Gott sei uns gnädig

Predigt über einen ungewöhnlichen Häuserspruch - Erinnerungen an die Schlacht bei Minden von 250 Jahren

Predigttext: Jesaja 60,10
Kirche / Ort: Marienkapelle / Hahlen b. Minden
Datum: 21.06.2009
Kirchenjahr: 2. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer em. Hartmut Frische
Predigttext: Jesaja 60,10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) In meinem Zorn habe ich dich geschlagen, aber in meiner Gnade erbarme ich mich über dich.

zurück zum Textanfang

Predigt

Liebe Gemeinde!

Rückblick

in 6 Wochen feiert Minden den 250. Jahrestag der Schlacht bei Minden. Am 1. August 1759 trafen hier auf den Feldern zwischen Hahlen und Todtenhausen französisch-sächsische Truppen und englisch-preußische Truppen, vereinigt mit Truppen aus Hannover; Braunschweig und Bückeburg aufeinander, etwa 100.000 Mann insgesamt. Ungefähr 11.000 Menschen haben diesen Tag damals nicht überlebt. Wir wollen hier nicht die Lebensläufe und Charakterzüge der Heerführer darstellen. Da wäre zu reden von Herzog Ferdinand von Braunschweig, von Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe, von dem Engländer Generalleutnant von Spörcken, dem Franzosen Marschall Contades und anderen. Der Verlauf der Schlacht ist aus vielfältigen Blickwinkeln dargestellt worden. Ich will es auch anderen überlassen, die Bedeutung dieser Schlacht im siebenjährigen Krieg für das aufstrebende Preußen und für die Konkurrenz der Kolonialmächte England und Frankreich um die Vormacht in Nordamerika zu beschreiben. Wir könnten die vorhandenen Berichte von Teilnehmern dieser Schlacht vorlesen, die sie überlebt haben. – Schließlich gibt es den Bericht von Pastor Weber aus Ovenstädt, der darstellt, wie verheerend sich bereits die Einquartierungen der Soldaten auf die einheimische Bevölkerung ausgewirkt hat. Die Menschen hier erlebten in jenen Jahren Krieg, Hunger und Seuchen, die drei Geißeln der Menschheit.

Zeugnis

Wir wollen uns heute morgen an das Zeugnis eines einfachen Bürgers aus Hahlen halten, dessen Nachkommen unter uns wohnen. Wenn man von Hahlen nach Dützen fährt, kann man auf dem Balken im Eingangstor zur Diele am Haus Petershäger Weg 1 lesen: „Anno 1759 den 1. August war allhier eine Schlacht mit den Franzosen. Da musste der Franzose die Flucht nehmen. Indem steckte er dieses Osterhahlen in Brand, dass viele Häuser in die Asche gelegt wurden. Nun ist dieses Haus wieder aufgerichtet. Anno 1760 am 18. Juni. Jesajas 60 Vers 10: Denn in meinem Zorn habe ich dich geschlagen, und in meiner Gnade erbarmte ich mich über dich. Gott sei uns gnädig allhier.“ Vor einigen Tagen wurde diese Inschrift auf dem Balken des Hauses aufgefrischt. Was hat dieser Mann damals hier für alle sichtbar an sein Haus geschrieben? Zunächst einmal die Fakten: Bei dem Kampfgeschehen wurden sein Haus und etwa 40 andere Häuser hier im Dorf in Brand geschossen und gingen in Flammen auf. Das Dach über dem Kopf, die alltäglichen Gebrauchsgegenstände, die wenigen kostbaren Wertsachen und die persönlichen Erinnerungsstücke verbrannten.

