Staunen über Gottes Fülle – Erinnerung seitens unserer jüdischen Schwestern und Brüder
Zum Israelsonntag - Zehnter Sonntag nach Trinitatis im christlichen und Neunter Av im jüdischen Kalender - Können sich Juden und Christen wechselseitig als Reichtum begreifen?
Predigt
Liebe Gemeinde!
Auf der Suche
Nein, das unterstelle ich ihm nicht. Es müssen nicht alle Pharisäer und Schriftgelehrte in der Front gegen Jesus stehen. Jesus wird hier zwar auf Schritt und Tritt auf die Probe gestellt, in Auseinandersetzungen verwickelt. Doch diesem Schriftgelehrten bescheinigt Jesus am Ende, er sei nicht weit vom Reich Gottes. Er war sicher kein Anhänger Jesu. Vermutlich war er wie z.B. Nikodemus ein Suchender, ein Unsicherer. Ihm hatte imponiert, wie Jesus sich behauptet hatte; er war zum Nachdenken gekommen. Als Jude suchte er nach dem Kern der göttlichen Weisungen, er wollte die Fülle der Tora auf den Punkt bringen. Auf den Punkt: Gott war einer – das stand für einen Juden außer jeder Diskussion. Alles konzentrierte sich in diesem Glauben auf den einen Gott. Ob es ebenso möglich ist, die Fülle, Überfülle an Geboten, Weisungen, Regeln in gleicher Weise zu konzentrieren auf das Eine, Zentrale? Gott ist einer, wie in Ringen entfaltet sich der jüdische Glaube in seiner Fülle um den Punkt im Wasser, den der hineingeworfene Stein verursacht hat. Von welchem Gebot könnte wie von einem zentralen Punkt die Fülle der jüdischen Weisungen sich erklären? Hätte Jesus ihm ein Gebot genannt, wäre das wohl in Ordnung gewesen. Er sucht den zentralen Punkt und Jesus gibt die zentrale Antwort:
„Höre Israel, Gott, der Herr, ist einer und du sollst deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, aus ganzer Seele, mit ganzem Verstehen und aus aller deiner Kraft“.
Das zwingt sich geradezu auf: Ist der Glaube an den einen Gott das Zentrum, lautet das zentrale Gebot logischerweise: Du sollst diesen Gott über alles verehren! Das hätte genug sein können. Doch Jesus gibt eine doppelte Antwort. Das zweite ist dem gleich. Den Glauben Israels habe ich verglichen mit einem Steinwurf ins Wasser: Was sich daraus entwickelt, hat seinen Ursprung in dem zentralen Punkt: Gott ist einer! Die Gebote, Weisungen, Lebensregeln ähneln eher einer Ellipse. Die hat zwei Brennpunkte; was es sonst gibt an Regeln, Empfehlungen, Vorschriften ordnet sich um diese beiden Punkte.
Zentrales Gebot?
Ich würde Jesus gerne fragen: Gibt es das eine zentrale Gebot denn nicht? Den Kernpunkt in der Fülle der Lebensregeln? Zweimal zitiert Jesus aus seiner jüdischen Bibel, aus unserem Alten Testament. Vielleicht gibt es das in der Tora, der Weisung für das Gottesvolk, tatsächlich nicht: ein Gebot als zentraler Kernpunkt für alle anderen. Jesus hätte ja eine Zusammenfassung versuchen können. In meiner Fantasie etwa so: Lass dich bestimmen von der Liebe, sowohl von der Liebe zu Gott wie von der Liebe zu deinen Mitmenschen! Aber nun hat auch diese Zusammenfassung ihre zwei Glieder: Liebe zu Gott und Liebe zum Mitmenschen. Jesu Gegenüber wollte ja nun wissen: Welches konkrete Gebot aus der Fülle der biblischen Weisungen ist nun das zentrale? Da fiel Jesus nur die Doppelantwort ein: Er musste zwei nennen. „Das zweite aber ist dem gleich!“ Jesus muss also entfalten, auseinander falten. Seine Antwort gibt es nicht einfach: Gott gegenüber gilt die Liebe – dem Mitmenschen gegenüber gilt auch die Liebe. So weit liegen beide Weisungen nicht auseinander. Aber Jesus zeigt ihm: Mach dir bewusst, wen du als Gegenüber hast! Es gilt zwar in beiden Fällen die Liebe; aber du kannst nicht im Ernst Gott lieben und den Mitmenschen außer Acht lassen. Und umgekehrt: Du kannst nicht deinen Mitmenschen achten, ehren, Gott aber aus den Gedanken lassen. Jesus ent-faltet.
