Voraussetzungslose Liebe
Zwischen Pharisäer- und Zöllnerexistenz
Exegetische (I.) und homiletische (II.) Bemerkungen zum Predigttext
I. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner umfasst in seinem Bildgehalt die vv10-13; v14a gehört als autoritative Zielaussage Jesu („Ich sage euch...“) konstitutiv zum Gleichnis hinzu. V9 und v14b sind lukanischer Rahmen. V9 erweist sich als Überleitung, die bereits ein perspektivisches Licht auf das Gleichnis wirft: Spirituelles Leben bei Verachtung der anderen ist Anmaßung. Entsprechend seiner Theologie verkündigt Lukas in v14b (vgl. 14,11) die eschatologische Umkehrung der Verhältnisse, wobei sich hierin – im Unterschied zum Gleichnisschluss – eine Ethisierung bemerkbar macht: Das Verhalten hier wird Folgen haben. Der Gleichnisschluss (v14a) betont deutlich Gottes Handeln. So ist Gott, so gnädig und barmherzig (vgl. Ex 34,6, dazu H. Spieckermann, Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2004, S. 3-19), seine Gerechtigkeit dem Sünder zurechnend (vgl. 1QS XI, 2.3.5). Damit wird dieses Gleichnis zu einem Gleichnis in streng formalem Sinn und gehört nicht in die Kategorie „Beispielgeschichte“. Denn es geht nicht um das rechte Verhalten wie etwa beim „barmherzigen Samariter“, sondern Gottes Wirklichkeit zeichnet sich in dieses Gleichnis ein. Gottes Wirklichkeit ist die voraussetzungslose Liebe, aus der sein Recht strömt, auf uns übergeht und so unsere Rechtfertigung bewirkt. Dieser Wirklichkeit kann der Mensch entsprechen. Er wird ihr gerecht durch eine Haltung der Offenheit, die alles von Gott erwartet (dem entspricht der Standort „von ferne“, V13). In diesem Gleichnis ist es die Leere, das Eingeständnis, vor Gott nichts Rühmliches vorweisen zu können (v13). – Er wird ihr nicht gerecht durch Selbstruhm (Selbstruhm führt zur Isolation, „...stand für sich“, v11), d.h. durch eine Aufzählung von Voraussetzungen, die vermeintlich Gottes Zuwendung erzwingen müsste, und dabei noch die Mitmenschen verachtet. – Dem, der mit leeren Händen kommt, werden sie gefüllt; der, der zu haben meint, geht leer aus. „So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott“. (12,21). Damit ist bereits angedeutet, in welch größeren Rahmen dieses Gleichnis eingespannt ist. Wenn das Lukasevangelium auch übersichtliche Strukturmerkmale weitgehend vermissen lässt („Ordnung, Zusammenhang und Funktion der einzelnen Bauteile und Räume teilen sich erst beim Durchschreiten des Gebäudes mit.“, W. Radl, Das Lukasevangelium, Darmstadt 1988, S. 46), so wird doch deutlich, dass es einen Bezugspunkt gibt, von dem Verbindungen in verschiedene Richtungen ausgehen. Der Bezugspunkt ist Lk 17,20f. Hier wird die Wirklichkeit Gottes als präsent verkündet (davon zu unterscheiden ist das zukünftige Kommen des Menschensohns als Endereignis, Lk 17,22-37): „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Dieser Wirklichkeit stellt sich die bittende Witwe: Sie bekennt ihre Angewiesenheit und erhält ihr Recht (Lk 18,1-8). Dieser Wirklichkeit stellt sich der Zöllner: Er bekennt seine Leere und erhält Rechtfertigung (Lk 18,11-14). Dieser Wirklichkeit stellt sich der Freund: Er hat nichts (11,5) und ihm wird gegeben (Luk 11,5-8) Folgerichtig schließt sich hier der nächste große Bezugspunkt an: „Bittet, so wird euch gegeben, ... denn wer bittet, der empfängt...“ (11,9f). Es ist die wahre Haltung angesichts der Wirklichkeit Gottes, auf den Punkt gebracht. – Wer empfängt, der empfängt Rechtfertigung und Recht, Reichtum in Gott. Es gibt Barrieren, die es schwer machen, reich in Gott zu werden: geistlicher Hochmut (Lk 18,9-14) und materieller Reichtum (Lk 18,18-23 und Lk 12,16-21). (Man könnte bekennende Angewiesenheit weiter verfolgen in Lk 18,35-43 (Bartimäus) und Überwindung der Barriere des Reichtums Lk 19,1-10 (Zachäus), ebenso Bettler sein und die Gefahr des Habens in Lk 15,11-32 und Lk 16,19-31.) II. In unserem Predigttext werden nicht nur „zwei Menschen miteinander verglichen“ (W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, Berlin 1971 (6), S. 349), sondern zwei Existenzformen: die Pharisäerexistenz und die Zöllnerexistenz. Die