Gottes Haus – Als Kirche an der Seite Israels wachsen und bestehen
Zum Israelsonntag - Zehnter Sonntag nach Trinitatis im christlichen und Neunter Av im jüdischen Kalender
Einstimmung in Kasus und Predigttext
Manche Verwirrung mag hie und da entstehen. Da trägt der 10. Sonntag nach Trinitatis als einziger in der langen Reihe der nach dem Dreifaltigkeitsfest gezählten Sonntage einen besonderen Namen: Israelsonntag. Wer nicht theologisch denkt, hat vor Augen allein den modernen Staat Israel, nun im 61. Jahr existierend, immerhin, mehr aber nicht. Wer aber die Bibel kennt, hat weit mehr Assoziationen bei „Israel“: Zweitname Jakobs, der Norden der beiden Staaten in der Nachfolge des salomonischen Reiches und untergegangen, Name des ganzen Landstrichs am Mittelmeer. Bezeichnung des Judentums aller Zeit („Ganz Israel wird gerettet werden ...“). Sodann gibt es offenbar verschiedene Predigt-Zugänge an diesem Sonntag: Auf den Faltblättern des Neukirchner Verlags findet sich als Predigtabschnitt ein Stück aus dem Markusevangelium: Jesus und ein Schriftgelehrter in tiefstem Einverständnis, zwei, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen, die Bibelstelle mit dem „Höre, Israel“, das Doppelgebot der Liebe aus den Büchern der Thora, den ersten fünf Büchern der Bibel, zwei, die so fest beieinander bleiben, dass kein Blatt dazwischen passt: „Niemand wagte mehr, ihn zu fragen“, heißt es da. Wer aber in der Vorbereitung auf den Gottesdienst hinten im Gesangbuch unter dem entsprechenden Sonntag nachgeschaut oder das Deutsche Pfarrerblatt gelesen hat, fand einen Abschnitt aus dem Lukasevangelium angegeben, wo Jesus dem Tempel gegenübersteht und weint und dann die Händler aus dem Tempel treibt, um statt ihrer sich selbst dort hinzustellen, zu lehren, zu predigen, in der Öffentlichkeit. Wer gar im Internet stöberte, was denn am 10. Sonntag nach Trinitatis gepredigt werden könnte, fand ähnlich Verwirrendes. Herausfordend ist die exegetische Einsicht: Im Zweifel die schwierigere Variante! Außerdem ist daran zu denken: Den ganzen Sommer seit Trinitatis bedenkt die liturgische Ordnung, wie es sich denn mit der Kirche verhalte: Wie sie von der Taufe herkommt und wovon sie lebt, was ihr mitgegeben ist und was sie zu tun hat. Am 10. Sonntag nach Trinitatis geht es um die Frage: Was hat die Kirche in der Gegenwart Israels, in der Gegenwart des Judentums, über sich zu sagen. Wie hat sie sich selbst zu verstehen - aus Israel herkommend in ihrem Herrn und an Israels Bund sich anschließend. Lieder: „Du hast uns, Herr, gerufen“ (EG 168,1-3), „Laudate, omnes gentes“ (EG 181.6), „Nun danket Gott“ (EG 290, 3+4, 6+7), „Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all“ (293, 1-3), „Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit“ (EG 300, 1+3, 3.Str.: „Gott heilge dich in seinem Haus“) Psalm: 122 (nicht im EG) „Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn“ - Abschluss: Zusammen mit Israel preisen auch wir aus den Völkern den einen Gott und Vater und singen: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist…“Predigt
Liebe Gemeinde!
