Mit offenen Augen und offenen Herzen
Weil wir von Gott angenommen sind, können wir uns selbst und den anderen annehmen in Barmherzigkeit und Verantwortung füreinander
Exegetisches und homiletische Entscheidung
Der Predigttext ist Bestandteil der lukanischen Feldrede (Lk 6,20-49), in deren Zentrum die „goldene Regel“ (Lk 6,31 [Mt 7,12]) steht. Die Perikope Lk 6,36-42 enthält disparates Material, das größtenteils der Logienquelle entstammt und nur lose miteinander verbunden scheint; vor allem Lk 6,40 hat der Exegese immer wieder Anlass zum Rätseln gegeben. Die Abgrenzung des Predigttextes ist schwierig und umstritten wie auch die gesamte Gliederung dieses Teils der Feldrede. Lk 6,36-38 gehört zu einem größeren Redenkomplex, der „von der Feindesliebe und vom Richten“ (Lk 6,27-38) handelt, wobei die lk Thematik „Armut-Reichtum“ den Hintergrund bildet (der „Feind“ ist ein möglicher Schuldner/Bittsteller; Feindesliebe heißt Gutes tun und Geld verleihen, ohne das Prinzip der Gegenseitigkeit; eben das meint auch ‚Barmherzigkeit’ [Lk 6,36]). Lukas verändert das absolute Richtverbot bei Matthäus (7,1), stellt es unter den Gesichtspunkt der Barmherzigkeit und bietet eine viergliedrige Formel (2 Verbote, 2 Gebote [Lk 6,37f.]). Die Verse Lk 6,39-42 hingegen gehören zu dem nächsten Abschnitt, einer Gleichnissammlung (Lk 6,39-49). Lk 6,39b verknüpft dabei die Gleichnisrede mit dem vorangehenden Abschnitt (Lk 6,37f): Wie kannst du dich als Richter aufspielen, wenn du selber blind bist? Der historische Kontext von Lk 6,41-42 ist vermutlich ein Gruppenkonflikt, angesichts dessen die Christen ermahnt werden, sich nicht über ihre Geschwister zu erheben. Der Perikope hat viele Aspekte; man muss auswählen. Ich entscheide mich gegen die lk „Reichtum-Armut“-Problematik und für den Themenkomplex „Richten-Vergeben-MiteinanderUmgehen“. Die goldene Regel fungiert dabei als der richtige Schlüssel für ein menschliches Miteinander. „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, tut ihr ebenso ihnen. (Lk 6,31).“ Den Aspekt der himmlischen Vergeltung lasse ich bis knappe Anspielungen („Das wäre himmlisch!“ etc.) außen vor. Das wäre eine andere Predigtthematik (Vergeltung, letztes Gericht, Allversöhnung etc.). Literarisch reizvoll und geeignet zur Illustration erscheint mir insgesamt die Metaphorik „Auge“ – „Herz“ (barmherzig!). Die Predigt hat sechs Abschnitte. Nach einem Predigteinstieg (I.), der am Schluss der Predigt (VI.) aufgegriffen und modifiziert wird, möchte ich in einem ersten Gedankengang (II.) kurz vor Augen führen, wie es sich anfühlt, nicht gerichtet, verdammt zu werden. Ein zweiter Gedankengang (III.) kreist um die Problematik des absoluten Richtverbotes. Recht zu sprechen ist nötig, solange wir in dieser Welt leben. Der Verzicht auf Richten schafft kein Recht. Es kommt aber darauf an, wie man einander begegnet, nämlich mit offenen Augen und offenen Herzen. Dass das nicht die Regel in unserem Leben ist, führt der folgende Predigtteil vor Augen (IV). Der letzte Gedankengang ermuntert, „einander mit den erleuchteten Augen des Herzens (Eph 1,18)“ zu sehen. Wir sind dazu in der Lage, weil Gott uns mit den Augen der Liebe ansieht. Das öffnet auch uns die Augen. Weil wir von Gott angenommen sind, können wir uns selbst und den anderen annehmen in Barmherzigkeit und Verantwortung füreinander.Predigt
Liebe Gemeinde!