Pharisäerexistenz ist sich ihrer selbst sicher aufgrund der Leistungen, die sie erbracht hat oder erbringen kann. Sie trägt diese Leistungen vor sich her und versucht bewusst eine Selbstdarstellung, die sie von den anderen deutlich abhebt. – Die Zöllnerexistenz ist sich ihrer selbst sicher aufgrund dessen, dass sie sich getragen weiß. Sie ist demütig, weil sie sich mit dem bescheidet, was ihr geschenkt wird. Das führt zur Wertschätzung des anderen und zur Nachsicht mit ihm wie auch mit sich selbst. Der Mensch lebt in der einen oder anderen Existenz, ggf. mal mehr der einen, mal mehr der anderen zuneigend. Das ist sicher auch typabhängig, aber auch zeitbedingt und – wenn diese Existenzweisen ins Bewusstsein treten, entscheidungsbedingt. Mir fällt die zeitbedingte Herausbildung der Pharisäerexistenz auf. Im Bewerbungsgespräch für einen Schüleraustausch musst du zeigen, warum gerade du (und kein anderer) dafür geeignet bist. Auf Internetseiten stellen sich Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen vor: Die Sprache strotzt vor Worthülsen aus dem ökonomischen Bereicht (kompetent, effizient, qualifiziert), und auch hier sind „wir“ die Besten, weil sich das, was „wir“ wollen, selbstverständlich deckt mit dem, was „wir“ können. Ich kenne allerdings auch eine Einrichtung, der die pharisäerhafte Art offenbar ins Bewusstsein getreten ist, die ihre Leistungen einmal in ökonomischer, dann noch mal in „leichter Sprache“ darstellt (Lebenshilfe Harburg-Lüneburg), eine gelungene Selbstironie. Im großen und ganzen aber definieren sich Einzelne und auch Einrichtungen über ihre Leistungen. Das wirkt in der heute anzutreffenden Penetranz nicht nur unangenehm, sondern missachtet den Gaben-Charakter der Begabung und erhebt sich unberechtigterweise über den Nächsten. Aufgrund des Predigttextes kann und möchte ich dem entgegenwirken. Ich möchte für die Zöllnerexistenz werben. Ich möchte dazu ermutigen, aus der Wertschätzung Gottes heraus zu leben (vgl. Jes 43,4). Das ist möglich, und das ist befreiend, weil Gottes Wertschätzung voraussetzungslos ist. Das führt mehr Demut und Bescheidenheit vor Gott und dem Nächsten, was unserer Gesellschaft z.Zt. gut täte (vgl. die ethisierende Tendenz auch in v14b).Text aus der „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen
Buch 1, Kapitel 2: „Vom demütigen Wissen oder Erkennen seiner selbst.“ Dort heißt es u.a.: „Was willst du dich irgend einem vorziehen, da noch mehrere gefunden werden, die gelehrter sind als du und im Gesetze mehr bewandert? Willst du etwas mit Nutzen wissen oder lernen: so habe lieb, ungekannt zu sein und für nichts geachtet zu werden. Das ist die erhabenste und wahrste Lection: Wahre Kenntnis und Verachtung seiner selbst. Von sich selbst nichts halten, von andern aber immer gut und edel denken, das ist große Weisheit und Vollkommenheit. Sähest du auch einen anderen offenbar sündigen oder irgend etwas Schweres begehen, so solltest du dich dennoch nicht für besser halten, da du nicht weißt, wie lange du im Guten bestehen könntest. Alle sind wir gebrechlich; du aber halte niemand für gebrechlicher als dich selbst.“ (aus dem Lateinischen übersetzt von Cölestin Wolfgruber, Augsburg 1882) Liedvorschläge: „Ausgang und Eingang“ (EG 175), „Herr, füll mich neu“: 1. Herr, füll mich neu, füll mich neu mit Deinem Geiste, der mich belebt und zu Dir, mein Gott, hinziehet! Refrain: Hier bin ich vor Dir. Leer sind meine Hände. Herr, füll mich ganz mit Dir! 1. Herr, füll mich neu, füll mich neu mit Deiner Liebe, die bei Dir bleibt und mit Freuden Lasten traget! Refrain: Hier bin ich vor Dir. Leer sind meine Hände. Herr, füll mich ganz mit Dir! 2. Herr, füll mich neu, füll mich neu mit Deinem Glauben, der auf Dich schaut und in andern Glauben wecket! Refrain: Hier bin ich vor Dir. Leer sind meine Hände. Herr, füll mich ganz mit Dir! 3. Herr, füll mich neu, füll mich neu mit Deiner Freude, die überströmt und in Lob und Preis Dich rühmet! Refrain: Hier bin ich vor Dir. Leer sind meine Hände. Herr, füll mich ganz mit Dir! (Die Liednoten senden wir Ihnen gerne zu, schreiben Sie an redaktion@predigtforum.de)Predigt
Liebe Gemeinde!