Erinnern
Es war der letzte Schultag, eineinhalb Wochen ist es her. Am Nachmittag haben Jugendliche in Ettlingen das Mahnmal zum Gedenken der Deportierten im Rosengarten enthüllt. Nicht nur aus der Stadt Ettlingen waren Menschen gekommen. Nicht nur Vertreter der Kirchen. Wir konnten David Seldner begrüßen, den Vorsitzenden der israelitischen Kultusgemeinde Karlsruhe, und Solange Rosenberg, die jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Es waren nicht einmal die einzigen jüdischen Menschen bei der Aufstellung, sie alle erwiesen uns mit ihrer Anwesenheit eine große Würdigung. Auch deshalb, weil nach dem Festakt die Gedanken gleich schon wieder weiterführten: Am selben Abend begann der Feiertag des 9. Tages im Monat Av des jüdischen Kalenders, der Gedenktag der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Eben jenes Tempels, den auch Jesus noch erlebt hat – der Überlieferung nach wurde er am selben Tag zerstört wie das Vorgängerheiligtum, jener Tempel, den Salomo gebaut hat. Was hatte Milena, eine der Jugendlichen, an jenem Nachmittag über ihre Fliese am Mahnmal gesagt: „Die Tränen stellen die Trauer dar“.
Mit dem neunten Av stand eben für die jüdischen Menschen in unserem Kreis ein Tag der Trauer und der Klage gerade unmittelbar bevor, ein Fastentag, an dem mit dem Gedenken an die Zerstörung der Tempel auch die Zerstörung von Synagogen in all den Jahrhunderten seither gegenwärtig ist, die Zerstörung jüdischen Lebens in Europa und darüber hinaus. Mit der Trauer waren auch viele der Fragen präsent, Fragen nach Ursachen und Gründen der Zerstörung, nach Anlässen und Wirkungen, nach Schuld und Verantwortung. Aber in den Synagogen in Karlsruhe, in Heidelberg, in Konstanz und Freiburg und überall auf der Welt war auch von Hoffnung die Rede, von Trost und Gottes beständiger Begleitung. Dies alles wurde in den Predigten, den biblischen Lesungen, in den Liedern und Gesprächen gegenwärtig. Hören wir, wie der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus den Tag der Zerstörung im Jahre 70 der Zeitrechnung, im Jahre 70 nach Christus, beschreibt:
„Während der Tempel brannte, raubten die Soldaten, was sie fanden und töteten, die ihnen in die Hände fielen. Kein Erbarmen hatten sie mit dem Alter, keine Achtung vor der Würde. Kinder und Greise, Laien und Priester wurden ohne Unterschied ermordet. Unter allen Schichten wütete der Krieg, ganz gleich, ob die Menschen um Gnade flehten oder sich zur Wehr setzten. In das Prasseln der überall hervorbrechenden Flammen mischte sich das Stöhnen der Niedergeworfenen. Wegen der Höhe des Hügels und der Größe des brennenden Gebäudes konnte man glauben, die ganze Stadt stehe in Flammen. Grausiger aber und gellender lässt sich nichts denken als das Geschrei, das über dem Ganzen lag. Denn während die römischen Legionen in geschlossenem Zuge vordrangen und ihre Kriegsrufe anstimmten, erschollen gleichzeitig die Klageschreie der von Feuer und Schwert umringten Empörer; und darein klangen die Weherufe des oben abgeschnittenen Volkes, das angsterfüllt flüchtete und in die Hände der Feinde fiel. Mit dem Geschrei derer auf dem Hügel verband sich das der Volksmenge in der Stadt, wo viele der Unglücklichen, die der Hunger schon ausgemergelt und stumm gemacht hatte, beim Anblick des brennenden Tempels den Rest ihrer Kräfte zusammenrafften und klagten; der Widerhall von Peräa und den umliegenden Bergen machte das Getöse noch entsetzlicher. Jedoch fürchterlicher als der Lärm waren die Leiden. Der Tempelberg schien vom Grund her zu glühen und rings in Feuer gehüllt; aber noch voller als die Flammenbäche schienen die Blutströme zu fließen und zahlreicher als die Mörder waren die Gemordeten. Vor Leichen sah man den Boden nicht mehr; über Berge von Toten stürmten die Soldaten den fliehenden nach“. Soweit der Bericht des Flavius Josephus.