Ein Herz, das Erbarmen hat
Manchmal möchte ich sein wie der liebe Gott. Geht Ihnen das auch so? Wenn ich der liebe Gott wäre, dann wäre das Wetter immer gut. Den Bösen würde es schlecht gehen. Mit machtvollem Arm würde ich Wundertaten tun und alle wären glücklich. Ein bisschen wie Superman. Aber das ist natürlich vermessen – wie Gott sein wollen. Oder doch nicht? „Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist.“ – Also soll ich doch ein bisschen wie Gott sein. Aber das sieht ein wenig anders aus wie Superman. Ich bin dann wie Gott, wenn ich barmherzig bin. Ein altmodisches Wort. Das klingt nach Herz und Erbarmen. Weniger nach Superman. Also nicht durch Wolkenkratzerlandschaften fliegen, die Schlechtwetterwolken souverän mit einem Arm wegdrücken und mit dem anderen die Welt retten. Barmherzig sein: Kein machtvoller Arm, der Wundertaten tut. Sondern ein Herz, das Erbarmen hat. Dadurch wird die Welt besser?
Wie es sich anfühlt, nicht gerichtet, verdammt zu werden
Liebe Gemeinde! „Und richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet auch ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird auch euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben.“ – Ich stelle mir kurz vor, mir würde das so gehen, mit mir würde man so umgehen. Das wäre himmlisch. Keiner steckt mich in eine Schublade, sondern jeder nimmt mich ernst, so wie ich bin. Keiner verurteilt meine Entscheidungen, sondern jeder respektiert meinen Weg. Man sagt zu mir: Ich verzeihe dir, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Wenn ich Hunger habe, gibt man mir zu essen. Das klingt wundervoll. Und das geht auch ohne überirdische Kräfte. Die wirklichen Wunder in unserem Leben kommen ohne Saus und Braus, sie kommen mit leisen Schritten und sanften Blicken, mit einem versöhnenden Wort und einer ausgestreckten Hand, mit einem offenen Ohr für Freude und Not. Wenn ich mir überlege, wie gut mir das würde, will ich mein Herz auch für andere öffnen. „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, tut ihr ebenso ihnen.“ (Lk 6,31)
Absolutes Richtverbot?
Doch an einem bleibe ich hängen. „Und richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet.“ – Es wäre schon schön, wenn keiner richtet. Keine Lästerein, keine bösen Leserbriefe. Sondern Freibriefe für jeden und für alles. Du bist o.k. – ich bin o.k. Easygoing. Das wäre doch schön, wenn keiner richtet. Jeder hätte seine Ruhe. Das wäre zwar schon irgendwie schön, aber da wäre auch niemand, der Recht spricht und andere ins Recht setzt. Niemand richtet. So angenehm das beim ersten Hören klingt – das wäre doch ein billiger Friede, für den so mancher teuer bezahlen muss. Nicht zu richten – das ist nicht barmherzig, das ist fahrlässig, manchmal auch schlicht feige. Laissez-faire ist nicht wirklich fair. Rechtsfreie Räume haben nichts mit Erbarmen zu tun. Da gilt automatisch das Recht des Stärkeren. Ich erinnere mich an eine Situation in der S-Bahn. Eine ältere Frau mit einer Behinderung. Eine Gruppe Halbstarker. Sie machen sich lustig über die Frau, demütigen sie. Erst als sie anfangen, die Frau körperlich zu bedrängen, schreiten einige Fahrgäste ein und verschaffen der Frau ihr Recht, verurteilen die, die ihr Unrecht tun. Richten ist nötig. „Sieh zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ Um der Opfer willen.
Der Verzicht, Recht zu sprechen, setzt die Opfer ins Unrecht. Es ist nötig die Stimme zu erheben, Unrecht Unrecht zu nennen, zu urteilen und auch zu verurteilen. Aber mit offenen Augen. Unverhüllt auch sich selber sehen. Seine Vorurteile. Nicht wie Moralapostel, die ihre eigenen Schwächen, all die dunklen Flecken auf ihren unsichtbaren Richterroben nicht sehen wollen, bei anderen aber mit kritischen Feldherrnblick umso genauer hinsehen. „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und dann sieh zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ Es ist nötig die Stimme zu erheben, Unrecht Unrecht zu nennen, zu urteilen und auch zu verurteilen. Aber mit offenen Augen. Wenn es sein muss, auch noch mal hinsehen. Und wenn es dann nötig ist, sich auch korrigieren. Nicht als Blinde, sondern sehenden Auges einander begegnen.