Auf den Pullover geschrieben
Manchmal geht der Schuss nach hinten los. Richtig ist: Du sollst dein Bestes geben. Du darfst zeigen, was du kannst. Du sollst dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Aber manchmal kann der Schuss nach hinten losgehen: Wenn du nämlich zu dick aufträgst; wenn du zu verstehen gibst: Ich bin der Beste. Manchmal glaubst du ja, es wird von dir gefordert, dich so darzustellen: Du sollst zeigen, warum gerade du der geeignete Anwärter für diese Stelle bist. Eine gefährliche Gratwanderung zwischen Selbstruhm und Bescheidenheit. Ich muss Ihnen sagen: Ich reagiere zunehmend genervt auf Selbstdarstellungen von Einrichtungen, die marktorientierte Sprachhülsen vor sich her tragen, um einen Spitzenplatz für sich zu beanspruchen, noch dazu wenn es sich um Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen handelt. Das hört sich dann so an: „Wir sind ein kompetenter Dienstleister, der seine Kunden (!) in optimaler Weise fördert und ihnen professionelle Hilfe anbietet. – Unser Unternehmen zeichnet sich durch eine transparente Führungskultur aus. Die Vernetzung verschiedener innerbetrieblicher Bereiche sichert eine konstruktive und effektive Zusammenarbeit bei flexiblen Einsatzmöglichkeiten. – Unsere Arbeit richtet sich nach festgelegten Qualitätsstandards und unterliegt entsprechender Qualitätskontrolle. Durch unsere hochwertigen Produkte sind wir ein verlässlicher Partner anerkannter Firmen.“
Anerkennung setzt Leistung voraus – und die „richtige“ Sprache
Liebe Gemeinde, das mag für manche Ohren normal klingen, für mich nicht. Denn hier schlägt ein „Wir“ so sehr an die stolz geschwellte Brust, dass man schon taub sein müsste, wenn man nicht überall zwischen den Zeilen mithörte: „Wir sind besser als die anderen“. Wehe der Einrichtung, die etwa pädagogische Prinzipien vor Markt- und Qualitätsorientierung stellt! Es geht um Anerkennung. Und anerkannt bin ich offenbar nur, wenn ich bestimmte Voraussetzungen erfülle: Professionalität und Kompetenz, Effektivitätskontrolle und Optimierung der Arbeit, Transparenz und Vernetzung, Hochwertigkeit und Qualitätskontrolle. Nicht allein das, sondern vielmehr, dass ich das in dieser Sprache vor mir her trage. Anerkennung ist an Voraussetzungen gebunden. Das gilt für Einrichtungen und die darin arbeitenden Menschen gleichermaßen.
Jesus räumt auf – nicht nur im Tempel
Was wir als gesellschaftlich gegeben hinnehmen, das muss für Jesus noch lange nicht richtig sein. Er hält es offenbar nicht für hinnehmbar, dass Anerkennung an Voraussetzungen geknüpft ist. Das macht er sowohl den Pharisäern wie auch seinen Jüngern anhand einer Gleichniserzählung klar. Auf dem Weg nach Jerusalem trifft er mit seinen Jüngern auf eine Gruppe von Pharisäern, die offenbar wegen ihres spirituellen Gehabes sehr von sich eingenommen sind. Lukas berichtet davon im 18. Kapitel seines Evangeliums.
(Lesung des Predigttextes)
Jesus räumt damit auf. Jesus räumt mit dem Irrtum auf, dass Anerkennung an Voraussetzungen gebunden sei. Und er kann damit aufräumen, weil er ja in erster Linie nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet, sondern unsere Beziehung zu Gott. Und die ist jedem Druck, jeden Regularien, jeden Konventionen enthoben, nur geprägt von der Liebe. Und Liebe ist voraussetzungslos. Ob sich daraus dann auch Konsequenzen für unseren Umgang miteinander ableiten lassen, ist eine zweite Frage.