Es gibt einen westfälischen Pfarrer, der hat vor etwa 8 Jahren folgendes erlebt: Er machte in Südfrankreich mit seiner Familie Urlaub. Plötzlich klingelt sein Handy. Jemand aus seiner Gemeinde rief ihn an und sagte ihm: „Heute Nacht ist Ihr Haus völlig ausgebrannt. Es ist alles weg.“ Wie mag er sich gefühlt haben? – Ich kann mich erinnern, dass einer meiner Lehrer erzählte, wie er aus dem Krieg nach Hause kam und dann in Hagen vor seinem zerbombten Elternhaus stand. „Ich musste mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite erst mal an einer Wand anlehnen. So war ich erschüttert“, sagte er, und es hat sich mir eingeprägt. Dieser Bürger aus Hahlen und seine Familie hatten lediglich das gerettet, was sie am Leibe trugen. Zu den Fakten allerdings gehörte auch, dass nach wenig mehr als 10 Monaten das Haus wieder aufgebaut werden konnte. – Es stand übrigens in Osterhahlen; erst beim Bau des Kanals vor hundert Jahren wurde es von dort an den Petershäger Weg versetzt.

Deutung

Und dann gab dieser Mann dem Geschehen eine Deutung; er setzte ein Wort aus seiner Bibel auf den Balken im Eingangstor: „Denn in meinem Zorn habe ich dich geschlagen, aber in meiner Gnade erbarme ich mich über dich.“ Ich gehe nicht davon aus, dass der Pfarrer von Hartum dieses Bibelwort vorgeschlagen hat, auch nicht die fromme Großmutter im Haus. Dieser Mann selbst hat bei diesem Geschehen sein tiefstes Empfinden mit diesem Prophetenwort ausgedrückt. Wir zucken zusammen. Da zitiert einer den Gottesspruch: „In meinem Zorn habe ich dich geschlagen.“ Ist das nicht archaisches Denken? Fällt da nicht jemand mitten in der Neuzeit zurück in mittelalterliches Denken? Was sollte Gottes Zorn mit dieser Schlacht zu tun haben? In dem Buch über die Schlacht bei Minden kommt das nicht vor. Aber dieser Mann hat sein ganzes Entsetzen an diesem Tag in diese Worte gefasst. Als die Trommeln los wirbelten, als Gewehr- und Kanonenkugeln hin- und her zischten, als die Ernte zertrampelt wurde und die Häuser Feuer fingen, als immer mehr Tote am Boden lagen und Verwundete schrien (Ein Rotes Kreuz gab es noch nicht.), als sich die Pferdekadaver türmten, als alles voll Pulverdampf war, da haben wir uns elend und verlassen gefühlt wie nie zuvor. Wie viele Menschen bis in unsere Reihen hinein haben solche Situationen erlebt, in denen sie sich von Gott und den Menschen verlassen gefühlt haben! Sie haben zu Menschen und zu Gott gebetet und geschrien: Warum muss uns das treffen? Wie lange soll das dauern? Komme ich hier heil raus? Aber keiner schien zu hören. Besonders schlimm wird es, wenn man sich auf irgendeine Art und Weise in solchen Stunden vor Gott und den Menschen schuldig fühlt. Ich kennen Nächte, in denen ich gedacht habe: „Jetzt hilft Beten auch nicht mehr.“ Ich verliere den Kontakt zu Gott. Martin Luther hat hier von dem verborgenen Gott gesprochen. Gott scheint sich zurück gezogen zu haben. Es scheint so zu sein, als würde er nicht mehr eingreifen und helfen. Die Macht der Anfechtung greift nach unserem Innersten. In der Passionszeit singen wir die Sätze von Paul Gerhard: „Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer den Anblick deiner Gnad.“ (EG 85,4)

