht sich alles noch einmal mit ganz neuen Augen an. Nur: Jesus und taufen. So ganz passen will das nicht. Und wozu braucht es den Geist, wenn es doch das Wasser gibt? Aber vielleicht steckt das Besondere für dieses Mal in dem Wörtchen „und“. Wasser und Geist. Vielleicht ist es ganz einfach so, dass der Geist immer in etwas hineinfahren muss; dass es ihn für uns nicht einfach so gibt. Ich könnte auch sagen: Der Geist braucht, um uns zu erneuern, immer etwas, woran er sich binden kann.

Er fährt in ein Wort
oder er fährt in den Wein
oder er fährt in das Wasser
oder erobert das Herz.

Und das würde dann auch mit dem zusammenstimmen, was viele Christen erzählen. Dass ihnen nämlich irgendwann an einem bestimmten Ort etwas aufgegangen ist, oder ein Wort etwas in ihnen geklärt hat oder eine Stimme sie berührt hat. Aber wenn sie dann später wieder an diesen Ort gehen oder das Wort nachlesen oder die Stimme wieder hören, dann ist da gar nichts Besonderes mehr, dann ist es, wie wenn der Vulkan erloschen wäre, das Feuer nicht mehr brennt, der Wind nicht mehr weht. Wasser und Geist. Auf das „und“ kommt es an. Der Geist bindet sich an etwas. Das ist die Regel. Aber eine Methode ist das nicht. Und Jesus setzt noch eins drauf. „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.“ Nikodemus wird keine Methode mit nach Hause nehmen. Er wird keinen Kurs anbieten, an dessen Ende jeder Teilnehmende ein Zertifikat in Händen hält: Du bist jetzt neu geboren. Nikodemus wird das, was er gelernt hat, nie vermarkten können. Es entzieht sich seinem Können und es entzieht sich seinem Wissen. Muss Nikodemus jetzt traurig sein? Nikodemus, der Lehrer, der Schaffer, vielleicht auch der Macher? Wir wissen es nicht. Vielleicht denkt er auch: „Gott sei Dank. Das Reich Gottes ist nicht in den Händen der Menschen. Gott selbst ist nicht in den Händen der Menschen. Gott ist in den Händen des Geistes. Seines Geistes. Und der weht, wann und wo er will und nicht wann wir Menschen es ihm diktieren“.

Vielleicht ist ja Nikodemus gar nicht traurig.
Vielleicht ist der ewig Lehrende und Lernende ja auch froh.
Vielleicht atmet er auf.
Gott nicht in der Hand von uns Menschen.
Gott selbst in Gottes Hand.
Und auch wir Menschen nicht in der Hand von uns Menschen.
Auch wir Menschen in Gottes Hand.

Und trotzdem kann ich mir vorstellen, dass Nikodemus weiter gemacht hat, wie er es immer gemacht hat.

Er lehrt Menschen, in der Heiligen Schrift zu lesen,
er lädt sie ein, auf Gottes Wort zu hören,
er betet, vielleicht singt er auch.
Denn er weiß ja, auch wenn er nicht darüber verfügt:
Nur wer die Segel aufspannt, wird vom Fleck kommen.
Nur wer das Wort liest, wird auch vom Geist getroffen werden.
Nur wer die Stille sucht, wird auch das Leise hören.
Nur wer sein Herz hinhält, wird auch die neue Sicht empfangen.

Hat Nikodemus den Geist empfangen? Ist es ihm, der sich auf den Weg gemacht hat, geschenkt worden die Welt und das Leben neu zu sehen? Es ist so still geworden um ihn in der Geschichte. Am Ende zielt die Begegnung ja doch auf uns. Am Ende heißt es: „So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Was allerdings Nikodemus anbelangt, taucht er noch zweimal ganz kurz im Evangelium auf. Das eine Mal finden wir ihn (in Kapitel 7) wieder in Amt und Würden. Er sitzt wie früher auch in der Ratsversammlung. Die will Jesus in einem abgekürzten Verfahren verurteilen und alle seine Mitläufer strafen. Allein Nikodemus gibt zu bedenken: „Unser Gesetz fällt doch über keinen das Urteil, ohne ihn zuerst gehört zu haben und ermittelt zu haben, was er tut“. Was für eine Freiheit nimmt sich Nikodemus da als Einziger heraus. Kein Jünger Jesu, aber doch ein Anwalt der Menschlichkeit und des Rechts. Und das andere Mal begegnet uns Nikodemus (in Kapitel19), als Jesus schon tot ist. Um den Toten den letzten Dienst zu erweisen, bringt er zum Begräbnis hundert Pfund einer Mischung aus Myrrhe, Harz und Aloe. Man stelle sich dieses Quantum vor, liebe Gemeinde, hundert Pfund. Dieser Mann bringt hundert Pfund einer Mischung aus Myrrhe, Harz und Aloe. Sollte er das einfach nur so tun? Und nicht vom Geist getrieben? Ja: „Der Geist weht, wo er will und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist“.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Amen.

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