Mitleiden, mitfühlen, mittrauern, sich miteinander an Gott halten
Mit der Zerstörung des Tempels wurde weit mehr als ein Gebäude vernichtet. Damit Die militärischen Sieger haben damit auch den Gott dieses Tempels in Frage gestellt, haben Tod und Vernichtung symbolisch auch an Gott vollzogen. Wenn im Laufe der Geschichte Synagogen zerstört wurden, ging es ebenfalls um mehr als Häuser. Damit war immer auch das Innerste betroffen, immer auch das Allerheiligste, immer auch Gott selbst. Der Jesus, der uns im Predigttext aus dem Lukasevangelium begegnete, voll Trauer um den Tempel, selbstkritisch beteiligt am innerjüdischen Gespräch um politische Verantwortung auch in der Niederlage, in und am Untergang, prophetisches Zeichen der Hoffnung setzend, eingebunden in den heftigsten Streit, was für die Zukunft der richtige Weg sei, würde sich auch heute mühelos in eine jüdische Gemeinde am 9. Av einfinden. Er würde mit trauern und mit fasten, würde zusammen mit der Gemeinde auf die jüdische Geschichte zurückschauen und würde die Fragen nach Ohnmacht und Macht, nach Erleiden und Verantwortung mit bedenken. Wie alle anderen würde er sich an Gott, den Vater, halten, seines Bundes gedenken, der von Gottes Seite her – was immer sonst geschieht – unauflöslich ist und deshalb Trost und Hoffnung aufscheinen lässt. Hat sich doch in Gottes Beständigkeit, in seiner Treue, in seiner bleibenden Gegenwart, gezeigt, dass er sich durch menschliche Macht nicht in Frage stellen lässt, sondern Gott hat – gegen alles, was Menschen auch im Widerspruch dazu versuchten – seine bleibende Gegenwart, seinen Bund, seine Treue, seine Macht, sein Geleit zugesagt und immer wieder bestätigt. Gott sei Dank!
Mit jenem besonderen jüdischen Gedenktag, mit dem 9.Av, ist auch der heutige Sonntag verknüpft, hat von jeher darauf Bezug genommen, wenn auch im Laufe der Geschichte in unterschiedlicher Weise. Dass der Tempel Jerusalems zerstört ist, der Ort, den Gott zur Begegnung vorgesehen hatte, der Ort der Sühne und der Versöhnung – all dies hat wie die jüdische Bevölkerung auch die christliche stets wahrgenommen. Aber sie hat daraus keineswegs die gleichen Fragen abgeleitet, keineswegs die gleichen Antworten darauf gegeben. Blicken wir in die Geschichte zurück, stellen wir fest: Ausgerechnet die erste und einfachste und natürlichste Reaktion, wie sie Jesus zeigte, die brachte die Kirche gegenüber den Betroffenen am wenigsten auf, nämlich Mit-Leid und Mit-Gefühl und Mit-Trauer. Sie hat sich gerade nicht mit den Trauernden solidarisch gezeigt, sondern allzu oft mitleidlos, hartherzig, gar gehässig. Doch: sich auf die Seite der Zerstörer zu stellen, heißt sich gegen Gott selbst zu stellen. Sich als Christen auf die Seite der Zerstörer zu stellen, heißt, den Grund, die Basis des eigenen Glaubens der Zerstörung anheim zu geben. Dabei hat gerade der Evangelist Lukas sein ganzes Evangelium rund um den Tempel angelegt. Das Evangelium beginnt im Tempel beim Dienst des Zacharias, dem Vater von Johannes dem Täufer. Es endet damit, dass die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu beständig im Tempel bleiben. Und das religiöse Leben Jesu nimmt seinen Anfang mit seiner Beschneidung im Tempel, und er setzt es fort, indem er schon als Jugendlicher mit den Eltern die Wallfahrt nach Jerusalem unternimmt und dann hartnäckig im Tempel bleibt, im Gespräch über der Schrift, während alle anderen sich schon wieder auf dem Heimweg befinden. Auf der Höhe seines öffentlichen Wirkens sucht Jesus nocheinmal Jerusalem auf, zum Wallfahrtsfest, zu Pessach. Nicht irgendwo im Lande geht er auf das Ziel seines Lebens zu, sondern eben in Jerusalem. Indem Jesus dort predigt, in demonstrativer Gebärde und in symbolischen Handlungen wirkt, Pessach in der Hauptstadt und im Zentrum der römischen Besatzung feiert, das Fest der Befreiung, stellt er sich in die Reihe der Propheten Israels hinein.