Die Menschen in Hahlen und Hartum, in Holzhausen und Todtenhausen, die mitten im Kampfgeschehen waren oder es aus ihren Verstecken im Moor heraus beobachteten, werden damals nicht an Politik gedacht haben, weder an das größer und größer werdende, ehrgeizige Preußen unter dem König Friedrich II.. Er tat alles, um unter die Großmächte Europas gezählt zu werden. Noch an Frankreich und England, die jedes Land für sich noch mehr Kolonien erwerben wollten und um die Vormachtstellung in der Welt kämpften. Für den einfachen Mann hier in den Dörfern war das Kriegsgeschehen schlicht furchtbar. Es war schon schlimm gewesen, wenn die Männer des Militärs in ihren Dörfern herum gingen und junge Soldaten warben. Es ging einem zu Herzen, wenn die Söhne dann erzählten, welchem Drill sie ausgesetzt waren. Im Preußenmuseum kann man sich und seinen Kindern die blutige Prozedur des Spießrutenlaufens klar machen. Und wie furchtbar war es, wenn eine Schlacht um einen herum tobte. Ein preußischer König soll einmal die Parole ausgegeben haben: „Der König hat eine Schlacht verloren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ Aber wie konnte man ruhig bleiben, wenn man die Verwundeten und Sterbenden schreien hörte und sah und es jeden Moment einen selbst treffen konnte? Erst vier Jahre vorher, am 1. November 1755, hatte das Erdbeben von Lissabon die Menschen im von der Vernunft besessenen Europa erschüttert, und Goethe hatte in „Dichtung und Wahrheit“ geschrieben: „Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erde, …hatte sich … keineswegs als väterlich bewiesen“.

Prophetische Stimme

Es ist nicht archaisch, es ist nicht mittelalterlich und es ist nicht lediglich jüdisch-alttestamentlich, jetzt vom Zorn Gottes zu sprechen. „Denn in meinem Zorn habe ich dich geschlagen und in meiner Gnade erbarme ich mich über dich.“ Dies ist ein Wort aus einem großartigen Kapitel. Der Anfang: „Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt“ ist der Beginn des Predigttextes vom 6. Januar, dem Epiphanias-Tag, dem Fest der heiligen drei Könige. Wenn es dann heißt: „Sie werden aus Saba kommen, Gold und Weihrauch bringen“, dann werden die Weisen aus dem Morgenland angekündigt, die kommen, um in Bethlehem Jesus anzubeten. Und wenn es in V. 11 heißt: „Deine Tore sollen offen stehen und weder Tag noch Nacht zugeschlossen werden“, dann kündigt sich hier das Bild vom Neuen Jerusalem an. Wenn der Prophet davon spricht, dass Gottes Zorn sein Volk geschlagen hat, dann blickt er zurück auf die Zerstörung Jerusalems durch das Heer des Königs von Babylon und auf die Gefangenenlager vor den Toren Babels. Alles was den Menschen damals heilig war, der Tempel in Jerusalem, die von Gott erwählte Hauptstadt Israels, der Zusammenhalt des Gottesvolkes, war zerbrochen. Jeremia, Hesekiel und auch dieser Jesaja um 520 v. Chr. haben mitten im Gottesvolk Gott als denjenigen gepredigt, der die Geschicke der Völker in seiner Hand hat. Diese Propheten versuchten auf immer neue Weise den Menschen in ihrem Volk, auch wenn es ihnen jetzt überaus dreckig ging, klar zu machen: Wegen eurer Schuld gibt Gott euch nun preis. Schaut in euer Leben, dann seht ihr, warum Gott so handelt.