Auch Sehende können blind sein
Liebe Gemeinde, auch Sehende können blind sein. Es gibt viele Arten blind zu sein. Den Blick in die Ferne richten, wenn der Nächste leidet. Zu oft ein Auge zudrücken, weil es einfacher ist. Geblendet von Erfolg und Schönheit den Blick für das Wesentliche verlieren. Alles durch die rosa Brille sehen, weil es angenehmer ist. Oder immer schwarz sehen, weil der Mut zum Leben fehlt. Auch Sehende können blind sein. Wenn man nur noch rot sieht, weil das Herz vor Wut brennt. Wenn Angst das Urteilsvermögen überschattet und Scheuklappen den Blick eng machen. Wenn man sich den Blick verstellen lässt, die Augen einfach schließt, weil man der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen will. Wenn man den Unliebsamen übersieht, einfach nur eine Seite sieht, auf einem Auge blind ist. Oder auch: Blind ist für die eigenen Fehler, blind gegenüber der Not der Mitmenschen, die uns doch überall ins Auge springt, wenn wir genauer hinsehen würden. „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“
Auch Sehende können blind sein. Wenn das viele sind, entsteht ein Heer von Blinden. Blinde Blindenführer, die einander den Weg weisen. Das dient nicht dem Leben. „Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ Wenn du mich nicht siehst, warum sollte ich dich sehen? Und wie man es in den Wald hineinruft, so schallt es auch zurück. Dann tappen wir alle im Dunkeln. Blind füreinander, blind für den Weg, blind für das Recht. Augen voller Splitter und Balken. Man sieht den Wald vor Bäumen nicht und erst recht keinen Ausweg. Düstere Aussichten. Gute Nacht!
Einander mit den erleuchteten Augen des Herzens sehen
Liebe Gemeinde, Jesus hat uns die Augen geöffnet. Als die Jünger dem Auferstandenen begegnen, heißt es: „Ihre Augen wurden aufgetan…“ (Lk 24,31). Das Licht des Lebens ist über uns aufgegangen. Gott sieht uns an mit den Augen der Liebe, er sieht uns, wie wir wirklich sind, blickt durch jede Fassade. Er sieht uns direkt ins Herz. Das macht auch uns barmherzig. Gott sieht uns mit den Augen der Liebe an. Diese Liebe macht nicht blind. Sie erst öffnet uns die Augen für uns selbst und füreinander. Wir müssen nicht blind sein, müssen nicht sehenden Auges durch das Dunkel tappen. Mit den „erleuchteten Augen des Herzens“ (Eph 1,18) nehmen wir uns und den anderen anders wahr. Dann sehe ich nicht nur den Splitter im Auge meines Nächsten, sondern entdecke auch die ein oder andere finstere Ecke in meiner Seele, den ein oder anderen dunklen Fleck auf meiner Weste. Und weiß, ich bin auch nicht besser als er. Aber ich weiß auch, ich bin nicht nur schlecht.
Mit den „erleuchteten Augen des Herzens“ (Eph 1,18) sehe ich nicht nur den Splitter im Auge meines Nächsten, sondern sehe ihm auch ins Gesicht. Sehe, was sein Herz bewegt, sehe nicht nur die Fehler, sondern den ganzen Menschen. Ganz andere Gesichtpunkte drängen sich mir dann auf, zwingen mich genauer hinzusehen, noch mal nachzusehen – und dann ich werde vielleicht nachsichtig. Da ist nicht nur das 15jährige Mädchen, das einen Lippenstift hat mitgehen lassen. Da ist nicht nur ein Diebstahl oder gar das erste Anzeichen von krimineller Energie, sondern ein Mensch, der Gruppendruck ausgesetzt ist, dazugehören will, Mut zeigen muss. Ausgeschlossen sein ist schwer. Gerade in einem Alter, wo sich die Welt ganz neu erschließt. Wenn ich das alles sehe – mit offen Augen, Ohren und Herzen – dann öffnet mir das den Mund. Ich finde vielleicht die richtigen Worte, die das Herz meines Gegenübers erreichen. Und vielleicht sieht auch das junge Mädchen die Welt und sich danach ein wenig anders. „Nur mit dem Herzen sieht man gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ (Antonine de Saint-Exupéry). So möchte ich gesehen werden, so möchte ich andere sehen. Mit offenem Auge und offenem Herzen: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, tut ihr ebenso ihnen.“ (Lk 6,31) – „Vergebt, so wird auch euch vergeben“.
Ein bisschen Himmel auf der Erde
Liebe Gemeinde, wenn wir Augen und Herzen füreinander öffnen würden, dann wäre das Wetter auch nicht immer gut. Aber wir würden die Bösen vielleicht in einem anderen Licht sehen und uns selbst auch. Mit Barmherzigkeit würden wir einander begegnen und alle wären ein wenig glücklicher. Das ist zwar nicht Superman, aber ein bisschen Himmel auf der Erde. Und das ist auch nicht nichts!
Amen