Nicht nur mein Verhalten gegen andere muss sich entfalten. Der Glaube selbst will sich entfalten. Für den Islam ist Gott ebenso streng nur Einer wie für die Juden. Doch für sein Wesen werden im Koran 99 Eigenschaften benannt. – Ich weiß nicht, ob es zählbar ist, wie viele Bilder für Gott es im Alten Testament gibt. Für uns Christen ist die Suche nach Bildern immer noch offen: Wie lässt sich neu umschreiben, wer Gott ist – in der Entwicklung der Geschichte, in der Entwicklung unseres Lebens…? Wir kennen das ja auch von uns: Wer bin ich? Hoffentlich einer. Hoffentlich erleben mich andere als geschlossen und wissen: So sind sie dran mit mir. Andererseits entfaltet sich mein Wesen in verschiedenen Schichten. Die alten Griechen unterschieden zwischen Leib, Seele, Geist. Das sind nur Schichten, verschiedene Sichtweisen: Ich bin Körper und bin das als ganzer. Ich bin Seele mit der Fülle von Bildern, ererbt in einer unendlich langen Vorgeschichte vor meinen Lebenserfahrungen. Ich bin Geist: Ich bin mir meiner selbst bewusst, ich trete in ein Verhältnis zu meiner Umwelt. Ich bin das alles als ganzer, das zerreißt mich hoffentlich nicht. Und trotzdem: Diese Fülle, Vielfalt bin ich auch.
Liebe
Jesus nennt die Liebe das entscheidende Kriterium. Auch die Liebe ist natürlich eine: Ich wende mich ungeteilt dir zu! Aber wir wissen, erleben, was alles unter Liebe verstanden werden kann. Schon die alten Griechen unterschieden hier mindestens dreifach: die Nächstenliebe, die freundschaftliche Zuwendung, die körperlich-sinnliche Liebe. Und wenn wir uns klarmachen, was alles bei uns „Liebe“ genannt wird…- Anders als Juden und Moslems wollen wir Christen Gott schon in seinem Gottsein entfalten. Dreifaltigkeit nennen wir das. Gott ist natürlich einer. Unser jüdisches Erbe. Aber seit Jesus können wir uns Gott nicht mehr vorstellen ohne den Menschen als unaufgebbaren Teil in Gottes Wesen. Gott als Gott und Gott mitten im menschlichen Geschehen. Und da tief in der menschlicher Erinnerung die „Drei“ ein Symbol ist für das Wirken Gottes, kommt als Drittes noch die Kraft dazu, die Gott und Mensch verbindet: der Geist als göttlicher Geist, aber auch als Geist zwischen dir und mir. Gott zeigt sich in einer solchen Vielfalt – im Laufe der jüdischen und der menschlichen Geschichte wie in jedem Leben. Er zeigt sich immer nur wie in einem Spiegel, oft in einer Verkleidung, immer anders, immer neu. So entfaltet er sich selber. Gott wie ein Fächer: Wir können ihn schließen und er ist eine Einheit, wir können ihn entfalten und jede Falte innen und außen für sich betrachten. Beides macht Sinn: hier den einen Gott bekennen – dort staunen über die göttliche Fülle.
Erinnerung
Können wir Juden und Christen uns wechselseitig als Reichtum begreifen? Gott muss einer bleiben: Das ist der Kern. Daran führt nichts vorbei. Dieser Schriftgelehrte betont diesen Kern und sucht darum nach dem Kerngebot. Daran erinnern uns unsere jüdischen Schwestern und Brüder: Gott ist einer! An diesem Ausgangspunkt kommen wir nicht vorbei. Und Gott nimmt Wohnung im Menschen Menschen. Und wie verschieden wir sind allein schon im Verlauf der Zeiten, im Blick auf unsere Umstände und Gegebenheiten, das nehmen wir ja alle wahr. Das ist auch Gott: Er zeigt sich dem einen und verbirgt sich dem anderen. Den einen begeistert die Fülle seiner Gnadenfülle, ein anderer wird seine Rätsel und religiösen Fragen nicht los. Die Drei der Dreieinigkeit ist nur das Symbol für diese Fülle. Das ist unser christliches Recht und unsere Pflicht: Gott auseinanderfalten in seine verschiedenen Gesichter, seine so unterschiedlichen Gestalten. Jesus hat diese Entfaltung hier im Blick auf die Lebensregeln eingeleitet. Unser Glaube braucht beides: das konzentrierte Sich Einfinden bei Ihm und die Entfaltung, diese Weite in Ihm, in Gott.
Amen.