Am Anfang meines Studiums hat uns ein älterer Pfarrer auf einer Tagung eingeschärft: „Unsere Bastion, einer unserer Grundsätze muss sein: Gott handelt in der Geschichte! Dagegen wehrt sich der moderne Mensch. Aber wir wollen hier nicht zurück weichen.“ Dieser Gott beschützt, und er gibt preis. Er ist gnädig, und er bestraft. Er liebt, und er wird zornig. Gott ist beides, aber der Schutz, die Gnade und die Liebe sind das Größere. Gottes Zorn ist das heilsame Brennen seiner Liebe. Der Zorn Gottes ist nichts anderes als die Gegenwehr Gottes gegen die Auflehnung des Menschen gegen den Schöpfer. Gott ist Liebe, aber er ist nicht der alte, harmlose Opa im Himmel. Wir haben es nötig, dass wir gedemütigt werden, uns selbst bis in unsere tiefsten Verstecke unseres Wesens erkennen und uns dann nach der Gnade und der Liebe Gottes sehnen. So gilt es, durch die Rätselhaftigkeiten und Grausamkeiten des persönlichen Lebens und der geschichtlichen Vorgänge zu dem Gott durchzudringen, der sich manchmal zu verstecken scheint. Dieser Landwirt aus Osterhahlen vor 250 Jahren bekannte, dass er den Zorn Gottes über die Auflehnung des Menschen gegen Gott erlebt hat. Er wusste sich zusammen mit den Menschen um sich herum von Gott geschlagen. Ob er hier an Fehlverhalten in seinem eigenen Leben dachte, oder ob er an die Mächtigen seiner Zeit dachte, die ihre Herrschaft in Deutschland, in Europa und in der weiten Welt erweitern wollten und deshalb Menschen sterben ließen, kann nur erahnt werden. Warum musste Preußen größer und größer werden, bis es 1945 völlig zerschlagen wurde und den Zorn Gottes in voller Breitseite erlebte? Warum mussten Königreiche Europas ihre Macht über die Menschen in ihren Kolonien ausdehnen und sie unterjochen und ausbeuten? Was hatten sie da zu suchen? Inzwischen haben England und Frankreich ihre Kolonien alle wieder abgeben müssen. Was war damals wirklich Landesverteidigung der einzelnen Länder durch die Obrigkeit, die nach Röm 13 das Schwert nicht umsonst trägt? Und was war menschlicher Hochmut, tief in uns Menschen wurzelnde Herrschsucht, Gier nach einem üppigen Lebensstil und bereits im 18. Jahrhundert unverblümte Gottvergessenheit – wie sie heute so weit verbreitet ist?

Lichtschein

Dieser Bauer aus Hahlen hat sich unter den Gott gestellt, der sich gegen die Auflehnung der Menschen wehrt und der so den Weg freimacht, dass gedemütigte Menschen sich nach der Gnade und der Liebe Gottes sehnen. So konnte er mit seiner Hausinschrift bekennen: „Gott hat sich über mich in seiner Gnade erbarmt.“ Der 1. August 1759 war für seine Familie und ihn ein schrecklicher Tag. Sie haben alles verloren. Aber das Leben ging weiter. Gott selbst und die Menschen in ihrer Nachbarschaft hier haben ihnen geholfen. Und schon am 18. Juni 1760 konnten sie in ihr neu aufgebautes Haus einziehen. Die Felder haben sich erholt. Sie konnten – Gott sei Dank! – wieder ernten. Er und seine Familie haben etwas von dem Lichtschein der Herrlichkeit Gottes erlebt, der so gerne in der Finsternis scheint und sein Licht verbreitet. Dieser Lichtschein bestimmt das Kapitel Jesaja 60, und er leuchtet in Jesus für alle Welt. An diesem Haus in Hahlen leuchtet es eindringlicher auf als in den wuchtigen Feldgottesdiensten der Sieger damals am 2. August 1759 am Rande des Schlachtfeldes. Da wurde von den Soldaten, die eine weiße Rose an ihr Gewehr gesteckt hatten, das mächtige „Te Deum“, das „Großer Gott wir loben dich“ angestimmt und in den Gedenkgottesdiensten 100, 150, 200 Jahre später wiederholt.

Gott sei Dank, dass heute die Feindschaften hier in Europa weithin überwunden sind. Welche Kriegsgräuel hat es in den vergangenen 250 Jahren noch gegeben! Aber Menschen sind aufeinander zugegangen, haben sich die Hand gereicht, Freundschaft miteinander geschlossen und sind Bündnispartner geworden. Nicht wenige haben es als bewusste Christen, die aus der Versöhnung in Christus leben, getan. Wie gut, dass Deutschland inzwischen fest eingebunden ist in die Europäische Union. Wir wollen in Zukunft darauf achten, dass die Menschenrechte aller beachtet werden. Und mit allen unter uns, die Gott aus ehrlichem Herzen suchen, und mit allen, die an Gott von Herzen glauben, wollen wir das Gottesrecht bezeugen und uns demütig darunter beugen. Wie gut, dass da mitten unter uns an diesem Bauernhaus das Gotteswort aus Jesaja 60 steht: „Denn in meinem Zorn habe ich dich geschlagen, aber in meiner Gnade erbarme ich mich über dich“.

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.