Wenn Jesus Händler im Tempelareal angreift, gar Tische umwirft, Beschäftigte vertreibt, in den Alltag von Kaufen und Verkaufen einbricht, Wallfahrt und Tourismus stört, Frömmigkeit angreift, die sich mit Kommerz verknüpft, hält er es wohl schier nicht mehr aus. Er sieht die Zerstörung kommen, sieht die Trauer, das Elend, den Schmerz. Dieser ganz normale Alltag mag ihm nur noch zynisch erscheinen, gotteslästerlich, widerlich, pervers. So sehr ist Jesus von Jammer erfüllt, obwohl sich doch noch alles in Pracht und Schönheit erhebt. Jesus nutzt den Tempel eben in der Weise, wie Frömmigkeit und Glaube auch nach der Zerstörung ihren Ausdruck finden können: als ein Haus für Gebet und Lehre. So, wie auch heute in jeder Synagoge gebetet und gelehrt wird. Wie Jesus damals die Schrecken der Zukunft in seine Gegenwart hereinholte, so holt heute der neunte Av die Zerstörungen der Vergangenheit in unsere Gegenwart, in die jüdische und in die christliche.
Als Kirche an der Seite Israels wachsen und bestehen
Zur Zeit Jesu jedoch erleben die Menschen eine Zeit scheinbarer Ruhe, ergehen sich in Festtagstrubel und Tagespolitik. Die Staatraison gebietet diplomatische Ausgewogenheit gegenüber den Römern. In solchem Umfeld verstört und verärgert das Verhalten Jesu, der die Zerstörung des Tempels vorweg nimmt, indem er jetzt schon trauert, klagt und weint. Eine ganz andere Stimmung lassen die Jünger und Anhänger Jesu erkennen – Lukas berichtet darüber nur wenige Zeilen zuvor, wie sie Jesus einen Triumphzug bereiten, singen und jubeln, ihn als Gottes Gesandten begrüßen und mit solchen Hoffnungen doch geradewegs dem Untergang entgegengehen. Jesus ist nicht der erste Bote, der um seiner Unheilsbotschaft willen verfolgt und mundtot gemacht und letztlich beseitigt wird. Doch Gottes Liebe lässt sich nicht auslöschen, Gott lässt sich die Zusage seines Bund nicht nehmen – nicht indem man seinen Tempel zerstört, nicht indem man seinen Boten beseitigt.
Der Wochenspruch heißt: „Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat“. Gott handelt, Gott erwählt, Gott nimmt sich seines Volkes an und hält an seinem Erbteil, Israel, fest. Darum können wir Israel selig preisen. Wohl dem Volk, das der Herr erwählt hat. Dies gilt, was auch immer Menschen daran zu bestreiten versuchen. Der heutige 10.Sonntag nach Trinitatis und der 9.Av erinnern uns an die Zerstörung des Tempels durch Menschenhand und an unsagbare Trauer, aber auch an Hoffnung und Gewissheit, weil Gott seinem Volk treu bleibt und sein Volk bei ihm bleibend geborgen ist. Das hält und trägt auch unseren christlichen Glauben, lässt die Kirche an der Seite Israels wachsen und bestehen. Daran können wir im Gebet anschließen, können Schuld bekennen, um Vergebung bitten und Gott für seine Treue danken, ihn loben in Ewigkeit und so Jesus, seiner Lehre und seinem Gebet, folgen.
Amen.