Gottes voraussetzungslose Liebe – im Spiegel des Pharisäers und des Zöllners
Hören wir noch einmal in die Geschichte hinein: Da ist der Pharisäer. Er wird als anmaßend beschrieben. Er maßt sich an, an Gottes Stelle zu entscheiden: „Gott, ich habe deine Liebe verdient.“ Ob er überhaupt um seine anmaßende Haltung weiß? Vielleicht ist es ihm gar nicht bewusst, wie er wirkt. Denn für ihn scheint es völlig normal zu sein, dass Liebe und Anerkennung vor Gott an bestimmte Voraussetzungen gebunden sind. Z.B.: Er betrügt nicht – weder seine Geschäftspartner noch seine Frau; er hält das Fasten ein – zweimal die Woche; und er zahlt seine Tempelsteuer pünktlich, regelmäßig und verlässlich. Was will man noch mehr? Was will Gott noch mehr? Er erfüllt, so glaubt er, alle Voraussetzungen, um von Gott anerkannt, ja, geliebt zu werden. Aber Gott sagt: Nein, mein Freund, so wirst du mir nicht gerecht. So wirst du mir nicht gerecht, denn meine Liebe ist voraussetzungslos; so wirst du dir nicht gerecht, denn du versteigst dich in Hochmut, isolierst dich und stehst allein da (v11); und du wirst dem Nächsten nicht gerecht; denn du lässt ihn alleine stehen.
Und nun lernen wir Gott kennen – im Spiegel des Zöllners. Ihn, nicht den Pharisäer, hat er auserwählt, um sich darin zu spiegeln. Der Zöllner, das glatte Gegenteil vom Pharisäer. Er erpresst die Kaufleute mit überhöhten Mautgebühren; Räuber und Betrüger in einem. In ihm will sich Gott widerspiegeln. Der Zöllner weiß um seine Lebensweise und um sein Wesen. Er weiß, es ist nicht in Ordnung. Er kann eigentlich nicht wagen, vor Gott zu treten und ihm ins Angesicht zu blicken (v13); er tut es trotzdem, mit nichts, mit leeren Händen. Er weiß: Wenn ihn Verachtung und Strafe trifft, dann verdient. So bleibt ihm, der nichts vorzuweisen hat, nur, Gott um Gnade zu bitten: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Er kann nichts anderes als bitten.
Pharisäerexistenz und Zöllnerexistenz: zwei Lebensweisen
Ist es nicht demütigend, wenn man nur noch bitten kann? Für den Pharisäer wäre es demütigend. Für uns wäre es demütigend, wenn wir nur aus dem leben, was wir vorzuweisen haben. Für uns wäre es demütigend, wenn wir nur die Pharisäerexistenz leben. Aus dem Munde Jesu aber wissen wir: Gott lässt unsere Bitten nicht ins Leere gehen: „Bittet, so wird euch gegeben“, verspricht er, „sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ (Lk 11,9f par.) Wer also bittet, der darf noch etwas erwarten; das verspricht Jesus in Gottes Namen. So bekommt das Bitten etwas Zukunftsfrohes, etwas Hoffnungsvolles, etwas Spannendes. Raus aus der Depression, hinein ins Vertrauen! Jesus macht Mut zur Zöllnerexistenz. Was ist das? Vertrau wie der Zöllner der voraussetzungslosen Liebe Gottes. Gott steht zu dir. Du wirst es erfahren. Auch und gerade, wenn du mit leeren Händen vor ihm stehst. Überall musst du Voraussetzungen erfüllen: Wenn du Karriere machen willst, wenn du anerkannt werden willst. Vor Gott brauchst du keine Voraussetzungen zu erfüllen. Er versteht dich, er steht zu dir, er liebt dich. Ich füge noch hinzu: „voraussetzunslos“, obwohl sich das eigentlich versteht; denn Liebe ist voraussetzungslos.
Mensch, öffne dich
So ist Gott. So kannst du ihn erfahren. Das sagt Jesus uns. Er sagt es den Pharisäern unter uns. Oder besser noch: Er sagt es dem Pharisäer in uns, und er sagt es dem Zöllner in uns. Und am ehesten kannst du Gott so erfahren, je weniger du vor ihm vorzuweisen hast; am ehesten kannst du ihn so erfahren, wenn du mit leeren Händen vor ihn trittst: „Herr, füll du mir die Hände mit deiner Liebe und mit deiner Gnade.“ Wenn du mit leeren Händen vor Gott trittst, wirst du der voraussetzungslosen Liebe Gottes am ehesten gerecht. Dann kann sie, dann wird sie in dir Wohnung nehmen, und du wirst ein neuer Mensch sein: zukunftsfroh, hoffnungsvoll, anerkannt.
Amen.